Bov Bjerg : Deadline

Deadline
Deadline Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2008 ISBN 978-3-89812-562-8, 143 Seiten Überarbeitete Neuausgabe Kanon Verlag, Berlin 2021 ISBN 978-3-98568-002-3, 175 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Paula lebt unverheiratet in den USA und arbeitet als Übersetzerin. Als die Grabstätte ihres Vaters abläuft, kehrt sie nach Deutschland zurück, um sich darum zu kümmern. Am Morgen bevor sie im inzwischen von der Schwester und deren Familie bewohnten Elternhaus eintrifft, erleidet die Mutter einen Schlaganfall ...
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Kritik

In seinem Debütroman "Deadline" geht es Bov Bjerg nicht darum, die Leserinnen und Leser mit einer packenden Geschichte zu unterhalten. Stattdessen spielt er mit der Sprache, etwa wenn sich die Ich-Erzählerin, eine Übersetzerin von Gebrauchsanweisungen, bei der Wortwahl nicht entscheiden kann.
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Paula

Paula stammt aus Deutschland, lebt jedoch seit einiger Zeit in den USA. Sie ist unverheiratet, Mitte 30 und wiegt 115 Kilogramm. Weil sie sich als Übersetzerin nicht von Literatur, sondern von Gebrauchsanweisungen nie zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Wortwahl entscheiden kann und deshalb stets mehrere Alternativen angibt, kündigt die Agentur die Zusammenarbeit mit ihr im Jahr 2005 auf.

Sie ist zu Fuß unterwegs zum Flughafen, um nach Deutschland zu reisen, denn die Grabstätte des Vaters ist abgelaufen.

Ich schwitzte | transpirierte, tropfte am Zaun entlang, entlang an der Großen Grube, am Big Dig, wie sie es nannten. Big Dig, man musste genau sein mit der Aussprache. Big Dig, Big Dick, vorbei an Handramme und Pressluftstampfer, ich schlingerte ins Schlüpfrige, oversexed (overdressed?) und underfucked, diese Geilheit in der Panik, wenn alles zu spät war.

Das Wassertaxi wackelte | schaukelte | gautschte zum Anleger her.

Am Kliff traf der Weg auf die entlegenste Ecke des Flugfelds. Ein Doppelzaun aus Stahlstabmatten. Zaunkronen: Rollen aus Klingendraht, verzinkt. Zwischen den Zäunen ein Fahrweg. Auf dem Fahrweg ein Geländewagen der Flughafenpolizei. Darin zwei Köpfe. Sie schienen in meine Richtung zu schauen. Vor ihren Gesichtern, in der Seitenscheibe (Einscheibensicherheitsglas, bronze getönt), spiegelte sich die Sonne.

Die zwei Stunden, die man früher da zu sein hatte, waren sehr reichlich bemessen, die reichten dicke. Dicke reichten die.

Ihre Maschine ist allerdings bereits in der Luft, als Paula im Flughafen ankommt. Sie muss auf die nächste warten.

 

Die Eltern

Während sie unterwegs ist, erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend.

Der Vater war Steinmetz. Aufgrund einer Übereinkunft mit der Gemeinde holte er Grabsteine abgelaufener Grabstätten vom Friedhof, schliff sie ab und verkaufte sie neu beschriftet. Als das Geschäft nicht mehr lief, befestigte er mit den unverkäuflichen unbearbeiteten Grabsteinen die Einfahrt und den Weg von der Haustür zur Straße. Weil sich die Nachbarin, Frau Gomolka, allerdings darüber beschwerte, dass die Leute nun den Namen ihres Großvaters − Johannes Kauder − mit Füßen traten, musste Paulas Vater die Inschrift doch noch herausmeißeln. Er begann schließlich zu trinken und schlief mittags bereits den ersten Rausch aus.

Ich frage mich, welche Art von Ehe meine Eltern wohl geführt hatten, als sie noch eine Art von Ehe geführt hatten. Nein, eigentlich frage ich mich, welche Art von Ehe meine Eltern wohl geführt hatten, als sie eigentlich nichts mehr führten, das man noch eine Art von Ehe hätte nennen können.

Als Paula noch ein Kind war, erhängte sich der Vater an einem aus Fichtenstämmen konstruierten Dreibock.

Der erste neu gesetzte Stein, den ich je sah, der nicht von meinem Vater war, war der von meinem Vater. (Pseudoparadoxon: unterschiedl. Bestimmung der Präp. „von“.)

Damals beobachtete Paula, wie die Blumen, Gestecke und Kränze am Grab nach und nach verwelkten und weggeworfen wurden.

Bis auf einen [Kranz], der war aus Plastik. Auf der Schleife stand: „Zum Gedenken − Gärtnerei Döring“. Wagner packte Kranz samt Schleife auf sein Moped und brachte ihn nach Feierabend zur Gärtnerei Döring zurück.

Die Mutter arbeitete in einem Unternehmen, das Modelleisenbahnen herstellte.

Sie hatte immer Lämpchen in die Waggons geschraubt, in die Reisezugwagen. Hatte tage-, jahrelang ein Lämpchen gedreht, rechtsherum gedreht zwischen Daumen und Zeigefinger, zwischen Daumenspitze und Zeigefingerspitze. Zeigefingerspitze oben nach rechts, Daumenspitze unten nach links, gedreht, gedreht.
Kurz vor der Rente, als die Augen zu schlecht geworden waren, als das Licht der Augen für Lämpchen zu schwach geworden war und die Finger zu ungenau | zu zittrig, um noch Lämpchensockelchen in Fassungchen zu fummeln | zu schrauben, da wickelte sie Anker für Elektromotoren, für die BR 89, das war die kleine Tenderlok, aber auch fürs Krokodil.

Atlantiküberquerung

Im Flugzeug stellt Paula fest, dass sie noch ohne Gurtverlängerung auskommt. Sie registriert die Höhe, in der sie sich befindet − auch nach der Landung.

Höhe Fuß 39tausend, Geschwindigkeit Knoten 531.

Höhe: dreißigtausend Fuß.

Höhe: Bodenhöhe. Fünfhundertfünfzig Meter ü. NN.

Höhe: erster Stock.

Im Elternhaus („380 m ü. NN“) wohnt Paulas Schwester Tina mit ihrem Mann Martin und den beiden Söhnen Lucas und Yannick.

Erst bei der Ankunft erfährt Paula, dass die Mutter am Morgen einen Schlaganfall erlitt und im Krankenhaus liegt.

Der fehlende Erlaubnisschein

Als Paula mit ihrem Schwager zusammen versucht, den Grabstein ihres Vaters zu heben und abzutransportieren, bricht eine Vorrichtung, und Martin wird im Gesicht verletzt. Paula sucht nach dem Friedhofsgärtner Wagner, den sie von früher kennt und wundert sich kurz darüber, dass er wie damals aussieht, obwohl er um die 100 Jahre alt sein müsste. Es ist sein Enkel, Wagner III. Von ihm bekommt sie Verbandsmaterial für ihren Schwager.

Aber Wagner III erklärt den beiden auch, dass Grabsteine nicht ohne Erlaubnisschein der Gemeinde weggebracht werden dürfen. Paula und Martin bleibt nichts anderes übrig, als den Stein wieder aufzustellen. Nur die Witwe des Toten könne den Erlaubnisschein beantragen, meint der Friedhofsgärtner, und als er hört, dass sie nach einem Schlaganfall unansprechbar im Krankenhaus liegt, rät er Paula, die Mutter entmündigen zu lassen, denn dann könne der Vormund den Antrag stellen. Falls die Patientin allerdings sterbe, wären auch die beiden Töchter Tina und Paula berechtigt, sich einen Erlaubnisschein für den Abtransport des Grabsteins ausstellen zu lassen.

Nacht

Als in der Nacht nach Tinas Geburtstagsfeier Martin zu Paula kommt, die im Zimmer ihres Neffen Yannick untergebracht ist, sucht sie vergeblich ihr Diaphragma, findet jedoch nur das Verhütungsgel. Mit Getöse bricht das Kinderbett zusammen.

Am Morgen muss Lucas und Yannick erklärt werden, dass die Großmutter im Krankenhaus gestorben ist. Tina ist zornig, dass sie sich ausgerechnet ihren Geburtstag als Todestag ausgesucht hat. Und Martin lässt sie nun nicht mehr ins Ehebett.

Umbettung

Am Abend nach der Beerdigung der Mutter sucht Paula den Friedhofsgärtner Wagner III auf und bringt ihm eine Flasche Zwetschenwasser mit. Mit seinem Minibagger hebt er das abgelaufene Grab des Vaters aus. Im verfaulten Sarg liegen nicht nur Skelettteile, sondern auch Wachs- bzw. Fettbatzen.

Wagner III stieg hinunter und zog den Oberkörper (Thorax) herauf. „Normal mach ich so was mit dem Spaten klein.“

Wagner III hilft ihr, die sterblichen Überreste des Vaters zum Grab der Mutter zu tragen und dort im Boden zu versenken.

Abschluss der Reise

Den nun doch vom Friedhof geholten Grabstein des Vaters schleift Paula ab − und wundert sich über den aus dem Stein entweichenden Gestank. Anstelle des Namens ihres Vaters schreibt sie ihren eigenen auf den für das Grab der Mutter gedachten Stein.

Neu gesetzt kann der Grabstein erst nach der nächsten Frostperiode und mehreren Regengüssen werden. Weil Paula dann längst wieder zurück in den USA sein wird, erklärt sich Wagner III bereit, die Arbeit für sie zu übernehmen.

Paula erhält von ihrer Agentur nun doch wieder einen neuen Übersetzungs-Auftrag per Mail.

Tina will sie zum Flughafen fahren. Martin schaut ihnen vom Fenster aus nach. Ein Milchlaster kommt ihnen entgegen, wird aus der Kurve getragen und durchbricht die Hauswand.

Ich überlege, was ich meinem Kind einmal über seinen vom Milchlaster erdrückten Vater erzählen würde.

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Der Roman „Deadline“ von Bov Bjerg dreht sich um eine aus Deutschland stammende, in den USA lebende Übersetzerin von Gebrauchsanweisungen: die Ich-Erzählerin, aus deren Perspektive alles konsequent dargestellt wird: gegenwärtige Vorgänge ebenso wie Erinnerungen und innere Monologe. Diese Übersetzerin hat gewissermaßen ein Synonymenlexikon | einen Thesaurus im Kopf und kann sich oft nicht zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Wortwahl entscheiden. Diese berufliche Deformation | Fehlentwicklung | Abnormität | Schwäche prägt auch den Text des Romans „Deadline“. Charakteristisch für die technische Übersetzerin Paula (der Name taucht auf Seite 60, nachdem ich 38 Prozent der Seiten gelesen habe, erstmals auf) sind außerdem ihre exakten Angaben beispielsweise über Bodenbeläge. Oder Donuts.

In der Vitrine lagen Berliner, Krapfen und Donuts. Donuts in verschiedenen Größen. Maxi, medi, mini. Die kleinen hatten einen Durchmesser von etwa zwei Zoll | fünf Zentimeter, anderthalb Zentimeter das Loch. Torus | Grabkranz | Donut, egal. Schwimmring. Plural: Tori.
„Zehn von den Kleinen.“
Ich setzte mich ins Auto und schob Kranz um Kranz ganz in den Mund. Volumen gleich zwei Pi Quadrat mal klein r Quadrat mal groß R. Oberfläche gleich vier Pi Quadrat mal klein r mal groß R. (Klein r: Radius des ganzen Rings. Groß R: Entfernung der Teigmittelpunkte vom Lochmittelpunkt.) Machte 4,6 frittierfett- | schmalztriefende Quadratzentimeter auf einen Kubikzentimeter Teig.[…] Ein viertel Quadratmeter Fett mit Puderzucker darauf. Vierzig Minidonuts: die Fläche eines Kindergrabes.

Sogar der Titel „Deadline“ verweist auf Paulas Beruf, denn bei ihren Übersetzungen hat sie Abgabetermine | Deadlines einzuhalten.

Paula ist einsam. Um einen Sinn zu erkennen, verwendet sie eine Suchmaschine im Internet wie ein Orakel und lässt denkbare Satzanfänge automatisch vervollständigen:

Amerikaner sind oberflächlich und essen nur Fastfood. Amerikaner sind die Fleißigsten. Amerikaner sind böse. Amerikaner sind einfach, aber nicht blöd. Amerikaner sind Barbaren. Amerikaner sind komisch. Amerikaner sind einfach freundlicher. Amerikaner sind Kriegstreiber. Amerikaner sind Schweine. Amerikaner sind Barbaren. Amerikaner sind ihrer Suchmaschine treu. Amerikaner sind freundlich, aber es ist oberflächlich. Amerikaner sind dumm, Deutsche sind gebildet. Amerikaner sind das dickste Volk der Welt. Amerikaner sind verklemmt und puritanisch. Amerikaner sind ohne Ethik. […]

In „Deadline“ geht es nicht zuletzt um Schichten. Paulas Vater, ein Steinmetz, schliff Grabsteine ab und beschriftete sie neu. Das macht schließlich auch Paula mit dem Grabstein ihres Vaters. Außerdem können wir zeitliche Schichten in „Deadline“ unterscheiden.

Der Plot ist rudimentär. Offenbar geht es Bov Bjerg nicht darum, die Leserinnen und Leser mit einer packenden Geschichte zu unterhalten. Stattdessen spielt er mit der Sprache. In dieses Spiel bezieht er auf satirische Weise Gedankenlosigkeiten und Binsenweisheiten, makabre Tragikomik, literarische Ellipsen, Leerstellen und Andeutungen mit ein.

„Deadline“ ist weit entfernt vom Mainstream, und es verwundert nicht, dass Bov Bjerg Schwierigkeiten hatte, für seinen Debütroman einen Verlag zu finden. Nur die Lektorin Sabine Franke wagte sich daran, und der Mitteldeutsche Verlag druckte 2008 ganze 750 Exemplare, von denen gerade einmal 224 verkauft wurden. (Die Restauflage verbrannte bei einem Feuer im Lager.)

Für die Neuausgabe des Kanon Verlags änderte Bov Berg einige Zeilen in seinem Roman „Deadline“. Und Gunnar Gynybulk schrieb dazu ein Nachwort.

Den Roman „Deadline“ von Bov Bjerg gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Kanon Verlag

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A. L. Kennedy - Süßer Ernst
Ein einziger Tag, zwei Personen, 560 klein gedruckte Seiten: "Süßer Ernst" ist nichts für Leserinnen und Leser, die eine knappe Darstellung bevorzugen. Vor jedem der teilweise tragikomischen, abwechselnd aus den Perspektiven der beiden Hauptfiguren erzählten Kapitel hat A. L. Kennedy eine Miniatur mit einer alltäglichen Szene aus dem Großstadtleben in London eingefügt.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.