Mike McCormack : Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann

Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann
Solar Bones Tramp Press, Dublin 2016 Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann Übersetzung: Bernhard Robben Steidl-Verlag, Göttingen 2019 ISBN 978-3-95829-647-3, 271 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Marcus Conway, ein gewöhnlicher Mann Ende 40, hängt seinen Gedanken nach. Erinnerungen an seinen Vater, an die Ehe, einen Seitensprung, den Sohn, die Tochter und an die Arbeit als Bauingenieur wechseln sich ab ...
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Kritik

"Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann" besteht aus einem Bewusstseinsstrom. Mike McCormack setzt in dem Buch keinen einzigen Punkt. Den langen zusammenhängenden Text rhythmisiert er durch ungewöhnliche Zeilenumbrüche.
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Der Vater

Der Ire Marcus Conway ist Ende 40. Sein Vater, ein Fischer und Landwirt, zerlegte einmal einen neuen Traktor und baute ihn anschließend wieder zusammen. Das beeindruckte den Jungen:

[…] der Anblick dieser auf dem Boden ausgebreiteten Motorenteile lehrte meiner Fantasie das Fürchten und ließ sie sich zu einer umspannenden, katastrophischen Schlussfolgerung versteigen, der zufolge das Universum selbst verschraubt und zusammengenietet war […]

An den Parlamentswahlen im Juni 1977 durfte sich der 18-jährige Marcus erstmals beteiligen. Sein Vater sagte das überraschende Ergebnis akkurat voraus, obwohl nicht einmal die Gewinner damit gerechnet hatten: die National Coalition wurde mit erdrutschartigen Verlusten konfrontiert, und die oppositionelle Fianna Fáil zog mit klarer Mehrheit ins Unterhaus.

Der Vater konnte auch ohne Geräte auf dem Meer seine Position verorten.

[…] demonstrierte mir mein Vater, wie präzise er sich zwischen den fernsten Ufern der Welt fixiert und positioniert hatte, ein Erlebnis, an das ich mich noch oft erinnerte, nicht, weil er mir das gezeigt hatte, sondern weil ich trotz all meiner Bildung und all meinen Instrumenten nie und nirgendwo ein derart genaues Gespür für mich selbst beanspruchen konnte, auch nicht als
ein Ingenieur […]

Aber als Marcus‘ Mutter Onnie starb, verkaufte der Witwer das Vieh und die Hühner, behielt nur noch seinen Hund und ließ alles verkommen. Nachdem er auf dem Gehsteig zusammengebrochen war, diagnostizierten die Krankenhaus-Ärzte Krebs und Marcus‘ Vater lebte nicht mehr lang.

Die Familie

Zwei Jahre lang gehörte Marcus Conway einem Priesterseminar an. Dann trat er aus, arbeitete einige Zeit als Gärtner bei einem Pharmakonzern in Westport und studierte dann Ingenieur-Wissenschaften. Vor 25 Jahren fing er als Bauigenieur bei der Grafschaftsverwaltung in Mayo an der Westküste Irlands an.

Damals lernte er seine spätere Frau kennen. Mairead hatte verschiedene Kulturposten in Madrid, Berlin, Prag, Budapest, Warschau, Oslo und Kopenhagen bekleidet, bevor sie wieder in die irische Heimat zurückgekommen war und an einer Sekundarschule angefangen hatte, zunächst als Mutterschaftsvertretung für die stellvertretende Direktorin. Marcus und Mairead verliebten sich, heirateten und kauften sich ein Haus in einem Dorf bei Louisburgh in der Grafschaft Mayo.

Kurz nach der Eheschließung ließ Marcus sich bei einer Konferenz über Brückenbau in Prag zu einem Seitensprung hinreißen. Mairead zog daraufhin zu ihren Eltern. Nach neun Wochen kehrte sie zurück.

Da war sie bereits schwanger. Auf die Tochter Agnes folgte der Sohn Darragh.

Darragh macht den Eltern Sorgen, weil sie ihn für zu wenig zielstrebig halten. Er meldete sich für die Promotion an, verfolgte das aber dann nicht weiter. Auch aus einem NGO-Einsatz in Afrika, auf den er sich gründlich vorbereitet hatte, wurde nichts. Schließlich überraschte er die Familie mit einem Ticket für eine Weltreise. Das Geld hatte er sich mit einem Studentenjob verdient. Zur Zeit hält er sich in Australien auf und rechnet damit, dass er noch fast ein halbes Jahr unterwegs sein wird.

Agnes hat ihre erste Einzelausstellung in der Dominic St. Gallery in Galway. Die Eltern nehmen an der Vernissage teil. Erst dort wird Marcus mit dem Titel konfrontiert:

Die O-negativ-Tagebücher
Eine Installation von Agnes Conway
Material − Eigenblut der Künstlerin

Seine Tochter hat mit ihrem eigenen Blut gemalt! Marcus ist entsetzt. Er hält das für selbstzerstörerisch.

Bauingenieur

Mit dem Hinweis auf billige chinesische Granit-Importe gelingt es dem Bauingenieur Marcus Conway, den Preis für eine Lieferung aus dem 20 Kilometer entfernten Ardrahan herunterzuhandeln.

Ein Politiker, der trödelnde Arbeiter auf einer Baustelle in Keeva beobachtet hat, beschwert sich darüber bei Marcus.

Am meisten setzt ihm der Abgeordnete John Francis Moylette zu. Dem missfällt, dass Marcus die Freigabe für den Weiterbau der neuen Grundschule in Derragarramh verweigert und für den Unternehmer Shamie Curran deshalb zusätzliche Kosten auflaufen. Marcus verweist darauf, dass die Fundamentplatten mit zwei verschiedenen Betonsorten gegossen wurden, aber er rechnet damit, dass sich die Politik über seine Bedenken hinwegsetzen wird.

Infektion

Mairead erkrankt am Tag nach der Vernissage. Die Ärztin diagnostiziert eine schwere Lebensmittelvergiftung. Agnes berichtet aus der Stadt von einer offenbar durch mit Gülle verunreinigtem Wasser verursachten Epidemie. Am Abend nach der Vernissage aß Agnes mit ihren Eltern in einem Restaurant in Galway, und Mairead trank als einzige von ihnen Wasser.

Damit er sich um seine kranke Frau kümmern kann, nimmt Marcus Urlaub.

Nachdem er von Agnes erfahren hat, dass sie bei einem Umzug in Galway mitmachen soll, fährt er hin und schaut sich das Treiben an. Der Umzug endet vor dem Rathaus, dessen fünfstöckige Fassade mit einem weißen Vorhang verhüllt ist, auf den ein Bild von Meereskreaturen im Wasser projiziert wird. Auf dem Dach taucht Agnes auf. Sie ist nackt und wird von Scheinwerfern angestrahlt. Marcus sieht, wie sie an die Dachkante tritt, nach vorne kippt und fällt. Ein Luftkissen fängt sie auf.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Ende

Es dauert lang, bis es Mairead etwas besser geht. Marcus glaubt, sie zwei Stunden allein lassen zu können und fährt nach Westport, um Medikamente für seine Frau zu besorgen. Nach dem Einkauf in der Apotheke setzt er sich noch für eine halbe Stunde in ein Café und bestellt sich eine Tasse Kaffee und ein Clubsandwich. Das genießt er, und er fühlt sich glücklich.

Bei der Rückfahrt packen ihn so heftige Schmerzen in der Brust, dass er es gerade noch schafft, das Auto in eine Parkbucht zu lenken. Die Angelusglocke dröhnt in seinen Ohren, und er schaltet das Radio ein, weil gleich die 13-Uhr-Nachrichten kommen. Dass sein rechter Fuß das Gaspedal voll durchgedrückt hat und der Motor in höchster Drehzahl heult, nimmt er wahr. Der Sterbende glaubt, allein in der Küche zu sein.

[…] und
so verliere ich mich, wieder einmal
in Erinnerungen,
fortgeschwemmt von jener Art Träumerei, die schließlich nur noch eine marginale Verbindung zu dem aufweist, woran man zu Anfang dachte […]

[…] fast wie
in einer Art Wachtraum, in dem alles durch die eigene Unruhe ins Trudeln gerät, weshalb mich, wie ich hier sitze, ein
weinerliches Gefühl des Getrenntseins von meiner Familie überkommt […]

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„Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann“ von Mike McCormack besteht aus einem einzigen Bewusstseinsstrom des Protagonisten Marcus Conway, eines gewöhnlichen Mannes Ende 40. Der hängt seinen unspektakulären Gedanken und Erinnerungen nach. Das geschieht selbstverständlich assoziativ, nicht chronologisch. Erinnerungen an seinen Vater, an die Ehe, einen Seitensprung, den Sohn, die Tochter und an die Arbeit als Bauingenieur wechseln sich ab. Mike McCormack setzt in „Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann“ keinen einzigen Punkt. Den langen zusammenhängenden Text rhythmisiert er durch ungewöhnliche Zeilenumbrüche.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Steidl Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.