Alexander Häusser : Noch alle Zeit

Noch alle Zeit
Noch alle Zeit Originalausgabe Pendragon-Verlag, Bielefeld 2019 ISBN 978-3-86532-655-3, 278 Seiten ISBN 978-3-86532-666-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Alva, die den Vater ihrer kleinen Tochter verlassen und halbherzig eine neue Beziehung angefangen hat, hält sich für eine schlechte Mutter und flieht gewissermaßen vor sich selbst. Ihr Weg kreuzt sich mit dem eines Sechzigjährigen, der nach dem Tod seiner Mutter herausfindet, dass sie ihn bezüglich seines vermissten Vaters seit der Kindheit anlog. Um sich Klarheit zu verschaffen, sucht er nach ihm. Am Ende der Reise erkennt er, was er durch eigene Schuld bisher in seinem Leben versäumte.
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Kritik

In seinem Roman "Noch alle Zeit" fokussiert Alexander Häusser auf zwei Personen, die versuchen, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien und mit sich ins Reine zu kommen. Er beeindruckt mit einer ungewöhnlich genau beobachteten, tiefschürfenden und eindringlichen Veranschaulichung der Gefühle, Gedanken und Motive der Charaktere. "Noch alle Zeit" ist ein feinfühliger, bewegender und ernsthafter Roman auf hohem literarischen Niveau.
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Das Sparbuch

2019 in einer Kleinstadt nahe Hamburg. Eine Woche nach der Beerdigung seiner Mutter Helene fällt Edvard Mellmann auf, dass sie in ihrem Zimmer ein Foto von der Wand nahm, das letzte, auf dem sie mit ihm und seinem Vater Oskar zu sehen war. Das 52 Jahre alte Bild war an Edvards zehntem Geburtstag mit Selbstauslöser geknipst worden. Kurz danach kam der Trödler Oscar Mellmann nicht mehr von einer Fahrt mit dem Kastenwagen zurück, und die Mutter erklärte ihrem Sohn schließlich, sein Vater sei tot.

An seinem 15. Geburtstag glaubte Edvard, seinen Vater in einem Spielzeug-Laden gesehen zu haben. Gewiss kaufte er gerade ein Modellflugzeug als Geschenk! Obwohl die Mutter „Er ist tot! Er ist tot!“ rief, sprang Edvard dem in eine Straßenbahn eingestiegenen Mann nach.

Helene Mellmann verdiente als Arbeiterin in einer Streichholzfabrik nicht viel. Edvard machte eine Ausbildung als Setzer in einer Druckerei, und seit man diesen Beruf nicht mehr benötigt, gibt er Klavierunterricht. Mutter und Sohn sorgten füreinander. Edvard blieb bei der Mutter im Haus, und als sie schwer erkrankte, wagte er sich kaum noch fort von ihr.

Als er nun in den Schubladen nach dem abgehängten Foto sucht, findet er zugleich ein Sparbuch auf seinen Namen und mit einem beträchtlichen Guthaben, von dem er nichts ahnte. Warum verheimlichte ihm die Mutter das Sparbuch? Mit dem Geld hätten sie beispielsweise eine dringend nötige Reparatur der Heizung bezahlen können.

Von 1968 – dem Jahr nach dem Verschwinden des Vaters – bis 2007 sind Einzahlungen vermerkt, aber nie wurde etwas abgehoben. Edvards frühere Schulfreundin Elsie, die das Sparbuch ausgestellt hatte, findet heraus, dass Helene Mellmann Überweisungen aus Norwegen erhielt, die sie stets in voller Höhe und unverzüglich auf das Sparbuch einzahlte.

Elsie und Edvard waren als Jugendliche befreundet und trafen sich heimlich in dem Schuppen, in dem Oskar Mellmann den unverkäuflichen Trödel aufbewahrt hatte. 1980 wechselte Elsie allerdings von der örtlichen Sparkasse zu einer Bank in Lübeck, und der Kontakt brach ab. Edvard überraschte sie einmal mit einem seiner Mutter verheimlichten Besuch am Arbeitsplatz. Elsie verbrachte ihre Mittagspause mit ihm, und sie verabredeten sich für den Abend, aber als er mit einem Rosenstrauß in der Hand auf sie wartete, sah er, wie sie mit einem Kollegen aus der Bank kam und ihn küsste. Da lief er davon und fuhr nach Hause. Später hörte er, dass sie verheiratet sei. Vor einem Vierteljahr kam sie zurück. Ihre Ehe sei gescheitert, heißt es.

Die Überweisungen kamen aus verschiedenen norwegischen Orten wie Narvik, Tromsø, Bergen und Oslo. Edvard beschließt, dort nach seinem Vater zu suchen, löst das Sparbuch auf und macht sich mit dem Bargeld noch am selben Tag auf den Weg.

Die Überfahrt

Am Tresen auf der Fähre nach Oslo bestellt Edvard Minttu und Bier.

Er trinke wie ein Norweger, lacht [der Barmann] Sven […].
Er blickte über Edvards Schulter und flüsterte: „Die war auch schon da.“ Und noch bevor Edvard das Poltern hinter seinem Rücken hörte, dreht er sich um und sah eine Frau aus dem Halbdunkel des Restaurants wanken. Den Kopf erhoben riss sie einen Stuhl um und stieß sich fluchend an einer Tischkante. […] In der Hand am ausgestreckten Arm hielt sie ihr Smartphone, zog damit Kreise in die Luft, starrte auf das Display: „Ich fass es nicht. Ich fass es einfach nicht!“
Die Frau trug ein Kapuzenshirt […], ihre weite Jogginghose schlackerte um ihre Beine. Taumelnd rettete sie sich zum Bartresen, knallte ihr Telefon auf die Theke […].
„Kein Empfang hier, das ist doch nicht normal!“

Es handelt sich um die 30 Jahre alte Journalistin Bianca („Alva“) aus Berlin, eine Freelancerin, die gerade ein paar Tage mit ihrem drei Jahre jüngeren Chef Jo in dessen Ferienhaus auf Jütland verbrachte. Vor drei Jahren trennte sie sich von Tom, dem Vater ihrer damals zwei Jahre alten Tochter Lina. Um die kümmert sich nun während Alvas Abwesenheit deren Mutter in Berlin. Alva fühlt sich schlecht, weil sie nach dem Urlaub mit ihrem Geliebten noch eine Reportage über magische Orte im hohen Norden plant und ihre fünfjährigen Tochter nicht auf die längere Abwesenheit vorbereitet hat. Es ist gewissermaßen eine Flucht, und zwar vor ihrer Sorge, eine schlechte Mutter zu sein und ihrer Unsicherheit, ob Jo der Richtige für sie sein könnte.

Nachdem die Bar geschlossen hat, sieht Edvard, wie Alva über der Reling hängt und kotzt. Ihr Smartphone leuchtet auf, und der Name ihrer Tochter erscheint auf dem Display. Aber als Alva auf den grünen Knopf drückt, rutscht ihr das Telefon aus der Hand und fällt ins Meer.

Weil Alva ihren Schlüssel in der Bar vergaß, nimmt Edvard sie mit in seine Kabine. Während sie in seinem Schlafanzug schläft, wäscht er ihre vollgekotzten Sachen. Die hängt er am Morgen zum Trocknen in die Sonne. Als er zurückkommt, ist sie fort und hat einige Banknoten aus Edvards auf der Ablage am Bett liegenden Kuvert gestohlen.

Die Suche

Alva nahm nur so viel von dem Geld, wie sie für den Kauf eines Smartphones benötigt. Sie muss doch mit ihrer Tochter telefonieren können! Vergeblich suchte sie nach einer Adresse des Bestohlenen, denn sie wollte ihm den Betrag später erstatten. Weil sie auf einem Notizzettel etwas vom Flohmarkt Birkelunden in Oslo las, wartet sie dort auf ihn.

Tatsächlich taucht Edvard auf. Er zeigt einem Händler nach dem anderen das 50 Jahre alte Foto seines Vaters. Aber keiner kennt ihn.

Nun soll die Journalistin Edvard helfen, seinen Vater zu finden. Im Heimatfrontmuseum fällt ihr der Flyer eines Hobbyhistorikers auf: Isak Lemskø in Honningsvåg sucht Fotos, Dokumente und andere Zeugnisse aus der Zeit der deutschen Besatzung Norwegens für seine Sammlung.

Edvard und Alva reisen über Tromsø nach Honningsvåg. Der Witwer Isak Lemskø fliegt mit ihnen nach Bergen. Auf der nahen Insel Herdla, deren Bewohner im Zweiten Weltkrieg vertrieben worden waren, weil die deutsche Luftwaffe dort einen Fliegerhorst eingerichtet hatte, kennt Isak Lemskø einen Deutschen aus dem damaligen Jagdgeschwader 5. Tatsächlich erinnert sich der „Eismeerjäger“ beim Anblick der von Edvard vorgelegten Fotos an Oskar. Der war allerdings nicht Pilot, wie Edvard als Kind glaubte, sondern Flakhelfer. Und bei der auf einem der Bilder zu sehenden Frau handelt es sich um eine Norwegerin namens Jenni, die heimlich eine Liebschaft mit dem deutschen Gefreiten hatte. Der geriet dann in Gefangenschaft, scheint aber nach seiner Entlassung Jenni gesucht zu haben, denn vor etwa 20 Jahren traf der „Eismeerjäger“ die beiden zufällig noch einmal. Ob sie noch leben, kann er nicht sagen, aber er gibt Edvard die Adresse, die er von ihnen bekam.

Noch alle Zeit

Als Alva einen Anruf von Tom erhält, der aufgeregt berichtet, dass Lina vom Spielplatz verschwunden sei, eilt sie sofort zum Flugplatz und fliegt mit der nächsten Maschine nach Berlin.

Dort erfährt sie, dass Lina wieder aufgetaucht ist. Ihre Tochter schläft bereits in Toms Wohnung. Um am nächsten Morgen da zu sein, wenn Lina aufwacht, übernachtet Alva bei Tom auf einer Couch.

Obwohl die Adresse, die Edvard erhielt, ganz in der Nähe von Bergen zu finden wäre, überrascht er Isak Lemskø mit der Entscheidung, nach Hamburg zurückzufliegen, statt weiter nach seinem Vater zu suchen.

Seine Haustür muss er eintreten, weil er die Schlüssel vor der Abreise auf dem Tisch liegen ließ. Mitten in der Nacht ruft er Elsie an. Nach ein paar Worten legt sie auf.

Wie dumm von ihm, zu glauben, er müsste nur nach ihr rufen und sie stünde vor ihm. Als hätte es all die Jahre, dieses ganze Leben nicht gegeben, als könnte man einfach von vorne beginnen, Neues bauen auf dem Alten, Türen öffnen, wo es keine Räume gab.

Er zündet den Schuppen an und starrt in die Flammen – bis er das Klappern eines Fahrrads hört. Elsie ist gekommen.

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In seinem Roman „Noch alle Zeit“ fokussiert Alexander Häusser auf zwei Personen, die im Jahr 2019 versuchen, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien und mit sich ins Reine zu kommen. Zugleich veranschaulicht „Noch alle Zeit“ das Unvermögen beider Hauptfiguren zur Kommunikation.

Alva, die den Vater ihrer kleinen Tochter verlassen und halbherzig eine neue Beziehung angefangen hat, hält sich für eine schlechte Mutter und flieht gewissermaßen vor sich selbst. Ihr Weg kreuzt sich mit dem eines Sechzigjährigen, der nach dem Tod seiner Mutter herausfindet, dass sie ihn bezüglich seines vermissten Vaters seit der Kindheit anlog. Um sich Klarheit zu verschaffen, sucht er nach ihm. Am Ende der Reise erkennt er, was er durch eigene Schuld bisher in seinem Leben versäumte.

Alexander Häusser entwickelt die hoffnungsvoll endende Geschichte zunächst im Wechsel der beiden Handlungsstränge, die bereits im mittleren der drei Teile zusammenlaufen. Er erzählt chronologisch mit eingefügten Erinnerungen bzw. Rückblenden.

Vor allem im ersten Teil beeindruckt „Noch alle Zeit“ mit einer ungewöhnlich genau beobachteten, tiefschürfenden und eindringlichen Veranschaulichung der Gefühle, Gedanken und Motive der Charaktere. Dabei inszeniert Alexander Häusser bildhaft und vermeidet sowohl Erläuterungen als auch Psychologisierungen. „Noch alle Zeit“ ist ein feinfühliger, bewegender und ernsthafter Roman auf hohem literarischen Niveau.

Alexander Häusser wurde am 19. September 1960 in Reutlingen geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Tübingen. 1994 debütierte Alexander Häusser mit dem Roman „Memory“. Seine Erzählung „Zeppelin“ wurde verfilmt. 1998 erhielt Alexander Häusser ein Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben, 2004 ein weiteres, und zwar des Atelierhauses Worpswede und 2008 ein Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Lauenburg.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Pendragon Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.