Ana Marwan : Der Kreis des Weberknechts

Der Kreis des Weberknechts
Der Kreis des Weberknechts Originalausgabe Otto Müller Verlag, Salzburg / Wien 2019 ISBN 978-3-7013-1271-9, 191 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Lipitsch mietet ein Haus in einem Dorf, um allein sein und an einer philosophischen Abhandlung arbeiten zu können. Aber die Nachbarin durchkreuzt seine Pläne, indem sie Kontakt mit ihm aufnimmt. Bald kommt Lipitsch sich vor, als klebe er in Mathildes Spinnennetz, und seine Sinn suchende Arbeit bleibt liegen ...
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Kritik

Ana Marwan erzählt die schräge Geschichte ironisch aus der Sicht des Protagonisten, also aus der verqueren Perspektive eines Misanthropen, der im Verlauf von zehn Monaten immer verrückter wird. Das macht den Reiz des tragikomischen Romans "Der Kreis des Weberknechts" aus.
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Lipitsch

Früher wohnte Karl Lipitsch in der Innenstadt der Metropole des Landes, aber vor einem halben Jahr mietete er ein Haus in einem Dorf und meidet seither den Umgang mit anderen Menschen.

Eine Ausnahme macht er, als ein Bekannter stirbt. Obwohl er ihn seit 15 Jahren nicht mehr gesehen hat, fliegt er zur Beerdigung und trifft auf die Witwe Gerda, mit der er vor langer Zeit eine Affäre hatte.

Als er nach dem Rückflug sein Gepäck in Empfang nimmt, wird er von einer Frau angesprochen, der seine Adresse auf dem Kofferschild aufgefallen ist und die ihm nun erklärt, dass sie im Haus gegenüber wohne. Lipitsch kann sich ihr im Zug nicht entziehen und fühlt sich genötigt, am Bahnhof ein Taxi mit ihr zu teilen.

Die kleinen erbärmlichen Dämme, die er biberartig ihrem Redefluss entgegensetzte, bemerkte sie gar nicht.

Kaffee und Kuchen

Zehn Tage später arbeitet Lipitsch im Garten an einer Abhandlung.

Der Mensch soll also vor dem Zufall, der gnadenlos in der Natur regiert, durch die Festung der Gesellschaft geschützt werden.
Wenn man von der Herrschaft des Stärkeren in der Natur redet, soll man nicht vergessen, dass der Stärkere nur von dem allmächtigen und kapriziösen Zufall als dessen Stellvertreter und Vollstrecker ernannt wurde: Dank Glück in der genetischen Lotterie und in den günstigen Bedingungen der Umwelt steht er a posteriori als Stärkster da und stiftet Unruhe.
Die Gesellschaft hingegen steht also für die (vom Zufall unabhängige) Gerechtigkeit […] und gibt dem Schwächeren etwas, was man im Bereich der Sportwetten Handicap nennen würde.

Die Nachbarin grüßt über den Zaun. Auf einem Tablett hat sie zwei Tassen Kaffee und einen Kuchen. Lipitsch bleibt nichts anderes übrig, als seine Arbeit zu unterbrechen und sie hereinzubitten. Auf ihre Frage, was er da schreibe, antwortet er:

„Ich versuche, einige Erkenntnisse über die menschliche Seele zu schildern.“

Ob es ein psychologisches Buch sei, möchte sie wissen. Darauf sagt er:

„Auch. Es geht darüber hinaus … Es ist … interdisziplinär.“

„Es ist sehr komplex. Es ist eine ontologische Theorie. Also allumfassend. Also schwer zusammenzufassen.“

„Ich bin ein großer Gegner von Zusammenfassungen. Wenn ich zum Beispiel Leonardo wäre und an Mona Lisa arbeiten würde, könnte ich Ihnen das Bild zwar in 30 Sekunden skizzieren, Sie wären aber, nehme ich an, nicht im Geringsten beeindruckt.“

„Ich wage zu bezweifeln, dass ich im Stande bin, mit meiner Abhandlung Ihr Interesse zu wecken. Das Porträt der Frau, das ich zeichne, trägt kein mysteriöses Lächeln. Sie ist nackt wie die Wahrheit selbst. Meine einzige Liebe gilt nämlich der Wahrheit (in all ihrer Scheußlichkeit), die ich, modestia aparte, von der Arithmetik und Physik bis zu ihrem Ursprung in der menschlichen Seele verfolgt habe.“

Die Nachbarin nimmt die leeren Tassen mit und lässt ihm den restlichen Kuchen da. Tagelang wartet er darauf, dass sie noch einmal kommt, um den Teller abzuholen. Das lenkt ihn so ab, dass er nicht imstande ist, an seiner philosophischen Abhandlung weiterzuarbeiten. Schließlich bringt er ihr den Teller hinüber.

Nun steht er vor der Frage, wie er sich für den Kuchen revanchieren soll. Er nimmt ein im Supermarkt gekauftes Glas Honig, kratzt das Etikett ab, schreibt auf einen kleinen Zettel mit der Hand das Wort „Honig“, klebt ihn aufs Glas und erklärt ihr dann, den Honig beziehe er von einem Hobby-Imker.

Im Spinnennetz

Lipitsch glaubt, sein abweisendes Verhalten erklären zu müssen und schreibt der „werten Nachbarin“ einen Brief, in dem er sich als Misanthrop bezeichnet. Sie antwortet mit einer an ihn und die anderen Nachbarn gerichteten Einladung, die sie mit ihrem Vornamen Mathilde unterzeichnet.

An dem Abend in ihrem Haus bemüht sich Lipitsch, mit zwei, drei anderen Gästen zu reden, aber er geht als Erster.

Er hält eine Gegeneinladung für angebracht und kommt sich dabei vor, als klebe er bereits in ihrem Spinnennetz.

Die Spinne möchte nicht, dass man ihr kunstvolles Weben bewundert, ihr hauchdünnes Luftgespinst, filigran, durchsichtig. Ganz im Gegenteil, sie möchte, dass man es gar nicht bemerkt. Nur in dem Fall wird sie etwas fangen können; nur so kann sie leben. Zwischen Gefangenwerden und Tod bleibt genug Zeit für Bewunderung.

Als er durchs Fenster sieht, wie Mathilde mit einer Plastiktüte vom Einkaufen kommt, geht er ihr mit einem Einkaufskorb entgegen.

Natürlich musste er wegen der geraden Straße auf den Boden schauen, eine Annäherung, die zu lange dauert, ist peinlich für alle Beteiligten, das weiß jeder. Er spielte ‚in Gedanken versunken‘. Dann spielte er ‚überrascht‘, und sagte „erfreut“.

Sein Denken kreist um Mathilde, statt um seine philosophische Abhandlung, aber Lipitsch ist überzeugt, dass er jederzeit damit aufhören könnte.

Salon und Jour fixe

Auf den ersten Empfang Mathildes für die Nachbarn folgen weitere, und daraus entwickelt sich beinahe etwas wie ein Salon. Parallel dazu vereinbaren Mathilde und Lipitsch einen Jour fixe und treffen sich jede Woche zum Kaffeetrinken bei ihm.

Mathilde schlägt vor, sich zu duzen, aber das lehnt Lipitsch ab.

Weil er sich in seiner Selbstbezogenheit nie nach ihrer Meinung oder ihren Lebensumständen erkundigt (und so auch nicht erfährt, dass sie nur schwer über ihre Scheidung hinwegkam), fragt Mathilde um so mehr, damit das Gespräch nicht abbricht und sie deprimiert zurückbleibt.

Bei einem ihrer Salons stellt sie den befreundeten französischen Magister Lucas Chemineau vor, und Lipitsch fällt sofort auf, dass sie ihn duzt.

„Wo haben Sie ihn eigentlich kennengelernt?“
„Auf der Sorbonne.“
„Was haben Sie denn dort gemacht?“
„Ich habe denn dort studiert.“
[…] „Sie haben mir das nie erzählt. Ich kann es nicht glauben, dass dieser … Mann auf der Sorbonne studiert hatte.“
„Ich habe gesagt, ich habe dort studiert.“
„Und was hat er gemacht?“
„Auch, natürlich.“

Winterreise

Einige Zeit später steht sie mit zwei Karten für den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert vor der Tür. Zunächst freut er sich, aber dann begreift er, dass sie ihm beide Karten anbietet. Wollte sie mit einem anderen Mann hingehen und wurde versetzt? Er fleht Mathilde an, das Konzert mit ihm gemeinsam zu besuchen und duzt sie dabei erstmals spontan.

In der Pause überrascht er sie mit einem Wortschwall:

„Um ehrlich zu sein … kann ich in Ihrer Gesellschaft nichts anderes … genießen … Sie sind vollkommen und echt, und die Kunst ist nur … ein künstliches Streben nach Vollkommenheit … und Sie sind schon vollkommen und müssen nach nichts streben, und mein Leben ist … ein Elend, weil man der Vollkommenheit nichts hinzufügen kann, nichts anbieten kann, und ich muss diesem … Leiden endlich ein Ende setzen …“
Er hatte wieder zum Siezen gewechselt, verständlicherweise. Das wäre sonst mehr an Nähe gewesen, als er vertragen konnte. […] Sie, Mathilde, wusste nicht, was sie sagen sollte und sagte das auch.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll … Das ist alles sehr unerwartet … Ich bin sehr überrascht. […] Sie sind sehr kühl und manchmal sogar abweisend, oder nicht?“
[…] Das war der letztmögliche Zeitpunkt, in dem die Theaterglocke noch entgegenkommen hätte können. Nachdem sie aber nicht eingriff, sagte Lipitsch, er könne nicht mehr, er müsse gehen.

Als er allein ist, denkt er:

[…] Mathilde […], man nannte so den Tod, wenn man ihn bei einem Namen nennen wollte. ‚Die Mathilde hat ihn geholt‘, sagte man, wenn man Worte wie ‚gestorben‘ oder ‚tot‘ vermeiden wollte.

Bruch

Nachdem sie sich an fünf aufeinander folgenden Tagen getroffen haben, kündigt Mathilde an, dass sie für zwei Wochen mit Freunden Urlaub machen werde. Da denkt er:

Sie will also auf Urlaub fahren? Er kann auch auf Urlaub fahren, Zahn um Zahn, Rache ist süß, wer als Letzter lacht etc. Nur soll sie zuerst zurückkommen, sonst merkt sie es ja gar nicht.

Er bucht eine Woche an einem Ort, der im Prospekt mit dem Foto eines Leuchtturms beworben wird, aber das Sinnbild der Einsamkeit täuscht: der Strand ist überfüllt.

Nachdem sie sich seit neun Monaten kennen, seit vier Wochen duzen und seit drei Wochen nicht gesehen haben, wartet Lipitsch am Jour fixe vergeblich auf Mathilde. Er geht hinüber und fragt, was los sei. Sie meint, es wäre besser, sich eine Weile voneinander fernzuhalten.

War das wirklich das Ende? Ihm war es egal, aber er hätte es gerne gewusst.

Lipitsch wartet darauf, dass Mathilde einlenkt – bis er nach einem Monat sieht, dass alle Nachbarn bis auf ihn bei ihr wieder zu Besuch sind.

Ob das alles nur in seiner Fantasie stattgefunden habe, fragt er sich. Er schreibt ihr eine Reihe von Briefen, die jedoch unbeantwortet bleiben.

Einmal beobachtet er, wie ein Nachbar namens Georg bei Mathilde zu Besuch war.

War das Georg, der aus ihrem Haus kam?! Es schaut nicht nach einem belanglosen Besuch aus, der Mann schaute nach einem Georg aus. Hatte sie ihn schon gegen einen solchen ausgetauscht? Das war mehr, als Lipitsch verkraften konnte. Was wird ihm die Schlampe noch alles zumuten?

Ewigkeit und Unendlichkeit

Eines Tages war es dann plötzlich passiert: Lipitsch begriff auf einmal sein Leben als Ganzes.

[…] Er musste noch den Weg finden, die Essenz so zu extrahieren, dass das, was er plötzlich begriffen hatte, auch erzählt werden konnte. Zurzeit schien ihm das ein unmögliches Unterfangen.

[…] auf einmal erinnerte sich Lipitsch seiner Zukunft.

Ja, ich glaube an eine progressive Ewigkeit, die sich ausbreitet wie das Weltall und linguistische Unstimmigkeiten als Unzulänglichkeiten menschlichen Denkens missachtet. Ewigkeit geht in die Tiefe, Unendlichkeit in die Breite. Es gibt nur diese zwei Dimensionen. Es gibt keine Zeit in der Ewigkeit, kein oben und unten in der Unendlichkeit. Und wie die multiplizierte Unendlichkeit unendlich bleibt, kann man auch die Ewigkeit vermehren, ohne dass sie sich ändert.

Lipitsch gelingt es, Mathilde zu überreden, sich noch einmal mit ihm zu verabreden und sich in einem Café eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse anzuhören.

„Es geht dir nicht gut, Karl. Du solltest Hilfe aufsuchen“, sagte sie, als er fertig war.

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In ihrem tragikomischen Roman „Der Kreis des Weberknechts“ porträtiert Ana Marwan einen verschrobenen Mann mittleren Alters, der in einem Dorf ein Haus mietet, um allein sein und an einer philosophischen Abhandlung arbeiten zu können. Dadurch entkommt Lipitsch auch dem verhassten Gedränge in der Großstadt, in der er vorher lebte. Aber die auf der anderen Straßenseite wohnende Nachbarin durchkreuzt seine Pläne, indem sie Kontakt mit ihm aufnimmt. Bald kommt Lipitsch sich vor, als klebe er in Mathildes Spinnennetz, und seine Sinn suchende Arbeit bleibt liegen.

Ana Marwan erzählt die schräge Geschichte ironisch aus der Sicht des Protagonisten, also aus der verqueren Perspektive eines Misanthropen, der im Verlauf von zehn Monaten immer verrückter wird. Das macht den Reiz des Romans „Der Kreis des Weberknechts“ aus. Dazu kommen kluge Gedanken und gute Beobachtungen.

Ana Marwan wurde 1980 in Slowenien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Ljubljana und Romanistik in Wien. Ihren Debütroman „Der Kreis des Weberknechts“ hat sie in deutscher Sprache geschrieben.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Otto Müller Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.