Susann Pásztor : Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017 ISBN 978-3-462-04870-4, 285 Seiten ISBN 978-3-462-31593-6 (eBook) ISBN 978-3-462-05186-5 (Taschenbuch)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Karla Jenner-García ist eine starke, eigenwillige Frau, die früher ihrer Lieblings-Band Grateful Dead überall nachgereist war, eine unheilbar krebskranke Atheistin, die sich illusionslos dem Sterben fügt und ihre Würde bewahrt. In die Rolle ihres ehrenamtlichen Sterbebegleiters stolpert der allein erziehende Vater Fred Wiener hinein. Sein Gedichte schreibender Sohn Phil ist zwar ein Einzelgänger, spürt jedoch, auf was es ankommt.
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Kritik

Sterben. Tod. Das sind Tabuthemen. Susann Pásztor hat darüber einen Roman geschrieben. Obwohl es um ein düsteres Thema geht, ist "Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster" keine deprimierende Lektüre. Dezent hat Susann Pásztor auch Humor und Tragikomik eingebaut. Und sie betont die ermutigenden Aspekte.
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Fred Wiener

Fred Wiener ist alleinerziehender Vater eines 13-jährigen Sohnes, der eigentlich Philipp heißt, aber Phil genannt werden möchte. Fred und seine Frau sind seit sechs Jahren geschieden; Sabine lebt inzwischen mit ihrem zweiten Ehemann Fergus in Schottland. Nach der mittleren Reife hatte Fred beim öffentlichen Dienst angefangen und zuletzt absolvierte er eine Ausbildung zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter, weil er hoffte, auf diese Weise etwas Sinnvolles tun zu können.

Karla Jenner-García

Bei Fred Wieners erstem Einsatz geht es um eine etwa 60 Jahre alte Dame, die erst vor einen dreiviertel Jahr von Formentera nach Deutschland zurückkam, um den Lebensabend in der Heimat zu verbringen. Bald darauf erfuhr Karla Jenner-García, dass sie an einem metastasierten Pankreas-Karzinom erkrankt ist. Die Chemotherapie, die ihren Tod vielleicht um ein paar Monate verschoben hätte, brach sie wegen der heftigen Nebenwirkungen ab. Karla Jenner-García erklärt dem übergewichtigen Mittvierziger, der nach ihrem Gespräch mit der Hospiz-Leitung zu ihr in die Mietwohnung kommt und unbeholfen versucht, ein Gespräch mit ihr zu führen, dass sie in ihren Privaträumen sterben wolle und es inzwischen schon bedaure, nach der Möglichkeit einer Sterbebegleitung gefragt zu haben.

„Tun Sie mir den Gefallen und hören Sie bitte mit dieser Scheißkonversation auf.“

Sterbebegleitung

Als sie ihn fragt, warum er sich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter engagiere, antwortet er, er wolle lernen, es auszuhalten, dass Menschen sterben.

„Sie wollen das erst lernen? Sie können das noch nicht?“, fragte Karla.
„Das ist ein langer Weg“, sagte er vage.
Karla runzelte die Stirn, dann hatte sie offenbar eine Eingebung. „Sie machen das noch gar nicht lange, oder?“

Fred Wiener gesteht: „Es ist mein erstes Mal.“ Verblüfft schaut sie ihn an. Dann sagt sie: „Was für ein Zufall. Bei mir ist es auch das erste Mal.“

Als er sie ein paar Tage später anruft und einen Spaziergang vorschlägt, lehnt sie ab.

„Ich dachte, Sie fänden es schön, mal rauszukommen.“
„Tut mir leid“, sagte Karla. „Ich fände das überhaupt nicht schön.“
„Habe verstanden.“
„Einen Scheißdreck haben Sie“, sagte Karla und fing an zu weinen. Dann legte sie auf.

Weitere Anrufe nimmt sie nicht entgegen und drückt auch nicht auf den Summer, als er am Eingang des Mietshauses klingelt. Fred versucht es bei Leo Klaffki in Parterre. Als er in die Gegensprechanlage sagt, dass Frau Jenner nicht ans Telefon gehe und die Tür nicht öffne, meint deren Nachbar:

„Na, denn willse wohl ihre Ruhe haben.“ Für Leo Klaffki war ihr Dialog damit beendet. Fred musste erneut bei ihm klingeln.
„Frau Jenner ist schwer krank“, sagte Fred. „Ich mache mir Sorgen.“

Nach einer kurzen Pause summt es, und Fred kann die Haustüre aufdrücken.

Leo Klaffki stand gegen den Türrahmen gelehnt und trug ein Werder-Bremen-Trikot.
„Die ist krank?“, sagte er. „Weiß ich nix von.“
Durfte er überhaupt solche vertraulichen Informationen an Personen wie Leo Klaffki weitergeben? Fred beschloss, dass hier ein Notfall vorlag, und er beschloss, ja.
„Ich bin ein Mitarbeiter vom Hospiz“, sagte er, und weil ihm nach Wahrheit zumute war, fügte er hinzu: „Also, ein ehrenamtlicher.“ Er war sich nicht sicher, ob Leo Klaffki wusste, was ein Hospiz war.
„Hospiz“, sagte Klaffki. „Scheiße.“

Der Werder-Bremen-Fan fährt mit dem Hospiz-Mitarbeiter im Aufzug hinauf.

„Baujahr 1908, aber in den Sechzigern modernisiert“, sagte Klaffki. „Ist nur blöd, wenn ich selber drin bin, wenn er stecken bleibt. Ich bin ja so ’ne Art Hausmeister hier.“ Er wies auf einen Zettel neben den Etagenknöpfen, auf dem „Bitte im Notfall benachrichtigen“ und darunter sein Name und eine Mobilnummer standen. Fred erkannte die Handschrift vom Klingelschild.

Weil Karla Jenner auch nicht aufs Klingeln an ihrer Wohnungstüre reagiert, schlägt Fred Wiener dem Hausmeister vor, den Generalschlüssel zu holen, aber da öffnet sie dann doch noch, bittet die Herren herein und bedankt sich bei Fred Wiener:

„Eigentlich war das sehr nett, was Sie da gemacht haben. Ich glaube nur nicht, dass ich mich jedes Mal über solche Aktionen von Ihnen freuen werde. […] Heute zum Beispiel freue ich mich nur deswegen, weil diese höllischen Schmerzen nach achtundvierzig Stunden aufgehört haben und das Morphium besser eingestellt ist. Ich bin so zugedröhnt wie schon lange nicht mehr. Wie in den ganz alten Tagen […].“

Später erklärt sie dem unbeholfenen Sterbebegleiter:

„[…] wenn mir nach Rückzug ist, möchte ich mir keine einzige Sekunde lang Gedanken darüber machen müssen, wie mein Verhalten wohl bei Ihnen ankommt.“

Sie berichtet, dass ihr der Arzt inzwischen THC verordnet habe:

„THC?“
„Cannabis, Herr Wiener. Ich habe es mehr als dreißig Jahre lang geraucht und vor zehn Jahren damit aufgehört, und jetzt empfiehlt mir mein Arzt, ich solle es unter dem Namen ‚Dronabinol‘ für 400 Euro im Monat in der Apotheke kaufen, um mir den Lebensabend zu versüßen.“

Ein Auftrag für Phil Wiener

Einige Zeit später verabredet sich Karla Jenner mit Fred und Phil Wiener in einem Café gegenüber dem Mietshaus, in dem sie wohnt. Sie wolle knapp 1500 Fotonegative aus ihrem Privatarchiv fürs Grateful Dead Archive der University of California in Santa Cruz digitalisieren, erklärt die Todkranke und fragt Phil, ob er das gegen Bezahlung für sie machen könne. Über die erforderlichen Geräte verfüge sie, denn sie habe bereits selbst zahlreiche Bilder eingescannt. Der vom Anblick der Kellnerin Rona erregte Junge sagt zu und fängt am nächsten Tag in der Küche seiner Auftraggeberin mit der zeitraubenden Arbeit an.

Offenbar führte Karla Jenner ein bewegtes Leben. Die ältesten Aufnahmen ihres Archivs über die 1965 gegründete Rockband Grateful Dead stammen von einem Konzert 1976 in San Francisco. Da war sie 20 und zum ersten Mal in die USA geflogen. Das Geld hatte sie von der 14 Jahre zuvor gestorbenen Mutter geerbt. 1995 heiratete sie einen Mann, der denselben Nachnamen trug wie Jerry Garcia, der Frontman der Grateful Dead. Mit ihm zusammen verdiente sie viel Geld als Immobilienmaklerin für reiche Touristen auf Ibiza. Die Ehe wurde geschieden, aber Karla behielt den Doppelnamen Jenner-García. Es gibt zwar auch noch neuere Fotos, aber Phil soll nur die bis 1995 aufgenommenen bearbeiten – dem Jahr, in dem die Grateful Dead am 9. Juli in Chicago ihr letztes Konzert gaben, Jerry García seinen letzten Auftritt hatte und am 9. August im Alter von 53 Jahren starb. Phil erfährt, dass ein Großteil der Grateful Dead-Texte von dem Dichter Robert Hunter stammt, der Lyrik von Rainer Maria Rilke ins Amerikanische übertrug.

Karla Jenner findet rasch heraus, dass der introvertierte 13-Jährige feinfühlige Gedichte schreibt und über mehr Empathie als sein gutmütiger Vater verfügt.

Überraschung

Den Hospiz-Unterlagen entnimmt Fred Wiener, dass Karla Jenner-García außer einer Schwester, die nach ihrem Tod verständigt werden soll, keine Freunde oder Verwandte hat. Der Sterbehelfer nimmt sich vor, die beiden offenbar seit langem zerstrittenen Schwestern zusammenzubringen, damit sie sich vor Karlas Tod versöhnen können. Er telefoniert mit der pensionierten Grundschullehrerin Gudrun Feuser, klärt sie über den Gesundheitszustand ihrer acht Jahre jüngeren Schwester auf und schlägt ein Treffen am ersten Weihnachtsfeiertag in seiner Wohnung vor.

Phil wundert sich, als er hört, dass Karla Jenner die Einladung zur privaten Weihnachtsfeier angenommen hat. Das hätte er nicht erwartet. Vom Überraschungsgast seines Vaters ahnen er und Karla Jenner allerdings nichts. Leo Klaffki fährt die Kranke mit dem Auto und unterhält sie und die beiden Wieners mit Erlebnissen als Wirt im Vereinsheim eines drittklassigen Fußballclubs. Als es klingelt und die Stimme einer Frau zu hören ist, erschrickt Phil, denn Karla Jenner richtet sich wie eine Kobra auf. Als die Fremde hereinkommt und „Karla“ sagt, erhebt diese sich schweigend und lässt sich von Leo Klaffki nach Hause fahren.

Noch am selben Abend ruft sie Fred Wiener an und erklärt, dass sie ihn ab sofort nicht mehr benötige. Und Phil meint: „Das war eine Scheißidee, Papa!“

Am 28. Dezember klingelt Phil bei Karla Wiener, um mit seiner Arbeit weiterzumachen. Sie habe nicht mit ihm gerechnet, sagt sie, aber sie freue sich. Sie werde sich gleich wieder hinlegen, und wenn Rona Weiß klingele, um nach ihr zu sehen, solle er ihr ausrichten, es sei alles in Ordnung. Phil kann es kaum erwarten, bis er die hübsche, im Café jobbende Studentin wiedersieht.

In der nächsten, von dem erfahrenen Sozialpsychologen Arne Jablonski geleiteten Supervisions-Gruppensitzung im Hospiz gesteht Fred Wiener, seinen ersten Einsatz „vermasselt“ zu haben und berichtet, was passiert ist. „Diese gut gemeinten, treuherzigen Manipulationen“, kommentiert eine Teilnehmerin. Auch als übergriffig wird sein Versuch kritisiert, die beiden Schwestern zusammenzubringen. Arne Jablonski räumt ein, dass jeder Fehler mache. Frau Jenner-García habe übrigens der Hospiz-Leitung mitgeteilt, dass sie die Sterbebegleitung beenden wolle, weil es ihr zur Zeit sehr viel besser gehe.

Phil

Karla Jenners Hausarzt Uwe Höll kommt nun häufiger, ebenso wie Frau Beck vom Pflegedienst. Rona schaut jeden Tag nach Karla Jenner, wenn sie zu deren Nachbarn Olić („Olli“) hinaufgeht oder von dort zurückkommt. Einmal in der Woche bringt sie auch eine russische Putzfrau mit. Dass Phil die auch als Kellnerin arbeitende Studentin für eine Prostituierte hält, schmälert nicht seine Gefühle für sie. (Erst viel später erfährt er, dass seine Vermutung falsch war, denn bei Olić handelt es sich nicht um einen Freier, sondern um einen leicht verrückten Maler, der seine weiblichen Modelle – darunter Rona – ängstlich auf Distanz hält.)

Phil führt seine Arbeit fort. Im Januar meint Karla Jenner jedoch, sie werde den Rest der Negative von einem Fotolabor bearbeiten lassen, denn es sei damit zu rechnen, dass es „langsam ungemütlich“ werden könnte. Das möchte sie dem Jungen ersparen, aber Phil schlägt ihr vor, ihm einen Wohnungsschlüssel anzuvertrauen, dann könne er in der Küche weitermachen, ohne sie zu stören. Karla Jenner lässt sich überreden, schärft ihm allerdings folgendes ein:

„Wenn du hierherkommst, und ich liege irgendwo rum und bin nicht ansprechbar, dann wirst du niemals, niemals 112 anrufen. Du wirst meinen Hausarzt anrufen und keinen Menschen sonst. Ich häng dir einen Zettel mit seiner Nummer und der Nummer vom Pflegedienst in die Küche. Hast du das verstanden, Phil? Nicht den Notruf. Der Notruf ist verpflichtet, mich zu reanimieren und in ein Krankenhaus zu bringen. Mein Hausarzt entscheidet, was angemessen ist.“

Zweite Chance

Fred Wiener, der nach dem Abbruch seines ersten Auftrags Sitzwachen bei Sterbenden im Hospiz übernommen hat, erhält eine Nachricht von Leo Klaffki: Frau Jenner steckt im Aufzug fest. Weil Samstag ist, hat der Hausmeister bei der Aufzugfirma noch niemanden erreicht. Ob Fred Wiener kommen und mit der Eingeschlossenen reden könne, um ihr die Angst zu nehmen, während er versuchen werde, den Lift wieder ans Laufen zu kriegen.

Sofort macht Fred Wiener sich auf den Weg. Der Fahrstuhl klemmt zwischen dem zweiten und dritten Stock. Fred Wiener legt sich in der dritten Etage auf den Boden und redet mit Karla Jenner. Zuerst antwortet sie nicht, aber dann ist sie doch froh, seine Stimme zu hören, während sie darauf wartet, den Aufzug wieder verlassen zu können.

Besserung

Dr. Höll gelingt es, seine Patientin davon zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, einen Portkatheter einzusetzen. Aufgrund der darüber verabreichten Medikamente und Nährlösungen verbessert sich ihr Befinden, und sie lässt sich von Fred Wiener sogar zu einem Bestattungsinstitut fahren. Dort erklärt sie dem Firmeninhaber Christoph Merz:

„Überhaupt kein Grab. Keine Bestattungszeremonie, keine Trauerfeier. Nicht unter der Erde und nicht irgendwo in einem Regal. Und kommen Sie mir gar nicht erst mit einem Wald.“

Christoph Merz beklagt zwar die restriktiven Gesetze in der Bundesrepublik Deutschland, versichert jedoch, er könne über seine Kontakte jede Art von anonymer Beisetzung im Ausland vermitteln, beispielsweise gebe es die Möglichkeit, die Asche nach und nach dem Substrat eines Baumsetzlings zuzufügen, bis dieser im Freien eingepflanzt werden könne. Zum Abschied sagt Karla Jenner:

„Ich werde über meine Zukunft als Olivenbaum nachdenken.“

Gudrun schreibt ihrer Schwester einen langen Brief und schickt das dicke Kuvert Fred Wiener mit der Bitte, es weiterzugeben.

Wir erfahren nicht genau, was in dem Brief steht. Es geht wohl um Otto, den Vater der beiden Schwestern. Gudrun war pummelig und glaubte, der Vater möge sie deshalb nicht. Das kränkte sie zwar, aber zugleich war sie froh, dass der Vater sich nicht an ihr, sondern an Karla vergriff. Sie setzte ihre acht Jahre jüngere Schwester als Trumpf ein, um den Vater von sich fernzuhalten. Karla riss mit 16 zum ersten Mal aus und verschwand mit 17 ganz. Zum letzten Mal sah Gudrun sie 1975, als sie volljährig war und die Herausgabe des von der Mutter für sie angelegten Sparbuchs verlangte. Bald darauf kam der demente, alkoholkranke Witwer in ein Pflegeheim. Als 27-Jährige brauchte Gudrun endlich nicht mehr für den Vater zu sorgen, sondern konnte das Abitur nachmachen, um dann zu studieren. Der Vater starb nach elf Jahren im Pflegeheim im Alter von 83 Jahren.

Fred Wiener ringt lange mit sich, ob er der Adressatin den Brief geben soll oder nicht, denn er befürchtet einen ähnlichen Eklat wie bei der Weihnachtsfeier. Schließlich gibt er ihr das Kuvert, und sie sagt ruhig: „Ich hatte mich schon gewundert, dass da nichts mehr kommt.“ Den Brief brauche sie nicht zu lesen, sagt Karla Jenner, denn sie könne sich denken, was Gudrun geschrieben habe, und das alles interessiere sie nicht mehr.

Ich habe mich vor vielen Jahren entschieden, dass ich sie nicht mehr in meinem Leben haben will.

„Lassen Sie mir den Brief hier, damit Sie ihr später mit gutem Gewissen sagen können, dass Sie ihn übergeben haben. Ich werde Ihnen nicht verraten, was ich damit mache, dann müssen Sie auch nicht lügen.“

Sterbefasten

Einige Zeit später überrascht Karla Jenner ihren Sterbebegleiter mit der Ankündigung, sie habe sich entschieden, „das Ganze ein wenig zu beschleunigen“.

„Ich habe die letzten Wochen durchaus zu schätzen gewusst. Inzwischen finde ich diesen Zustand allerdings nur noch lästig. Je besser meine Konstitution, umso länger zieht sich mein Sterben hin. Und mein Körper zeigt mir ziemlich deutlich, dass er auf normalem Wege nichts mehr aufnehmen will.“

Zwei Tage danach beginnt sie mit dem Sterbefasten: Sie trinkt nichts mehr und nimmt keine Nahrung mehr zu sich. Rona übernachtet nun bei ihr. Fred Wiener lernt, mit der Sterbenden im Einklang zu schweigen. Er begreift, dass ihr seine Gegenwart genug ist.

Als sie tot ist, steht er auf und öffnet das Fenster.

Phil schickt das Fotoalbum aus dem Jahr 1948, das er aus Karla Jenners Wohnung mitgenommen hat, ihrer Schwester Gudrun Feuser.

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Sterben. Tod. Das sind Tabuthemen. Susann Pásztor hat darüber den Roman „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ geschrieben. Er dreht sich um eine krebskranke Frau, die nur noch kurze Zeit leben wird, ihren Sterbebegleiter und dessen 13-jährigen Sohn. Karla Jenner-García ist eine starke, eigenwillige Frau, die früher ihrer Lieblings-Band Grateful Dead überall nachgereist war, eine Atheistin, die sich illusionslos dem Sterben fügt und ihre Würde bewahrt. Der geschiedene, allein erziehende Vater Fred Wiener stolpert unbeholfen in die Rolle des ehrenamtlichen Sterbebegleiters hinein, löst durch Fehleinschätzungen und eine gutgemeinte Überraschungsaktion einen Eklat aus, versteht jedoch am Ende, was von ihm erwartet wird. Sein Gedichte schreibender Sohn Phil ist zwar ein Einzelgänger, spürt jedoch, worauf es ankommt.

„Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ ist keine tiefschürfende intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Sterben, aber Susann Pásztor vermittelt uns aus eigener Erfahrung als ehrenamtliche Sterbebegleiterin anschauliche, gut beobachtete Eindrücke aus der Sicht der Romanfiguren. Kapitelweise wechselt sie zwischen den Perspektiven Karlas, Freds, Phils – und Gudruns, die vor vier Jahrzehnten aus dem Leben ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Karla verbannt wurde. Dabei reiht Susann Pásztor in den Kapiteln, die mit dem Namen der Sterbenden überschrieben sind, lediglich bruchstückhafte Gedanken aneinander. Beispiel:

Karla
otto verschont
gudrun vertraut
meiner kunst nicht vertraut
zweimal abgetrieben
mit dem fotografieren aufgehört
joaquín verlassen
chemo wider besseres wissen
weitere idiotische fehlentscheidungen vielleicht
sterbebegleiter engagiert
kinderarbeitgeberin geworden

Obwohl es ums Sterben geht, ist „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ keine deprimierende Lektüre. Dezent hat Susann Pásztor auch Humor und Tragikomik eingebaut. Und sie betont ermutigende Aspekte.

Der Titel bezieht sich auf die angebliche Gepflogenheit, nach dem Sterben eines Menschen das Fenster zu öffnen, damit die Seele des Toten ungehindert ins Freie kann. Auf jeden Fall ist damit ein Akt des Loslassens gemeint.

Den Roman „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ von  Susann Pásztor gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Heikko Deutschmann (ISBN 978-3-8398-1533-5).

Susann Pásztor wurde 1957 in Soltau als Tochter einer Deutschen und eines Ungarn geboren. Nach dem Studium der Kunst und Pädagogik begann sie als Illustratorin, Autorin und Übersetzerin zu arbeiten. Gleich mit ihrem Debütroman „Ein fabelhafter Lügner“ machte sie sich 2010 einen Namen. Ihr zweiter Roman trägt den Titel „Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts“ (2013). „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ ist ihr dritter Roman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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Durch das Aufeinanderprallen von Kulturen werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Beim Lesen des Buches "Fernreise daheim" spürt man die Neugier und Aufgeschlossenheit der Autorin gerade auch dem Fremden gegenüber. Brigitte Heidebrecht beobachtet das Geschehen mit Empathie und Respekt, abgewogen und humorvoll, manchmal erstaunt oder verblüfft, dann auch wieder befremdet oder frustriert. Ihre Miniaturen sind konkret und anschaulich, prägnant und schnörkellos. Die Lektüre ist unterhaltsam und weitet den Blick.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.