Judith W. Taschler : bleiben
Inhaltsangabe
Kritik
Paul, Juliane, Felix, Max, Juli 1994
Paul Dalberg stammt aus einer Wiener Juristenfamilie, und es war praktisch bereits bei seiner Geburt im Jahr 1965 für alle klar, dass er später einmal die Kanzlei seines Vaters übernehmen würde: Der Berufsweg war vorgezeichnet.
Mit 22 heiratete Paul eine gleichaltrige Frau namens Isabella. Das Paar bekam eine Tochter, Jade, die inzwischen mit ihrer Facharztausbildung in Pädiatrie begonnen hat. Jade war sechs Jahre alt, als die Eltern sich scheiden ließen.
Das geschah Anfang 1994.
Im Sommer desselben Jahres fährt Paul von Wien nach Rom. Im Zugabteil sitzen drei deutlich jüngere Mitreisende – Juliane, Max und Felix –, die sich vorher auch nicht kannten. Juliane stieg mit ihrem Cello in Innsbruck zu. Zum Abschied spielt sie den drei Männern auf dem Bahnsteig in Rom noch etwas vor, und Max zeichnet Skizzen aus verschiedenen Perspektiven von ihr.
Als der Maurersohn Max vier Jahre alt war, brachte ihn seine Mutter in ein Heim, um ihn endlich vor dem gewalttätigen Vater zu schützen. Mit 15 begann Max eine Ausbildung als Koch. Er bewährte sich in dem Beruf, aber seine eigentliche Liebe gilt der Malerei. Und so malt er denn auch in Rom die Cello-Spielerin nach den auf dem Bahnsteig angefertigten Skizzen.
Juliane wuchs in der Nähe von Innsbruck auf. Als 16-Jährige war sie mit ihrem noch in den Kindergarten gehenden Bruder Andreas im Schwimmbad. Um andere Jugendliche zu beeindrucken, sprang sie vom Zehn-Meter-Brett – und traf ihren Bruder am Kopf. Die Ehe der Eltern zerbrach nach dem Tod des Kindes, und Juliane leidet noch immer unter einem Schuldkomplex.
Felix‘ Mutter Anna starb 1990. Der Südtiroler Bergbauernbub war damals 16 Jahre alt und ging noch aufs Gymnasium. Sein drei Jahre älterer Bruder Mathias arbeitete bereits als Schlosser. Einige Zeit später öffnete Felix einen an seine Mutter gerichteten Brief aus Rom und erfuhr auf diese Weise von ihrer Beziehung mit Davide Bianchi.
Im Juli 1994 fährt Felix nach Rom, um sich mit Davide Bianchi und dessen Sohn Alessandro zu treffen und mehr über das Verhältnis seiner Mutter zu dem Römer herauszufinden.
Davide hatte Anna 1962 als nach Südtirol versetzter italienischer Finanzbeamter kennengelernt und ihr nach dem Tod ihres Vaters auf dem Hof geholfen. Aber als Vinzenz Hofmann, der als Sprengstoff-Schmuggler festgenommen worden war, im Februar 1967 aus dem Gefängnis kam, heiratete ihn Anna, und Davide kehrte nach Rom zurück. Obwohl er ebenfalls eine Familie gründete, war Anna seine große Liebe, und sie blieben in Kontakt.
Während der Zugfahrt nach Rom funkte es augenscheinlich zwischen dem 18-jährigen Felix und der zwei Jahre älteren Juliane, aber es ist Paul, der die junge Frau mit dem Cello drei Tage nach der Ankunft in Rom zwischen Spoleto und Assisi wiedertrifft. Sie wandern zusammen weiter. Juliane erzählt Paul, dass sie auf Wunsch ihrer Mutter ein Medizinstudium angefangen habe, aber lieber Cellistin als Ärztin werden wolle. Er ermutigt sie, zu ihm nach Wien zu ziehen und Musik zu studieren.
Juliane, 2014
Juliane folgte dem Rat ihres Begleiters und zog nach Wien. Als sie schwanger wurde, heirateten sie und Paul. Das Paar bekam 1998 die Tochter Emilia und sieben Jahre später den Sohn Leon. Aus der erträumten Karriere als Cellistin ist nichts geworden: Juliane gibt Musikunterricht. Paul hat inzwischen die Kanzlei seines Vaters in Wien übernommen.
Im Januar 2014 entdeckt Juliane das fast 20 Jahre zuvor in Rom entstandene Gemälde von ihr als Cello-Spielerin in einer Galerie. Es handelt sich um eine gemeinsame Ausstellung des Malers Max Bauer und des mit ihm eng befreundeten Fotografen und Designers Felix Hofmann unter dem Titel „TraveLust“. Felix lädt Juliane zum Abendessen ein, aber sie lehnt zunächst ab. Erst als sie kurz darauf ihren Mann mit dessen Ex-Frau Isabella bei einem augenscheinlich recht intimen Gespräch in einem Café sieht, überlegt sie es sich anders – und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit Felix.
Zwei Wochen später erfährt sie, dass Isabellas Eltern bei einem Verkehrsunfall während eines Urlaubs in Bulgarien ums Leben kamen und Paul seine Ex-Frau deshalb tröstete. Juliane schämt sich wegen ihres falschen Verdachts, aber sie kommt nicht mehr von Felix los.
Im Juli 2014 reist Felix für einige Wochen nach Indonesien. Juliane nimmt sich vor, das Verhältnis zu beenden, um ihre Ehe nicht länger zu gefährden, aber als er zurück in Wien ist und nichts von sich hören lässt, fühlt sie sich verletzt.
Paul, 2014/15
Kurz vor Weihnachten 2014 überrascht Felix Hofmann den neun Jahre älteren Rechtsanwalt Paul Dalberg in dessen Kanzlei. Jahrzehntelang hatten die beiden keinen Kontakt. Felix ist unheilbar an Lungenkrebs erkrankt, und weil er das auf die Dämmung seiner Wohnung mit Teerkork zurückführt, möchte er den Vermieter auf Schadensersatz verklagen. Das werde zwar sein Leben nicht verlängern, meint er, aber er könne seinen Erben etwas mehr hinterlassen.
Paul erschrickt, denn es handelt sich um die Wohnung, die er im Mai 1994 wegen der Scheidung von Isabella einem älteren Interessenten verkaufte, der sie an Studenten vermieten wollte. Von dem krebserregenden Teerkork hatte er zumindest etwas geahnt, aber er war dem Verdacht nicht nachgegangen und hatte ihn beim Verkauf absichtlich verschwiegen.
Abends erzählt er Juliane von Felix und dessen Erkrankung.
Als er seinen Mandanten aufsucht, weil er noch einige Unterschriften benötigt, fällt ihm ein wie ein Gemächt angerichteter Bananensplit auf, und er vermutet sogleich, dass das Dessert von Juliane stammt. Betrügt sie ihn mit Felix?
Er stellt sie nicht zur Rede, aber im Februar 2015 gesteht sie ihm die Affäre.
Felix, 2014/15
Nach seiner Indonesien-Reise im Sommer 2014 bestätigte sich der Verdacht: Felix leidet an einem NSCLC (Non-Small Cell Lung Cancer) im Endstadium.
Im Dezember überraschte Juliane ihn mit einem Besuch. Ihr Mann hatte ihr von Felix‘ unheilbarer Krankheit berichtet, ohne zu diesem Zeitpunkt etwas von der Affäre zu ahnen. Felix und Juliane setzten ihre Beziehung fort.
Ab März 2015 verschlechtert sich Felix‘ Zustand rapide, und er ist auf Krücken angewiesen. Im Mai muss er ins Krankenhaus, und im Juni wird er in ein Hospiz verlegt.
Paul gesteht ihm, dass er von dem krebserregenden Teerkork gewusst habe. Felix hat bereits durchschaut, dass die beträchtliche Geldsumme, die er inzwischen erhielt, nicht von der Witwe des Vermieters, sondern von Paul stammt.
In der Nacht auf den 28. Juni 2015 stirbt Felix im Beisein seines Bruders Mathias und dessen Frau Sabine sowie seiner Freunde Max und Juliane.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Der Roman „bleiben“ von Judith W. Taschler kreist um Weichenstellungen in der Biografie von Personen, die zufällig geschehen oder auf bewussten Entscheidungen basieren. Wie wäre das Leben verlaufen, wenn man einem bestimmten Menschen nicht begegnet wäre oder wenn man sich anders verhalten hätte? Beispielsweise bedauert Felix, dass er nicht mit Antonia in Südtirol eine Familie gründete.
Warum entwickelt sich ein Mensch so und nicht anders? Warum ist ein Leben so wie es ist und nicht anders? Was – oder wer – spielt dabei eine Rolle? (Judith W. Taschler in einem Interview)
Ein Zufall führt die vier Hauptfiguren des Romans „bleiben“ im Juli 1994 in einem Zugabteil zusammen. Der Hauptteil der Handlung spielt 20 Jahre später, als sich die Lebenswege erneut kreuzen. Nach und nach erfahren wir aber auch, was vor 1994 geschah.
Es geht in „bleiben“ um Themen wie Liebe und Freundschaft, Treue und Untreue, Schuldgefühle, Solidarität, Heimat, Lebensplanung, Verlust und Loslassen.
Judith W. Taschler lässt die vier Hauptfiguren abwechselnd zu Wort kommen, und zwar in einer ganz besonderen Weise: Jede von ihnen spricht mit einer anderen Person, aber wir hören bzw. lesen nicht, was diese sagt. Es handelt sich also um vier Dialoge, aber wir folgen nur den Stimmen von Paul, Juliane, Felix und Max. Das wirkt anfangs etwas hölzern oder konstruiert, entwickelt jedoch rasch einen besonderen Reiz, zumal sich die unterschiedlichen Perspektiven ergänzen.
Lass uns noch ein bisschen bleiben.
Mich würde es freuen, wenn ich heute Nacht nicht allein sein muss.
Ob meine Frau nicht auf mich wartet? Nein, das tut sie nicht, sie ist bei jemand anderem. Jetzt hast du aber überrascht geschaut! Wenn du willst, erzähle ich dir, wo sie ist und was sie dort macht. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich einmal darüber rede. Bevor es mich ganz auffrisst. […]
Ich freue mich, dass du es bist, der mir heute gegenübersitzt, und das ausgerechnet hier in dieser Bar. Ich war eine Ewigkeit nicht mehr hier! Und dann vor einem halben Jahr zum ersten Mal wieder. Mit dem Mann, bei dem meine Frau jetzt gerade ist.
In jener Nacht fand ich heraus, dass die beiden eine Affäre haben. […]
Möchtest du auch noch ein Bier? Ja?
Der Rechtsanwalt Paul spricht im Juni 2015 in einer Bar mit einem Jugendfreund, der vor längerer Zeit nach Sydney zog und zu Besuch in Wien ist. Pauls Ehefrau, die Cello-Lehrerin Juliane, erzählt ein halbes Jahr später (Dezember 2015) einer Jugendfreundin im Nachhinein, was geschah. Der Künstler Max wendet sich im September 2015 an eine junge Frau, während er sie nackt malt. Im Mai 2015 hören wir Felix zu, der mit einem Bettnachbarn im Krankenhaus redet. Judith W. Taschler hält sich in den 31 Kapiteln nicht an die Chronologie der Gespräche: Jeder der acht Durchgänge beginnt mit Paul (Juni), gefolgt von Juliane (Dezember), und Max (September) beschließt alle Runden. Felix (Mai), der jeweils zwischen Juliane und Max zu Wort kommt, fehlt beim letzten Mal. Keine der vier Romanfiguren dominiert. Max obliegt allerdings mehr die Rolle des Beobachters.
Dass es auf Seite 95 heißt, Felix‘ Mutter Anna sei 1991 gestorben, während an anderen Stellen 1990 als Todesjahr genannt wird (S. 131, S. 132), fällt nicht weiter ins Gewicht.
Judith W. Taschler hat „bleiben“ einem im Juni 2015 im Alter von 49 Jahren an Krebs gestorbenen Freund gewidmet, der zu ihr gesagt hatte: „Ich würde schon noch gern bleiben.“
Sowohl formal als auch inhaltlich handelt es sich bei „bleiben“ um einen eindrucksvollen Roman.
Die österreichische Schriftstellerin Judith W. Taschler debütierte 2011 mit dem Roman „Sommer wie Winter“. Es folgten „Die Deutschlehrerin“ (2013), „Roman ohne U“ (2014), „bleiben“ (2016) und „David“ (2017). Unter dem Titel „Apanies Perlen“ veröffentlichte Judith W. Taschler 2014 vier Erzählungen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Droemer Verlag
Judith W. Taschler: Die Deutschlehrerin
Judith W. Taschler: Roman ohne U