Oktoberrevolution
Nach der russischen Revolution von 1905, in der „Ära des Scheinkonstitutionalismus“ (1906 – 1917), hatte Ministerpräsident Pjotr Stolypin jegliche Opposition gegen das Zarenregime unterdrückt und Tausende von Verdächtigen hängen lassen („stolypinische Krawatte“). Sechs Attentate auf den russischen Regierungschef waren gescheitert, aber am 16. September 1911 erlag er den Schussverletzungen, die ihm vier Tage zuvor in einem Theater in Kiew zugefügt worden waren.
Am 30. Dezember 1916 wurde der „heilige Teufel“ Grigorij Rasputin (1871 – 1916) ermordet. Der sibirische Bauernsohn hatte sich als angeblich wundertätiger Mönch von 1905 an trotz seines skandalösen Lebenswandels das Vertrauen der Zarin erworben. Alexandra Fjodorowna (1872 – 1918), eine geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt und Enkelin der Königin Viktoria, hatte sich von Rasputin erhofft, dass er ihren Sohn Alexej von der Hämophilie befreien könne. Da sie ihrerseits den Zaren beherrschte, war es Rasputin gelungen, durch skrupellose Intrigen die (Personal-)Politik des Hofes maßgeblich zu beeinflussen.
Auch in Russland verlangte der Krieg von allen Gesellschaftsschichten große 0pfer, aber der Zar war nicht bereit, die Verfassung zu reformieren, wie es allgemein von ihm gefordert wurde. Wofür aber sollte das russische Volk kämpfen, wenn ihm alle demokratischen Rechte vorenthalten blieben?! Als die zuversichtlich begonnene Brussilow-Offensive Ende 1916 zusammenbrach, verbreitete sich eine defätistische Einstellung unter den Soldaten, und die Arbeiter in den Rüstungsbetrieben legten wiederholt die Arbeit nieder.
In Petrograd – so hieß Sankt Petersburg seit Kriegsbeginn – begann eine Streikbewegung, die zur Rebellion anschwoll. Soldaten, die dazu abkommandiert wurden, den Aufstand niederzuschießen, verbrüderten sich mit den demonstrierenden Arbeitern (Februarrevolution, 8. – 16. März 1917; nach russischem Kalender: 23. Februar – 3. März).
Als der Zar sich weigerte, die Duma einzuberufen, bildete diese am 12. März spätabends ohne seine Zustimmung ein Vollzugs-Komitee und setzte am 14. März eine provisorische Regierung unter dem liberalen Fürsten Gregori Jewgenjewitsch Lwow (1861 – 1925) ein. Im anderen Flügel des Taurischen Palastes versammelten sich am 12. März die Delegierten der inzwischen von den Belegschaften der Fabriken und Soldaten der Garnisonen in Petrograd gewählten Arbeiter- und Soldatenräte (Sowjets), konstituierten sich neben der Duma als revolutionäres Parlament und bildeten ebenfalls eine provisorische Exekutive.
Ohne sich mit der Duma-Regierung abzustimmen, trat der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat am 14. März für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen ein. Die russischen Soldaten forderte er in seinem Nachrichtenblatt („Iswestija“) auf, in allen Einheiten Komitees zu wählen und das Offizierskorps zu entmachten.
Am 15. März dankte Zar Nikolaus II. zugunsten seines Bruders Michail Alexandrowitsch ab, der seinerseits am Tag darauf erklärte, die Krone nur zu übernehmen, wenn eine konstituierende Nationalversamlung dies wolle.
Alexandr Fjodorowitsch Kerenski (1881 – 1970), der sowohl in der provisorischen Regierung Lwow als auch im Petrograder Sowjet mitarbeitete, vermittelte zwischen den rivalisierenden Institutionen im Taurischen Palast. Am 15. März verständigten sich diese darauf, dass der Zar abgesetzt sei; eine verfassunggebende Nationalversammlung wollten sie einberufen und bis dahin die von der Duma gebildete Regierung anerkennen.
Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1924) war 1907 erneut emigriert. 1912 hatte er sich mit den Bolschewisten endgültig von den Menschewisten getrennt, eine eigene Parteiführung gebildet und die „Prawda“ (Wahrheit) als offizielles Parteiorgan gegründet. Nach dem liberalen Umsturz im März 1917 brannte er darauf, die bolschewistische Revolution in Russland durchzuführen. Da man sich in Berlin von einer Fortsetzung der russischen Revolution eine militärische Entlastung an der Ostfront versprach, ermöglichte die deutsche Regierung es Lenin, im April 1917 mit dreißig Gefolgsleuten aus der Schweiz nach Skandinavien zu reisen. Während der Bahnfahrt durch Deutschland durfte die Gruppe allerdings mit niemandem Kontakt aufnehmen.
Am 16. April 1917 stieg Lenin am Finnischen Bahnhof in Petrograd aus dem Zug. Sogleich verlangte er von seinen Anhängern, alle Befugnisse dem Petrograder Sowjet zu übertragen („Alle Macht den Räten!“) und die provisorische Regierung nicht länger zu unterstützen (April-Thesen, 17. April 1917). Ein bolschewistischer Aufstand im Juli brach allerdings nach wenigen Tagen zusammen (16. – 20. Juli 1917). Lenin floh nach Finnland und hauste dort monatelang in einer primitiven Hütte.
Nachdem Außenminister Pawel Nikolajewitsch Miljukow am 9. April hatte verlauten lassen, dass er die Meerengen annektieren wolle, musste Fürst Lwow am 16. Mai seine Regierung umbilden. Der bisherige Justizminister Kerenski übernahm das Kriegsministerium. Als Lwow sich schließlich in Fragen der Agrarpolitik mit seinem Kabinett überwarf, trat er am 20. Juli selbst zurück und überließ Kerenski das Amt des Regierungschefs.
Wenn das Zarenregime beseitigt sei, so hatten die Russen gehofft, werde der Krieg in ihrem Land zu Ende gehen. Aber die provisorische Regierung schloss keinen Frieden, sondern ordnete neue Offensiven an (2. Brussilow-Offensive, 29. Juni – 7. Juli; Kerenski-Offensive, 31. Juli – 9. August). Dennoch drangen die Deutschen im Baltikum Anfang September weiter nach Osten vor. General L. G. Kornilow (1870 – 1918) gab Riga den Deutschen preis, denn der neue Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte wollte die russische Bedrängnis als Plattform für einen rechtsgerichteten Staatsstreich nutzen (Kornilow-Putsch, 9. September 1917).
Die Bolschewisten verschafften sich Waffen aus Rüstungsbetrieben und stellten eine „Rote Garde“ auf. Matrosen aus Kronstadt eilten nach Petrograd. Eisenbahner blockierten Züge mit Kornilow-Anhängern. Hilflos sah die provisorische Regierung zu, wie die äußerste Rechte und die extreme Linke um die Macht rangen. Kornilow unterlag und floh zu den Donkosaken nach Südrussland. Die Bolschewisten triumphierten; mit seinem Putschversuch hatte ihnen Kornilow den Weg zum Erfolg bereitet.
Am 23. Oktober 1917 kehrte Lenin heimlich nach Petrograd zurück, um mit den Bolschewisten die Macht zu ergreifen. Am Abend des 7. November (25. Oktober nach dem russischen Kalender) eröffnete der russische Panzerkreuzer „Aurora“ mit einem symbolischen Schuss auf das Winterpalais in Petrograd die Oktoberrevolution. In der Nacht besetzten Rotgardisten die strategischen Schlüsselpositionen in der Stadt. Kerenski floh. Ohne größeres Blutvergießen rissen die Bolschewisten die Herrschaft an sich.
Geführt wurden die Rotgardisten am 7. und 8. November von Leo Dawidowitsch Trotzki (1879 – 1940). Der geistige Führer des Petersburger Arbeitersowjets von 1905 war im Mai 1917 aus dem Exil zurückgekehrt, um an der Spitze des „Militär-Revolutionären Komitees“ die bolschewistische Machtergreifung vorzubereiten.
Am 7. November, spätabends, trat der Zweite Allrussische Sowjetkongress in Petrograd zusammen. Die menschewistischen und sozialrevolutionären Delegierten protestierten gegen die bolschewistische Machtergreifung
(„ein Verbrechen gegen das Vaterland und die Revolution“) und verließen den Sitzungssaal. Trotzki rief ihnen nach: „Eure Rolle ist ausgespielt, schert euch hin, wo ihr von nun an hingehört – auf den Kehrichthaufen der Geschichte!“ Die verbliebenen Abgeordneten schufen am 8. November als neues Regierungsorgan den „Rat der Volkskommissare“, wählten Lenin zu dessen Vorsitzenden und Trotzki als Kommissar für auswärtige Angelegenheiten. Der Sowjetkongress bot allen Krieg führenden Nationen einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen an („Dekret über den Frieden“, 8. November) und enteignete die Großgrundbesitzer („Dekret über Grund und Boden“, 8. November).
Die Bolschewisten liquidierten den alten Machtapparat der zaristischen und der bürgerlichen Regierungen und setzten am 21. Dezember 1917 eine „Außerordentliche Kommission“ (Tschrewytschajnaja Komisija; abgekürzt: Tscheka) ein, um konterrevolutionäre Bestrebungen zu unterdrücken.
Als die Russen am 8. Dezember 1917 eine verfassunggebende Nationalversammlung wählten, erhielten die Bolschewisten lediglich ein Viertel der Mandate. Am 18. Januar 1918 trat die Konstituante zusammen. Die Mehrheit der Versammelten wollte die Macht der Sowjetregierung durch eine neue Verfassung beschränken. Am folgenden Tag löste der Rat der Volkskommissare das Parlament auf; Rote Garden blockierten den Zugang zum Taurischen Palast und jagten protestierende Bürger auseinander.
Anstelle einer Nationalversammlung befand ein (Dritter) Allrussischer Sowjetkongress (23. – 31. Januar 1918) über die zukünftige Staatsform, gründete die „Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik“ und beschloss den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft unter der Diktatur des Proletariats („Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“).
Am 10. Februar 1918 annullierte der Rat der Volkskommissare die von zaristischen und bürgerlichen Regierungen aufgenommenen Staatsanleihen. Vier Tage später wurde der Gregorianische Kalender in Russland eingeführt. Am 6. März ließ Lenin seine Partei in „Russische Kommunistische Partei“ umbenennen. Die Sowjetregierung übersiedelte am 9. März aus dem zaristisch geprägten Petrograd in die alte russische Hauptstadt Moskau. Dort nahm der Fünfte Allrussische Sowjetkongress am 10. Juli 1918 eine sozialistische Verfassung an.
Von der Provisorischen Regierung hatten die russischen Bauern vergeblich Agrarreformen erhofft. Schließlich hatten sie begonnen, sich auf eigene Faust das Land der Gutsherren, der Kirche und des Staates anzueignen. Enttäuschend verlief auch die bolschewistische Agrarreform, die den privaten Landbesitz aufhob. Der Boden sollte neu und gerecht verteilt werden; jeder konnte ein Stück Land bestellen, solange er dies selbst, zusammen mit seiner Familie oder im Verein mit anderen tat und keine bezahlten Arbeitskräfte dabei einsetzte. Wenn aber nicht Millionen von Bauern aus dicht besiedelten Gebieten in einsamere Landesteile umgesiedelt werden sollten, blieben in vielen Gegenden die Äcker unwirtschaftlich klein, zumal der Hunger immer mehr Menschen aufs Land trieb.
© Dieter Wunderlich 2006
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