Gotik, gotische Kathedralen


Im Hoch- und Spätmittelalter breitete sich in Europa ein neuer Architekturstil aus. Giorgio Vasari führte dafür im 16. Jahrhundert den Begriff „Gotik“ ein, um ihn als barbarisch abzuwerten. Die Keimzelle der Gotik entstand, als Abt Suger von Saint-Denis [St. Denis ist heute eine Industrievorstadt im Norden von Paris] den Chor seiner aus dem 8. Jahrhundert stammenden Abteikirche, der Grabstätte der französischen Könige, 1137 bis 1144 erneuern ließ.

Die Gotik war der Stil ehrgeiziger Städte. Alles an den gotischen Stadtkathedralen scheint himmelwärts zu streben; vorbei war es mit dem ruhigen, erdgebundenen Stil der Romanik. Den halbkreisförmigen Bogen der Romanik löste der gotische Spitzbogen ab. Gotische Baumeister überwanden die Schwere:

Um das Gewicht der Gewölbe zu vermindern, konstruierten sie statt der massiven Tonnengewölbe zuerst nur ein Skelett aus Kreuzrippen und füllten anschließend den Raum dazwischen – der für die Statik bedeutungslos blieb – mit leichtem Material aus. Die seitwärts wirkenden Kräfte fingen sie durch ein im Freien stehendes Gerüst von Strebebogen und -pfeilern ab. So war es möglich, große Mauerabschnitte durch Fenster zu ersetzen. Weil das durch gewöhnliche Fenster hereinströmende Licht zu profan gewesen wäre, wurden bunte Glasfenster eingesetzt. Glasmalereien lösten die Fresken ab, für die auf den reduzierten Wandflächen ohnehin kein Platz mehr war. Ein besonderes Beispiel dafür ist die 1245 bis 1248 gebaute Sainte-Chapelle, eine Doppelkapelle auf der Ile de la Cité in Paris. Dem Besucher raubt es den Atem, wenn er die enge Wendeltreppe hinaufgeht und die lichterfüllte obere Kapelle betritt: Die 22 Meter hohen Wände bestehen fast ausschließlich aus fünfzehn 4 Meter breiten und 15 Meter hohen Glasfenstern, auf denen mehr als tausend biblische Szenen dargestellt sind.

Nachdem die Kathedrale von Chartres 1194 zum wiederholten Mal abgebrannt war, erhob sich aus den Trümmern im 13. Jahrhundert ein besonders stilreines und vollkommenes gotisches Bauwerk. Die beiden durch das Feuer nicht zerstörten Türme waren erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts vor die westliche Seite des Langhauses gesetzt worden. Nach dem Vorbild von Chartres erhielten auch die der Mutter Gottes geweihten Kathedralen von Amiens, Reims und Paris eine besonders reich gestaltete Westfassade mit zwei integrierten Türmen und drei Portalen, deren Gewände mit kunstvoll gearbeiteten Skulpturenreihen verziert sind. Darüber fällt jeweils eine mit filigranem Maßwerk verzierte Fensterrose auf.

In Deutschland, wo sich die Gotik nur zögernd verbreitete, wurde eine der ersten stilreinen, hochgotischen Kirchen 1235 bis 1285 in Marburg gebaut, um die Reliquien der hl. Elisabeth aufzunehmen. (Die Bauarbeiten an den beiden 80 Meter hohen Türme dauerten bis 1330.) Es handelte sich um eine Hallenkirche, eine besonders in Deutschland (und hier vor allem in Westfalen) in vielen Fällen bevorzugte Bauweise, bei der – im Gegensatz zur Basilika – alle Schiffe gleich hoch und mit einem einzigen Dach gedeckt sind. Glücklicherweise konnte das ursprüngliche Aussehen der Elisabethkirche in Marburg bis heute bewahrt werden.

Literatur über die Gotik

  • Margit Becker: Gotischer Kirchenbau. Ein fächerverbindendes Stationenlernen
    (2003, ISBN: 3937060006)
  • Uwe A. Oster (Hg.): Die großen Kathedralen. Gotische Baukunst in Europa
    (2003; ISBN: 3896782401)
  • Rolf Toman und Achim Bednorz: Gotik (2005, ISBN: 3833110384)

© Dieter Wunderlich 2005

Kölner Dom
Romanik

Hermann Ungar - Die Verstümmelten
Der Titel "Die Verstümmelten" bezieht sich nicht nur auf den beinamputierten einarmigen Karl Fanta, sondern auch auf die anderen Figuren, die allesamt seelisch verkrüppelt sind. Als der Roman "Die Verstümmelten" 1923 veröffentlicht wurde, galt er als skandalös. Inzwischen wirkt er wie aus der Zeit gefallen, aber die Lektüre lohnt sich, weil Hermann Ungar mit dem Albtraum fernab vom Mainstream bleibt.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.