Rosemarie Nitribitt


Rosemarie Nitribitt wuchs in prekären Verhältnissen auf. Mit 20 Jahren nahm sie sich vor, aus dem armseligen Leben auszubrechen. Zielstrebig stilisierte sie sich in Frankfurt a. M. zur Edelhure. Sie war gerade einmal 24 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Das Verbrechen löste 1957 einen Skandal aus, vor allem, weil die Bundesbürger aus der Zeitung erfuhren, dass sich durch Prostitution sehr viel mehr verdienen ließ als mit harter Arbeit.

Tabellarische Biografie: Rosemarie Nitribitt


Rosemarie Nitribitt:
»Irgendwann schlägt mir noch einer den Schädel ein«

Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: Unerschrockene Frauen. Elf Porträts
Piper Verlag, München 2013

Am 1. November 1957 machte Rosemarie Nitribitts 47-jährige Zugehfrau Erna Krüger einen Nachbarn darauf aufmerksam, dass sie seit Tagen nichts von ihr gehört hatte, was ungewöhnlich war, weil sie auch privat miteinander verkehrten. Da niemand öffnete, aber der Pudel in der Wohnung jaulte und bereits drei Tüten mit Frühstücksbrötchen vor der Tür lagen, alarmierte der Nachbar gegen 17 Uhr die Polizei. Zwei Streifenbeamten ließen die nur zugezogene, nicht abgesperrte Tür daraufhin von einem Schlosser öffnen und fanden die 24-Jährige tot im Wohnzimmer. Rosemarie Nitribitt war ungeschminkt und trug ein anthrazitfarbenes Kostüm, dessen Rock bis über den Schritt hochgerutscht war. Nase und Mund der auf dem Teppich vor der Couch auf dem Rücken liegenden Leiche waren blutverkrustet. Rosemarie Nitribitt scheint sich den Hinterkopf während eines Kampfes bei einem Sturz gegen eine Sessellehne aufgeschlagen zu haben und dann erwürgt worden zu sein. Seltsamerweise hatte der Mörder ein Frottierhandtuch unter ihren Kopf gelegt, um das Blut aufzufangen. Weil die Fußbodenheizung voll aufgedreht war, roch es unerträglich nach Verwesung, und die Beamten rissen deshalb die Fenster auf – allerdings ohne zuvor die Raumtemperatur gemessen zu haben. Deshalb konnten die Gerichtsmediziner später den genauen Todeszeitpunkt nicht mehr feststellen. Polizei und Staatsanwaltschaft gingen schließlich davon aus, dass Rosemarie Nitribitt am späten Nachmittag des 29. Oktober ums Leben gekommen sei.

Aber es gab noch mehr Pannen bei den Ermittlungen. Bevor beispielsweise mit der Spurensicherung begonnen wurde, hatten schätzungsweise 20 Personen das Apartment betreten. Polizisten und Journalisten rauchten und warfen die Kippen aus dem offenen Fenster. Einige davon blieben auf einem Mauervorsprung liegen. Erst nach einiger Zeit kam ein Kriminalbeamter auf die Idee, dass auch der Mörder geraucht haben könnte und die Kippen deshalb sichergestellt werden sollten. Ungehindert aß die Zugehfrau einige der übrig gebliebenen Frühstücksbrötchen und warf den Rest weg. Tagelang fahndete die Polizei nach dem Besitzer eines im Wohnzimmer sichergestellten Herrenhuts – bis sich herausstellte, dass er dem Leiter der Mordkommission gehörte, der ihn versehentlich liegen gelassen hatte. »Auch noch 50 Jahre nach dem Mord sei man in Frankfurter Polizeikreisen beschämt, wie dilettantisch die Ermittlungen abgelaufen sind, verrät ein Ermittler, der nicht genannt werden möchte.« […]

Während Rosemarie Nitribitt zu Lebzeiten nur in gewissen Kreisen bekannt gewesen war, machten die Medien sie nun über Nacht in ganz Deutschland zur Berühmtheit. Wochenlang beherrschte sie die Titelseiten, denn von dem Skandal

Dieter Wunderlich: Unerschrockene Frauen. © Piper Verlag 2013

versprach sich vor allem die Boulevard-Presse höhere Auflagenzahlen. […] Die meisten Deutschen waren trotz des Wirtschaftswunders von den Entbehrungen der Nachkriegsjahre geprägt und mussten für ihren Lebensunterhalt hart arbeiten. Sie staunten daher nicht schlecht, als sie aus der Zeitung erfuhren, wie viel Geld sich mit »Unmoral« verdienen ließ und welchen Luxus eine Prostituierte sich leisten konnte. Während der durchschnittliche Monatsverdienst in der Bundesrepublik damals um die 400 D-Mark betrug, nahm Rosemarie Nitribitt allein in den zehn Monaten vor ihrem Tod schätzungsweise 90 000 D-Mark ein. Die Medien wiesen auf ein in Leder gebundenes Notizbuch der Edelhure hin, in dem angeblich 100 Namen verzeichnet waren, und vermittelten in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass Prominente unter den Freiern gewesen seien. […] War die Führungsschicht der Nachkriegsgesellschaft dekadent? Der Fall entwickelte sich zum Skandal, und weil der Inhalt des Notizbuches unter Verschluss blieb, blühten die Spekulationen.

Leseprobe aus Dieter Wunderlich: Unerschrockene Frauen. Elf Porträts

© Piper Verlag, München 2013
Quellenangaben und Fußnoten wurden in dieser Leseprobe weggelassen, sind jedoch im Buch zu finden. Zitat:
Nina Jauker: »Die Schande der Ära Adenauer«, Süddeutsche Zeitung, 27. Oktober 2007

Rosemarie Nitribitt (tabellarische Biografie)

Daniel Kehlmann - Der fernste Ort
"Der fernste Ort" wirkt einfach – aber als Ergebnis einer ausgeklügelten Komposition, in der Daniel Kehlmann meisterhaft die Balance zwischen Wirklichem und Vorgestelltem hält und die Zeitebenen wechselt.
Der fernste Ort

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.