Eleonora Duse


Im 19. Jahrhundert wetteifern zwar die Fürsten mit ihren Hoftheatern, aber daneben gibt es immer noch vagabundierende Komödianten, die auf Marktplätzen und in Gasthäusern auftreten und dafür Essen und Quartier bekommen. Alessandro Vincenzo Duse leitet eine dieser Truppen.

Seine Ehefrau Angelica Appelletto, wird am 3. Oktober 1858 in einem Hotelzimmer in Vigevano südwestlich von Mailand von einer Tochter entbunden, die am übernächsten Tag auf den Namen Eleonora getauft wird.

Eleonora steht schon als Vierjährige neben den Eltern auf der Bühne. Im Alter von zwölf Jahren springt sie für ihre schwindsüchtige Mutter ein. Mit fünfzehn spielt sie in der Arena von Verona die weibliche Hauptrolle in »Romeo und Julia«. Zwei Jahre später erliegt ihre Mutter ihrer jahrelangen Lungenerkrankung.

Mit einundzwanzig verliebt sie sich in den achtunddreißigjährigen Journalisten Martino Cafiero, der sie schwängert und dann verlässt. Der Sohn stirbt 1880 bald nach der Geburt. Halt findet sie wieder bei Tebaldo Checchi, einem vierzehn Jahre älteren Kollegen, den sie am 7. September 1881 heiratet. Genau vier Monate später wird sie von ihrer Tochter Enrichetta entbunden. Wegen einer Erkrankung der Mutter muss der Säugling zunächst bei einer Pflegefamilie untergebracht werden.

Ende Februar ist Eleonora Duse wenigstens in der Lage, einen Auftritt der weltberühmten Schauspielerin Sarah Bernhardt in Turin mitzuerleben. Die vierzehn Jahre ältere Französin beeindruckt ihr Publikum durch ein eher manieristisches Agieren auf der Bühne, setzt sich aber auch außerhalb des Theaters effektvoll in Szene – nicht zuletzt durch exaltierte Temperamentsausbrüche und den ständigen Wechsel ihrer Liebhaber. Wie der Stauferkaiser Friedrich II. weiß sie um die Wirkung einer exotischen Menagerie und führt zum Beispiel in London ihren Panther spazieren. Alfred Kerr schreibt über sie: »Die Frau ist gefallsüchtig bis in die Fingerspitzen.«

Eleonora Duse besteht nun darauf, die »Kameliendame« von Alexandre Dumas dem Jüngeren zu spielen, die Glanzrolle Sarah Bernhardts. Wegen der Vergleichsmöglichkeit hält Cesare Rossi, der Leiter der Schauspielertruppe, der die ehrgeizige Italienerin seit 1880 angehört, dies für zu riskant. Aber nach ihrem ersten Auftritt in dieser Rolle am 10. Januar 1883 in Turin triumphiert Eleonora Duse: Sie wirkt zwar weniger frivol als Sarah Bernhardt, aber das Leid der Protagonistin stellt sie mindestens ebenso ergreifend dar.

Im Gegensatz zu Sarah Bernhardt bevorzugt Eleonora Duse sparsame Gesten und zurückhaltende Posen. Bewusst ignoriert sie schauspielerische Konventionen, die ihr nicht entsprechen, auch wenn sie damit das Publikum irritiert. In einem Brief klagt sie: »Nach den Regeln muss man in bestimmten Situationen die Stimme erheben, sich übertrieben benehmen.

Doch, wenn ich heftige Leidenschaft ausdrücken muss, wenn ich von Freude oder Leid ganz ergriffen bin, werde ich oft stumm, und auf der Bühne spreche ich leise, flüstere kaum.« Die Schauspielkunst hält sie weder für erklär- noch erlernbar, denn sie ist überzeugt, dass es sich dabei um eine angeborene Begabung handelt: »Wer sich anmaßt, Kunst zu lehren, versteht überhaupt nichts davon.« Sie analysiert die Charaktere nicht, die sie spielt, sie überlegt nicht, wie sie etwas darstellt, sondern sie identifiziert sich mit der Rolle. Dann wird die kleine und unauffällige Frau groß, jünger oder älter, schön oder hässlich – ganz wie die dargestellte Figur es verlangt. Sie vermag sogar zu erblassen und zu erröten. »Man glaubt ihr die launische Grazie des verzogenen Kindes und die zuckende Leidenschaft der verblühten Frau«, wird Hugo von Hofmannsthal später schwärmen.

Der sizilianische Schriftsteller Giovanni Verga bietet Cesare Rossi Ende 1883 das Volksstück »Cavalleria rusticana« an. Rossi zögert, aber Eleonora Duse begeistert sich dafür, und sie behält Recht: Die Uraufführung am 14. Januar 1884 in Turin wird ein großer Erfolg, nicht zuletzt wegen Eleonora Duse in der Rolle des Bauernmädchens Santuzza. Nach der Aufführung am 11. Mai 1884 in Mailand lädt der Bürgermeister die Schauspielertruppe zu einem Essen ein. Bei dieser Gelegenheit begegnen sich Eleonora Duse und der berühmte Librettist, Dramatiker, Komponist, Übersetzer und Theaterkritiker Arrigo Boito zum ersten Mal.

Anfang April 1885 reist Cesare Rossi mit seiner Theatertruppe zu einer Tournee durch Südamerika. Dort verliebt die Primadonna sich in ihren Partner Flavio Andò und trennt sich von ihrem Ehemann. Tebaldo Checchi, der sie liebevoll umsorgt hat, leidet sehr unter der Trennung. Er verlässt die Compagnie, und statt nach Italien zurückzukehren zieht er es vor, sich in Argentinien eine neue Existenz als Journalist aufzubauen.

Eleonora Duse verlässt nicht nur ihren Mann, sondern Ende 1886 auch Cesare Rossis Truppe und gründet mit Flavio Andò die »Compagnia della Città di Roma«. Das überanstrengt sie so, dass sie sich auf Anraten ihres Arztes für einige Zeit mit ihrer Tochter zur Erholung nach Varazze am Golf von Genua zurückzieht.

Als Eleonora Duse am 11. Februar 1887 im Mailänder Theater Manzoni in einer Komödie von Carlo Goldoni auftritt, sitzen Arrigo Boito und Giuseppe Verdi im Publikum. Die Achtundzwanzigjährige und der sechzehn Jahre ältere Dichter verlieben sich. Boito besucht die Schauspielerin auch wenn sie – was häufiger geschieht – krank ist und nicht auftreten kann. Das muss heimlich geschehen, denn Tebaldo Checchi verweigert die Ehescheidung und im Fall eines Skandals müsste Eleonora Duse damit rechnen, das Sorgerecht für ihre Tochter zu verlieren. Arrigo Boito erweist sich als ebenso wohlmeinender wie kompetenter Berater und hilft seiner Geliebten, die als Komödiantenkind nie regelmäßig zur Schule ging, zu einer Vertiefung besonders ihrer literarischen Bildung.

1889/90 tritt Eleonora Duse mit ihrer Theatertruppe unter anderem in Alexandria, Kairo, Barcelona und Madrid auf. Es ist der Beginn ihrer internationalen Karriere.

Am 9. Februar 1891 wird erstmals in Italien ein Bühnenstück von Henrik Ibsen aufgeführt: Eleonora Duse spielt die Titelrolle in »Nora oder Ein Puppenheim«.

Einige Wochen später reist Eleonora Duse nach St. Petersburg, wo Anton Tschechov so begeistert von ihrer Schauspielkunst ist, dass er seiner Schwester schreibt: »Welch eine wunderbare Schauspielerin! Ich habe noch nie zuvor etwas Gleichartiges gesehen.« Von November 1891 bis September 1892 spielt sie erneut in St. Petersburg. Dort erfährt sie, dass ihr Vater – der die Schauspielerei mit der Malerei vertauscht hatte – am 11. Januar 1892 in Venedig gestorben ist.

Weder der österreichische Schriftsteller und Theaterkritiker Hermann Bahr (1863 – 1934) noch der Schauspieler Josef Kainz (1858 – 1910) haben etwas von Eleonora Duse gehört, bevor sie im Winter 1891/92 in St. Petersburg auf sie aufmerksam werden. Auf Bahrs Lobeshymne in der »Frankfurter Zeitung« hin engagiert ein Wiener Theateragent die Italienerin für vier Vorstellungen im Carl-Theater. Die erste Aufführung findet am 20. Februar 1892 vor einem halb leeren Haus statt; dann aber reißen sich die Menschen um die Karten, und die Duse wird im Mai und im Oktober erneut nach Wien eingeladen. Josef Kainz sorgt dafür, dass sie im folgenden Winter auch am Lessing-Theater in Berlin spielt.

1893 tritt sie nicht nur in Wien, Budapest, Berlin und Hamburg auf, sondern auch in New York, Chicago, Boston und Philadelphia. Der New Yorker Theaterdirektor Albert M. Palmer schärmt von ihr: »Frau Duse ist die größte Schauspielerin, die ich jemals gesehen habe, wobei ich die Bernhardt nicht ausnehme. […] Ich habe nicht geglaubt, dass man auf der Bühne zu solch einer Natürlichkeit gelangen könne. Die Duse vermittelt die vollkommene Illusion, und sie verkörpert die Gestalten in atemberaubendem Realismus.«
Einem amerikanischen Reporter gegenüber bezeichnet sie sich als Sklavin ihrer Eigenart, die es ihr nicht erlaubt, auf der Bühne nur zu spielen, sondern sie zwingt mit den dargestellten Figuren zu leiden. Eleonora Duse verausgabt sich. Die Erschöpfung geht mit Depressionen einher. In diesen Phasen klagt sie über die Strapazen und zweifelt an ihrem Beruf. Doch um aufhören zu können, fehlen ihr die finanziellen Rücklagen. Wegen ihres angeschlagenen Gesundheitszustands lässt sie in den USA mehrere Vorstellungen ausfallen und muss deshalb bei den folgenden in Chicago die Preise verdoppeln, um ihre Kosten zu decken. Das bringt ihr viel Kritik ein. Obwohl ihr die Aufdringlichkeit der Journalisten missfällt, lässt sie sich immer wieder auf Interviews ein, weil sie um den Wert der Publicity weiß. Doch anders als Sarah Bernhardt schirmt sie sich bei jeder Gelegenheit von der Öffentlichkeit ab, benützt Nebenein- und -ausgänge und meidet Restaurants, denn sie leidet unter dem Rummel.
Von einem russischen Maler mietet sie das oberste Stockwerk eines Palazzos in Venedig, aber sie findet nur selten Gelegenheit, sich dort zu erholen. In Venedig verliebt sie sich einige Tage vor ihrem 37. Geburtstag in den fünfeinhalb Jahre jüngeren Dichter Gabriele D’Annunzio. Nach wenigen Wochen müssen sie sich vorübergehend trennen, weil Eleonora Duse Ende 1895 in Österreich, Dänemark und Schweden gastiert und nach einem kurzen Wiedersehen Anfang 1896 zu einer monatelangen Tournee in die USA reist.

Auf Einladung Sarah Bernhardts spielt Eleonora Duse am 15. Juni 1897 erstmals in Paris, in einem Stück, das ihr Geliebter eigens für diesen Anlass schrieb.

Im Sommer 1897 mietet Eleonora Duse statt des Palazzos in Venedig »ein altes Haus unter Oliven« in Settignano bei Florenz. Gabriele D’Annunzio folgt ihr im folgenden Jahr und bezieht mit seiner Dienerschaft einen Palazzo in der Nachbarschaft.
Obwohl ihr D’Annunzios handlungsarme Bühnenstücke kaum eine Möglichkeit lassen, ihr schauspielerisches Können zu beweisen, weil seine Figuren mehr Masken als Charaktere sind, versucht Eleonora Duse mit missionarischem Eifer, sie populär zu machen. Sie setzt ihre eigene Zugkraft aufs Spiel und stürzt sich für die Ausstattung seiner Stücke in horrende Schulden. Vergeblich träumt sie davon, mit ihm Gesamtkunstwerke zu schaffen und für deren Aufführung ein eigenes Festspielhaus zu bauen.

Gabriele D’Annunzio dankt es ihr nicht: In seinem im März 1900 veröffentlichten pathetischen Roman »Il fuoco« (»Die Romane des Granatbaum-Feuers«) stellt er die Protagonistin Foscarina, in der unschwer die Duse zu erkennen ist, als alternde Geliebte eines gefeierten jungen Dichters dar, die auf ihn verzichtet, damit er sich auf seine künstlerische Berufung konzentrieren kann.
Ungeachtet der Depressionen, die D’Annunzios egomanische Darstellung bei ihr auslöst, tritt die Duse bei einer Tournee durch die USA von Oktober 1902 bis Januar 1903 mit einer einzigen Ausnahme in Schauspielen ihres Geliebten auf. Doch es gelingt ihr nicht, das amerikanische Publikum dafür zu begeistern.

Ein Jahr später bittet Eleonora Duse darum, die Uraufführung von D’Annunzios Drama »La figlia di Jorio« (»Die Tochter Jorios«) zu verschieben. Der Dichter – über dessen neue Liebesaffäre mit einer siebenundzwanzigjährigen Witwe die italienischen Zeitungen berichten – lässt sich nicht darauf ein, vertraut die Hauptrolle einer jungen Schauspielerin an und lässt die von seiner krank in einem Hotel in Genua liegenden früheren Geliebten bezahlten Kostüme abholen. Nach der erfolgreichen Uraufführung am 2. März 1904 in Mailand bejubelt D’Annunzio sich in einem Telegramm an Eleonora Duse. Sie reagiert darauf mit einem Abschiedsbrief, und als er sich schriftlich zu rechtfertigen versucht, teilt sie ihm mit, sie wolle nichts mehr von ihm hören und werde nie wieder in einem seiner Theaterstücke auftreten.

Nach ihrer Trennung von Gabriele D’Annunzio entdeckt Eleonare Duse die Bühnenstücke des Norwegers Henrik Ibsen für sich. Während einer Tournee durch Dänemark, Schweden und Norwegen im Frühjahr 1906 beabsichtigt sie, ihn zu treffen, aber dazu kommt es nicht, denn er ist schwer krank und stirbt am 23. Mai.

Die mit Eleonora Duse befreundete amerikanische Tänzerin Isadora Duncan macht den Theaterstar mit dem englischen Bühnenbildner Edward Gordon Craig (1872 – 1966) bekannt, der anstelle pseudorealistischer Dekorationen architektonische Stilisierungen setzt. Mit ihm arbeitet die Duse bei der Ausstattung von Ibsen-Dramen zusammen. Doch bereits im Februar 1907, nach einem Eklat in Nizza über ein von Eleonora Duse während seiner Abwesenheit geändertes Bühnenbild, kommt es zum Bruch zwischen den beiden exzentrischen Künstlern.

Durch die Einnahmen aus ihrer Südamerika-Tournee im Herbst 1907, ihren Gastspielen in St. Petersburg und Moskau im Winter sowie zahlreichen Auftritten in Frankreich, Ungarn, Österreich und Deutschland davor und danach verfügt sie über ein Vermögen, das sie ermutigt, sich im Alter von fünfzig Jahren am 25. Januar 1909 in Berlin von der Bühne zu verabschieden.

Nach ihrem Rückzug ins Privatleben entdeckt die gefeierte Bühnenschauspielerin das Kino. Im Juli 1916 beginnen die Dreharbeiten für die Verfilmung des Romans »Cenere« (»Asche«) von Grazia Deledda (1871 – 1936) unter der Regie von Arturo Ambrosio und Febo Mari. Das Drehbuch hat Eleonora Duse zusammen mit Febo Mari geschrieben, mit dem sie nun auch als Hauptdarstellerin vor der Kamera steht. Mit diesem Ausflug ins Stummfilmgeschäft ist ihr allerdings kein Erfolg vergönnt.
Nach dem Ersten Weltkrieg, im Mai 1919, reist Eleonora Duse erstmals zu ihrer von Pflegeeltern und später in französischen, deutschen und englischen Internaten erzogenen Tochter, die seit 1908 in Cambridge mit einem Mathematikprofessor verheiratet ist und inzwischen zwei Kinder hat. Aber nicht erst nach einigen Monaten, sondern bereits nach sieben Wochen kehrt Eleonora Duse nach Italien zurück, weil sie das englische Klima nicht verträgt.

Aus finanziellen Gründen kehrt die Duse am 5. Mai 1921 in Turin mit Henrik Ibsens Stück »Die Frau vom Meere« auf die Bühne zurück. Das Publikum im ausverkauften Teatro Balbo feiert sie mit Blumen und frenetischem Applaus. Nach Gastspielen in Wien und London tritt die Fünfundfünfzigjährige ab 29. Oktober 1923 noch einmal fünf Wochen lang in New York und danach in Baltimore, Philadelphia, Washington, Boston, Chicago, New Orleans, Los Angeles, San Francisco und Detroit auf. Erschöpft trifft sie am 1. April in Pittsburgh ein, wo sie an einer Lungenentzündung erkrankt.

Am 21. April 1924, kurz nach zwei Uhr nachts, richtet sie sich in ihrem Hotelbett auf und herrscht ihre beiden Zofen an: »Was steht ihr da und tut nichts? Wir fahren gleich ab.« Ein Schüttelfrost wirft sie zurück. Sie stirbt.

© Dieter Wunderlich 2003

Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage
"Die hellen Tage" handelt von Lüge, Vernachlässigung und Freundschaft, Verlust, Trauer und Loslassen. Der Roman von Zsuzsa Bánk zeichnet sich durch eine ganz besondere, etwas märchenhafte, mit Symbolen aufgeladene Atmosphäre aus.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.