Kristín Steinsdóttir : Eigene Wege
Inhaltsangabe
Kritik
Reykjavik 2004. Die sechsundsechzigjährige Witwe Siegtrud Kristbjörg Ólafsdóttir begnügt sich mit dem bisschen Geld, das sie jeden Morgen von Montag bis Samstag als Zeitungsausträgerin verdient. Was sie danach unternimmt, überlegt sie bei der Lektüre der Zeitung Morgunblaðið. An manchen Tagen muss sie regelrecht Prioritäten setzen. Sie mischt sich in der Kirche unter Trauergäste und greift beim Leichenschmaus zu. Vielleicht tut sie auch so, als sei sie am Kauf eines Hauses interessiert, um Kaffee und Kekse zu bekommen. Oder sie geht zu einer Vernissage, bei der Champagner angeboten wird. Aber auch wenn es weder etwas zu essen noch zu trinken gibt, besucht sie Lesungen, Fotoausstellungen, Konzerte und Museen an den Tagen, an denen kein Eintritt verlangt wird.
Ansonsten hängt Siegtrud ihren Erinnerungen nach. Dazu angeregt wird sie vom Inhalt eines Koffers, der ihrer Mutter Petrína Magnúsdottir gehört hatte. Er enthält unter anderem einen französischen Schal, einen Bildband über Frankreich und ein Foto ihres Großvaters Magnús Pétursson, von dem sie annimmt, dass er aus Frankreich stammt. Schon als Kind liebte Siegtrud diesen Koffer. Manchmal räumte sie ihn aus, legte sich hinein und stellte sich vor, als einziges Kind in Frankreich zu leben.
Siegtruds früheste Erinnerungen drehten sich um ihre Ziehmutter Hallfríður, die alte Hausherrin von Hafnir. Siegtrud war immer bei ihr und schlief mit ihr in einem Bett. Wenn sie zurückblickte, fiel ihr Hallfríður als Erste ein, aber auch die Kinder des Hofes tauchten auf, besonders Ragnheiður, die genauso alt war wie sie. Ragnheiðurs ältere Brüder waren Flegel, aber nicht gemein. Die junge Hausherrin, Hallfríðurs Tochter Margrét, lächelte immer müde, und dann war da noch der Bauer. Mägde und Knechte kamen und gingen. (Seite 12)
Ihre Mutter, die als Magd auf einem Bauernhof in Hafnir gearbeitet hatte, war 1938 bei Siegtruds Geburt im Alter von zweiundzwanzig Jahren gestorben. Die verwitwete Hebamme Hallfríður, die auch den Hof bewirtschaftete, zog Siegtrud auf. Sie erzählte ihr von ihrer Mutter und den Großeltern; nur über den Vater wollte sie nicht sprechen. Als die aus Vopnafjörður stammende Großmutter Kristbjörg Björgvinsdóttir mit ihrem Verlobten Magnús Pétursson im Winter 1915/16 auf dem Weg von Svalbarð zur Halbinsel Melrakkaslétta war, gerieten die beiden in einen Schneesturm. Magnús starb dabei. Seine im fünften Monat schwangere Verlobte überlebte und gebar dann auf Melrakkaslétta ihre Tochter Petrína.
Im Alter von acht Jahren kam Siegtrud in ein Internat. Von ihren Mitschülern wurde sie wegen ihres roten Haars gehänselt, vor allem aber, weil die Finger ihrer linken Hand wie zu einer Art Flosse zusammengewachsen waren.
Einer der Jungen behauptete, sie habe eine Seehundflosse, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft Seehundkopf gegessen habe. Ein anderer widersprach und sagte, dann müsse Siegtrud einen Seehundkopf haben. Ein dritter sagte, sie hätte doch einen Seehundkopf, und alle Kinder lachten. Siegtrud massierte die Flosse und versuchte zu lächeln, dachte, das würde es besser machen, aber das Lächeln wurde zur Grimasse. (Seite 51)
Nach dem Schulbesuch fand Siegtrud Arbeit bei dem Bauern Grímur und seiner Frau Anna in Hraunsnes. Im Sommer 1955 jobbte dort auch der zwei Jahre ältere Gymnasiast Kjartan Ásbergsson, ein Neffe Grímurs.
Kjartan war anders als alle anderen, die sie kannte, schlank und zartgliedrig, mit Pomade im blonden Haar. Er hatte eine dunkle Hornbrille und hätte am liebsten Jackett und Krawatte getragen, wurde jedoch in Arbeitshemd und Pullover gezwängt. Wenn er wollte, konnte er tüchtig sein. Er sagte, sie sei der einzige intelligente Mensch auf dem Hof, und verstand nicht, wie ein Mädchen wie sie dort leben konnte. Er baute Wolkenschlösser und malte sie ihr aus, wollte ins Ausland, Wissenschaftler werden und Entdeckungen machen, die die Welt verändern würden. Er hielt ihr Vorträge über Atomkraft und die Revolution der Entdeckung der Kernenergie. Sagte, die Möglichkeiten seien unerschöpflich.
Siegtrud wurde von einem Glücksgefühl gepackt und sang bei der Arbeit lauthals. Noch nie hatte jemand so mit ihr geredet wie Kjartan […]
Sie wusste, dass sie Kjartan die kalte Schulter zeigen musste, wenn er zudringlich wurde, wusste, dass ein ehrbares Mädchen auf den Richtigen warten sollte, doch sie konnte es nicht. Als der Moment kam, war er sanft und gut. Es war lange her, dass jemand sie umarmt hatte, und sie erstickte die Gewissensbisse, wollte nur, dass er nicht aufhörte, sie zu umarmen und zu streicheln. Sehnte sich nach zärtlichen Liebkosungen und hoffte, der Sommer möge endlos sein. (75ff)
Der Onkel schickte den Jungen nach einem heftigen Streit zu seinen Eltern zurück. (Kjartan wurde im Januar 1971 in Deutschland von einem Zug überfahren.)
Einige Zeit später merkte Siegtrud, dass sie schwanger war. Als die Wehen einsetzten, telefonierte Anna nach dem Arzt, aber der war unterwegs. Das Kind, das Siegtrud im Februar 1956 gebar, war tot, aber sie vergewisserte sich, dass seine Finger normal waren. Man legte das tote Baby in den Sarg eines verstorbenen Mannes und beerdigte es mit ihm zusammen.
Im Sommer 1956 fing Siegtrud in einer Heringsalzerei an. Wohnen konnte sie zusammen mit anderen Arbeiterinnen in einer Frauenbaracke. – Tómas Bergsson, ein Vorarbeiter in der Fabrik, wohnte mit seiner Mutter in Sólvöllur. Sein Vater war ertrunken. Im Erdgeschoss ihres Hauses betrieb Ingibjörg Borghildur einen Handarbeitsladen. Als sie nach einem Schlaganfall linksseitig gelähmt im Krankenhaus lag, wollte sie dort nicht bleiben und verlangte von ihrem Sohn, sie nach Hause zu holen. Um Ingibjörgs Wunsch erfüllen zu können, bat Tómas seine fünf Jahre jüngere Kollegin Siegtrud, seine Mutter gegen Bezahlung zu pflegen, und nach einem Jahr überredete er sie, mit in das Haus zu ziehen und sich auch um den Laden zu kümmern. Seine herrische Mutter lebte nach dem Schlaganfall noch fünf Jahre. Erst nach ihrer Beerdigung kaufte Tómas für sich und Siegtrud ein Ehebett.
Sie wollten ein Kind, aber Siegtrud wurde nicht schwanger, obwohl sich bei der gynäkologischen Untersuchung kein Befund ergab.
Unerwartet antwortete ihr Vater Ólafur Jónsson auf einen Brief, den sie ihm vor langer Zeit nach Sandgerði geschickt hatte. Er schrieb, er sei zweifacher Witwer und habe mit drei verschiedenen Frauen neun Kinder gezeugt. Aufgrund einer Krebserkrankung rechne er mit seinem baldigen Tod. Vorher wollte er Siegtrud noch einmal sehen, und er bot ihr an, die Reise zu bezahlen. Sie zögerte, Tómas riet ihr ab, und als sie sich dann doch entschloss, zu ihrem Vater zu fahren, erhielt sie die Nachricht von seinem Tod am 23. Mai 1985 in Reykjavík.
Als die Fischfabrik geschlossen wurde, beschloss Tómas, Siegtrud endlich zu heiraten und mit ihr nach Reykjavik zu ziehen. In der isländischen Hauptstadt kauften sie sich eine Souterrainwohnung. Während Tómas wieder in einer Fischfabrik arbeitete, ließ Siegtrud sich im Krankenhaus als Hilfskraft anstellen und besserte das Haushaltseinkommen außerdem mit Putzen auf.
Am Abend des 12. Oktober 2002 fand Siegtrud ihren inzwischen fast neunundsechzig Jahre alten Mann tot vor dem Fernsehgerät vor. Trotzdem trug sie am anderen Morgen erst einmal die Zeitung aus. Als sie wieder nach Hause kam, kochte sie sich einen starken Kaffee und rief dann den Hausarzt an.
Im obersten Stockwerk des Hauses, in dem Siegtrud wohnt, leben Matthías und Arnbjörg. Als das Ehepaar für zwei Wochen nach Madeira fliegt, passt Siegtrud auf die Wohnung auf und gießt die Blumen. So kommen sie sich näher. Matthías ist beim Lexikografischen Institut der Universität angestellt. Als er hört, dass Siegtrud annimmt, ihr Großvater stamme aus Frankreich, hilft er ihr bei Nachforschungen. Im Computer findet er die Namen von Siegtruds Mutter, Großmutter und Urgroßmutter: Petrína Magnúsdóttir, Kristbjörg Björgvinsdóttir, Halldóra Sigurðardóttir. Ihr Vater Ólafur Jónsson wurde 1915 in Sandgerði als zweitältestes von acht Kindern des Seemanns Jón Guðmundsson geboren, der bei einem Schiffsunglück ums Leben kam, als Ólafur zehn Jahre alt war. Siegtruds Großvater mütterlicherseits, Magnús K. Pétursson, wurde 1879 in Bezirk Fáskrúðsfjöður geboren. Sein Vater hieß Pierre-Marie Kermanach und stammte tatsächlich aus Paimpol in der Bretagne.
Um mehr über ihre Herkunft herauszufinden, lernt Siegtrud Französisch, bucht eine Gruppenreise nach Frankreich und nimmt beim Morgunblaðið einen Monat Urlaub. Matthías bringt sie zum Bus.
In ihrem Roman „Eigene Wege“ porträtiert Kristín Steinsdóttir eine stille, bescheidene Frau, die sich auch als Erwachsene etwas von der Naivität und Zufriedenheit eines fantasievollen Kindes bewahrt hat. Das hilft Siegtrud, auch bei Schicksalsschlägen nicht den Mut zu verlieren. Unaufgeregt macht sie jeweils das Beste aus ihrer Situation. Und im Alter, als Witwe, sucht sie nach ihren Wurzeln.
Kristín Steinsdóttir erzählt Siegtruds Geschichte von 1938 bis 2004 nicht chronologisch, sondern in einem Kaleidoskop bruchstückartiger Erinnerungen. Dem Charakter der Hauptfigur entsprechend, macht die Autorin in „Eigene Wege“ nicht viel Aufhebens von ihr, sondern schreibt unspektakulär und schnörkellos, ruhig, herb und unsentimental. Gerade, weil die Geschichte in keiner Weise verkitscht ist, berührt sie die Leserinnen und Leser.
Kristín Steinsdóttir wurde am 11. März 1946 in Seyðisfjörður geboren. Sie arbeitete zunächst als Lehrerin. Für ihr 1987 veröffentlichtes erstes Buch – „Franskbrauð með sultu“ – wurde sie mit dem isländischen Kinderbuchpreis ausgezeichnet. Inzwischen schätzt man sie als eine der meistgelesenen Kinderbuchautorinnen Islands. „Eigene Wege“ ist ihr zweiter Roman für Erwachsene. Dafür bekam sie den Isländischen Literaturpreis der Frau 2007.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Verlag C. H. Beck