Juli Zeh : Über Menschen

Über Menschen
Über Menschen Originalausgabe Luchterhand Literaturverlag, München 2021 ISBN 978-3-630-87667-2, 416 Seiten ISBN 978-3-641-27718-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Dora die Radikalität nicht mehr erträgt, mit der ihr Lebensgefährte die Pandemie bekämpft, zieht sie von Berlin aufs Land. Dort stellt sich ihr Nachbar als "Dorf-Nazi" vor. Der Glatzkopf beschimpft Schwule und Ausländer, aber Dora nimmt ihn auch als hilfsbereit wahr ...
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Kritik

Juli Zeh plädiert in ihrem Roman "Über Menschen" für Solidarität und gegen Fanatismus. Das ist sympathisch, auch wenn das Grübeln der Protagonistin Dora, aus deren Perspektive Juli Zeh konsequent erzählt, einfach gestrickt bleibt.
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Dora

Dora wuchs mit ihrem jüngeren Bruder Axel in einem Vorort von Münster auf. Ihr Studium in Münster brach sie ab und absolvierte stattdessen ein Praktikum bei einer Werbeagentur. Seit einiger Zeit lebt sie in Berlin und arbeitet für die nach ihrer Gründerin Susanne benannte Agentur Sus-Y.

Als sie sich beim Einwohnermeldeamt in Berlin anmeldete, kettete sie versehentlich nicht nur ihr eigenes Fahrrad an, sondern auch ein anderes. So lernten Dora und Robert sich kennen. Der studierte Biologe schreibt für eine Online-Zeitung.

Jetzt, im Frühjahr 2020, engagiert er sich für Maßnahmen, von denen er glaubt, dass sie die Pandemie eindämmen können. Beispielsweise verbietet er Dora, öfter als nötig die Wohnung zu verlassen, weil jede Mobilität das Risiko einer Infektion erhöht. Er arbeitet schon immer von zu Hause aus, und als Dora nun wegen Corona vom Open Space ins Home Office wechselt, beansprucht er weiter das Arbeitszimmer. Die 36-Jährige muss deshalb mit dem Esstisch vorliebnehmen, obwohl sie die Hälfte der Miete zahlt.

Bracken

Weil Dora die Enge und Roberts Fanatismus nicht länger erträgt, zieht sie mit ihrer kleinen Hündin Jochen-der-Rochen, einer Promenadenmischung, in das unmöblierte, sanierungsbedürftige Haus im zur Gemeinde Geiwitz bei Plausitz im Landkreis Prignitz gehörenden Dorf Bracken, das sie Ende 2019 eigentlich nur fürs Wochenende kaufte.

An ihrem Auftrag für das Mode-Label FAIRkleidung kann sie auch in der Provinz am Laptop weiterarbeiten. Weil wegen der Pandemie beruflich nicht viel mehr zu tun ist, bleibt ihr Zeit, die Wildnis auf ihrem Grundstück Stück für Stück zu bekämpfen.

Aber bald stellt sie fest, dass es schwierig ist, ohne Auto einzukaufen, denn der öffentliche Bus zum Elbe-Einkaufszentrum kurz vor Plausitz fährt nur dreimal am Tag. Und um nach Berlin zu kommen, muss sie mit dem Rad zum sieben Kilometer entfernten Regionalbahnhof Kochlitz fahren.

Der Dorf-Nazi

Als sie einmal von Besorgungen nach Hause kommt, liegt ihre Matratze auf einem aus Paletten gebastelten Untergestell. Wer war während ihrer Abwesenheit im Haus, obwohl sie die Türen zugesperrt hatte? Der Nachbar Gottfried („Gote“) Proksch, ein Mitvierziger mit kahlgeschorenem Kopf, der sich mit den Worten „Ich bin hier der Dorf-Nazi“ vorgestellt hatte? Gote gibt es sofort zu und findet nichts weiter dabei. Über Schlüssel verfügt er, weil er seit langem auf das zuvor leer stehende Haus aufpasste.

Der arbeitslose Tischler haust in einem vor seinem Haus abgestellten Bauwagen. Nur seine acht oder neun Jahre alte Tochter Franzi hat ihr Zimmer oben in dem sonst unbewohnten und verwahrlosten Haus. Franzi verbringt nur die Ferien bei ihrem Vater. Sonst lebt sie bei ihrer Mutter Nadine in Berlin.

Nadine Proksch trennte sich von ihrem Mann, als er vor drei Jahren wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Dora googelt und erfährt, dass Mike B., Denis S. und Gottfried P. am 20. September 2017 in Plausitz waren, um eine Rede des Neonazis Christian G. zu hören. Auf der Straße pöbelten sie die Bürokauffrau Karen M. und deren Lebensgefährten Jonas F. an, weil sie wussten, dass dieser früher bei der Antifa aktiv gewesen war. Der Webdesigner wurde während der Auseinandersetzung niedergestochen.

Später wird Dora auch Gotes Version hören: Das Messer habe der Antifaschist gezogen, sagt er, aber Mike habe es ihm abgenommen und zugestochen.

Im Lauf der Zeit entwickeln Dora und ihr Nachbar die Gewohnheit, an der Mauer zwischen den beiden Grundstücken auf einen Stuhl bzw. eine Kiste zu steigen und miteinander zu rauchen. Viel reden mag Gote nicht.

Der Dorf-Nazi fährt mit Dora in seinem schrottreifen Pick-Up zum Baumarkt und kauft mit ihr Wandfarbe. Dann machen er, Franzi und Heinrich, der Nachbar auf der anderen Straßenseite, sich an die Arbeit.

AfD-Wähler

Etwas weiter die Straße hinauf wohnen Tom und Steffen. Das schwule Paar verkauft Blumengestecke auf Wochenmärkten und am Straßenrand. Dabei beschäftigen sie auch Erasmus-Studenten aus Portugal, die von Gote als „Pflanzkanacken“ beschimpft werden. Das Männerpaar hat einen AfD-Sticker an der Haustür befestigt. Aus dem Internet weiß Dora, dass die AfD bei der letzten Wahl in Bracken 27 Prozent der Wählerstimmen bekam.

„In Bracken ist man unter Leuten [sic!]. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen“, erklärt Tom.

Ebenfalls durch Googeln erfährt Dora, dass Steffen A. Schaber an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch studierte und als Kleinkünstler zuletzt das nun wegen Corona abgesagte Programm „Über Menschen“ vorbereitet hat. Der 41-Jährige erklärt Dora:

„Es kommt nicht darauf an, Widersprüche aufzulösen, sondern sie auszuhalten.“

Per E-Mail erfährt Dora, dass der Kunde FAIRkleidung abgesprungen ist und die Agentur sie deshalb nicht weiterbeschäftigen kann. Dabei sind ihre Rücklagen fast aufgebraucht, und sie muss auch noch den Kredit für den Hauskauf abbezahlen. Immerhin erhält sie von Tom und Steffen den Auftrag, deren Online-Auftritt zu gestalten („Power Flower“). Und sie nimmt sich den „Brandenburger Stoizismus“ zum Vorbild, „der jedem erlaubt, auf seine Weise nicht klarzukommen“.

Nachdem sich Dora bei Tom und Steffen nach Saatkartoffeln erkundigt hat, bringt ihr eine Dorfbewohnerin unaufgefordert einen Sack voll an die Tür. Sadie arbeitet in Dauernachtschicht in einer Gießerei in Berlin und ist allein erziehende Mutter von zwei kleinen Kindern, die sie „Oh-dreh“ und „An-dreh“ ruft (Audrey, André).

Raumforderung

Als Dora mit dem Fahrrad vom Bahnhof kommt, sieht sie Gotes Pick-Up im Graben. Er ist über dem Lenkrad zusammengesackt, kommt aber zu sich, als Dora ihn durchs geöffnete Fenster anspricht. Nachdem er auf den Beifahrersitz gerutscht ist, klettert Dora in den Wagen mit Allrad-Antrieb und schaukelt ihn zurück auf die Straße.

Anfangs nahm sie an, dass Gote wieder einmal zu viel getrunken habe. Aber er riecht überhaupt nicht nach Alkohol!

Nachdem Dora ihren Nachbarn nach Hause gebracht hat, ruft sie ihren Vater an. Der Witwer Prof. Dr. Joachim („Jojo“) Korfmacher gilt als Koryphäe unter den Neurochirurgen. Er operiert sowohl in Münster als auch an der Charité in Berlin. Jojo kommt sofort nach Bracken und untersucht Gote. Dann nimmt er ihn in seinem Jaguar mit zur Charité.

Am nächsten Tag berichtet er seiner Tochter am Telefon, dass der Patient die aus Indien stammende Radiologin Dr. Bindumaalini beschimpft habe und nicht krankenversichert sei. Die Diagnose lautet „Raumforderung“. Darunter versteht der Neurologe ein unheilbares Glioblastom. Herr Proksch werde nicht mehr lange leben, meint er. Dora fährt mit Gotes Pick-Up zur nächsten Apotheke und kauft die von ihrem Vater verordneten Medikamente, obwohl das ihren Kontostand ins Minus bringt und sie deshalb ihren Vater bitten muss, ihr Geld zu überweisen.

Die Pillen, die Gote bereitwillig schluckt, verbessern seinen gesundheitlichen Zustand. Er lässt sich sogar einen gewaltigen Baumstamm liefern, um zu der vor dem Eingang seines Bauwagens stehenden lebensgroßen Skulptur eines Wolfes eine Wölfin zu schnitzen.

Gote fährt mit Franzi und Dora zum Siedlungsplatz Schütte. Dort stand früher der Hof seiner Eltern. Nach der Wende, als er 13 Jahre alt war, mussten sie das Land wegen strittiger Eigentumsverhältnisse verlassen. Sie wohnten zunächst in Plausitz.

„Im Sommer 92 hat mich mein Vater mit nach Rostock genmmen. Im Barkas, wie Touristen. Ich fand’s toll. endlich raus aus der Bude. Abends Pyro, Bier und geile Stimmung. War ein Volksfest.“

Tod

Jojo kündigt an, „nach dem Rechten sehen“ zu wollen, aber als er anruft und ankündigt, er werde sich wegen einer Sperrung der Bundesstraße in der Nähe verspäten, ahnt Dora, was geschehen ist, denn Gote ist mit dem Pick-Up unterwegs und arbeitete die ganze Nacht bei Scheinwerferlicht an der Wölfin. Die neue Holzfigur steht nun neben der des Wolfes, und zu Füßen der Wölfin kauert ein Welpe.

Gote ist tot. Er fuhr mit mehr als 120 Stundenkilometern geradeaus gegen einen Alleebaum, und es gibt weder einen anderen Unfallbeteiligten noch eine Bremsspur.

Nadine Proksch kommt nach Bracken und zerrt ihre widerstrebende Tochter ins Auto, um sie nach Berlin zu holen.

Dora organisiert die Bestattung ihres toten Nachbarn in Bracken.

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Juli Zeh plädiert in ihrem Roman „Über Menschen“ für Solidarität und gegen Fanatismus, für Humanität und gegen Ideologien. Mit Radikalen sind nicht nur Neonazis wie der Nachbar der Protagonistin gemeint, sondern auch Journalisten wie ihr bisheriger Lebensgefährte, ein Journalist, der in der Corona-Pandemie kompromisslos für eine Minimierung des Infektionsrisikos kämpft, auch wenn dieser Sicherheitswahn mit einer massiven Einschränkung von Grundrechten verbunden ist. Dora dagegen sieht in ihrem Nachbarn Gote nicht nur den Nazi, sondern auch den Menschen, und der passt nicht in eine bestimmte Schublade. Die Mauer an der Grundstücksgrenze, über die hinweg Dora und Gote sich verständigen, ist die Metapher dafür, dass Schranken überwindbar sind.

Die Handlung von „Über Menschen“ spielt in Bracken, einem fiktiven Dorf in Brandenburg, ebenso wie Juli Zehs Roman „Unterleuten“. Und das Wortspiel des Titels ist ähnlich: Der Ortsname Unterleuten klingt wie Unter Leuten, und bei dem Titel „Über Menschen“ denkt man sogleich an Übermenschen.

Während Juli Zeh in „Unterleuten“ einen Mikrokosmos entwickelt und dabei von Kapitel zu Kapitel die Perspektive wechselt, beschränkt sie sich in „Unter Menschen“ auf wenige Figuren und hält sich so konsequent an den Blickwinkel der Protagonistin, dass es sich bei Dora auch um eine Ich-Erzählerin handeln könnte.

Sympathisch ist, dass Dora – und damit die Autorin Juli Zeh – auch in einem verbohrten Neonazi nicht nur den gefährlichen Fanatiker, sondern auch den liebenden Vater einer Tochter und hilfsbereiten Nachbarn sieht. Aber Doras Grübeln und Nachdenken bleibt einfach gestrickt. Zwei Leseproben sollen zeigen, was ich meine:

Eine Welt, in der es so zugeht, ist eine beschissene, verkorkste, fehlerhafte Welt. Menschen und Tiere, die von einer Sekunde auf die andere krank werden und sterben – was soll das bitte sein? Jedes Haushaltsgerät, bei dem so etwas passiert, würde man sofort an den Hersteller zurücksenden.

Sie muss Farage, Kaczyinski, Strache, Höcke, Le Pen, Orbán und Salvini ertragen. Den Siegeszug der AfD mitansehen. Erleben, wie die Medien jeden Verstoß gegen die political correctness als Verbrechen behandeln, und gleichzeitig zulassen, dass sich die Grenzen des Sagbaren in Kommentarspalten und auf Talkshow-Sesseln sukzessive erweitern.

Von Gote ist es nicht weit zum sprichwörtlichen Kerl mit der rauen Schale und dem weichen Kern. Das Plädoyer für Toleranz und Humanität bleibt denn auch oberflächlich. Der Hinweis auf den grausamen Tod des Afroamerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis/Minnesota und „Black Lives Matter“ ändert daran nichts.

Dora hat die Angewohnheit, sich vorzustellen, was andere gerade machen. Sie spürt immer wieder „kribbelnde Bläschen“, die von tieferen Körpergegenden ausgehen und im Kopf explodieren. Juli Zeh wiederholt das zu oft und noch häufiger Doras Gedanken an den angehimmelten Astronauten Alexander Gerst.

Den Roman „Über Menschen“ von Juli Zeh gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Anna Schudt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Juli Zeh: Adler und Engel
Juli Zeh: Schilf
Juli Zeh: Corpus Delicti
Juli Zeh: Nullzeit
Juli Zeh: Unterleuten
Juli Zeh: Leere Herzen
Juli Zeh: Neujahr
Juli Zeh und Simon Urban: Zwischen Welten

Gianna Molinari - Hier ist noch alles möglich
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