Juli Zeh : Leere Herzen

Leere Herzen
Leere Herzen Originalausgabe: Luchterhand Literaturverlag, München 2017 ISBN: 978-3-630-87523-1, 347 Seiten ISBN: 978-3-641-19574-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als nur noch wenige Deutsche aufgrund ihrer Politikverdrossenheit vom Wahlrecht Gebrauch machen, muss Angela Merkel einer rechtsradikalen Bundeskanzlerin weichen. Die Bürger nehmen es gleichgültig hin, dass die Regierung die Demokratie und internationale Gemeinschaften abschafft. Auch die Protagonistin Britta Söldner ist apolitisch. Sie verdient viel Geld mit der Auslese und Vermittlung von Selbstmord-Attentätern an Islamisten und militante Umweltschützer ...
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Kritik

"Leere Herzen" weist Züge eines düsteren Politthrillers auf, aber das dystopische Gedankenexperiment geht weit darüber hinaus, denn Juli Zeh prangert das fehlende politische Engagement der schweigenden Mehrheit in Deutschland an.
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Deutschland 2025

Nach Flüchtlingskrise, Brexit, Trump und zweiter Finanzkrise machen nur noch wenige Deutsche von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Regula Freyer von der Besorgte-Bürger-Bewegung (BBB) wurde vor acht Jahren Bundeskanzlerin. Angela Merkel trat vor die Kameras und übernahm die Verantwortung für die Entwicklung.

Sie formte die Hände zur Raute und erklärte in ihrer unterkühlten, leicht lispelnden Art, dass sie im heutigen Wahlergebnis nicht nur eine Katastrophe für Deutschland, sondern das Scheitern ihrer persönlichen Laufbahn sehe. Unter den Buh-Rufen einiger anwesender Journalisten brach die selbstbeherrschte Fassade der Ex-Kanzlerin schließlich zusammen. Eine Träne lief ihr über das Gesicht, während sie, die Zwischenrufer übertönend, ins Mikrofon rief: „Ich wünsche unserem Land, ich wünsche uns allen viel Glück!“ Dann verließ sie das Podium, die Schultern hochgezogen, und wirkte dabei plötzlich wie eine alte Frau.

Die Innenministerin heißt übrigens Wagenknecht. Die Regierung schloss Bündnisverträge mit den Autokraten sowohl in Russland als auch in den USA und in der Türkei. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Europäische Union und die UNO aufgelöst sind. Die meisten Menschen in Deutschland nehmen es gelassen hin; sie interessieren sich nicht mehr für Politik. Von den Zeitungen existieren nur noch wenige. Ein bedingungsloses Grundeinkommen sorgt für politische Friedhofsruhe, und kaum jemand regt sich über den schrittweisen Abbau der Demokratie durch eine Reihe von Effizienzplänen auf.

Die Brücke

Vor zwölf Jahren – als sie noch in Leipzig BWL studierte – fiel Britta Söldner ein Mann auf, der augenscheinlich vorhatte, von einer S-Bahn-Brücke zu springen, sich aber nicht dazu durchringen konnte. Sie sprach ihn an. Babak Hamwi war als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern nach Deutschland gekommen. Sein Vater, der eigentlich Arzt war, hatte einen Gemüseladen eröffnet, um die Familie ernähren zu können. Britta meinte:

„Keine Perspektive, keine Identität, kein Geld und nichts zu ficken […}. Alles bloß Ego-Kram. Kein triftiger Grund dabei, den Abgang zu machen.“

Wenn Babak sich schon das Leben nehmen wolle, dann solle er es für einen guten Zweck tun:

„So ein Selbstmord gibt dir unglaubliche Macht. Du kannst Dinge tun, für die du nicht mehr bestraft werden wirst.“

Daraus entstand die Idee eines gemeinsamen Unternehmens. Britta brach ihr Studium ab und absolvierte eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, während Babak einen Algorithmus entwickelte, mit dem sich anhand der im Internet verfügbaren Daten selbstmordgefährdete Personen aufspüren lassen. Dann gründeten sie „Die Brücke“, eine „Heilpraxis für Psychotherapie und angewandte Tiefenpsychologie, Self-Managing, Life-Coaching, Ego-Polishing“. Das eigentliche Geschäftsmodell basiert allerdings darauf, mit potenziellen Selbstmördern in Kontakt zu kommen. Deren Entschlossenheit evaluiert Die Brücke in einem von Britta entwickelten zwölfstufigen Verfahren. Viele verwerfen während der Prozedur ihre Selbst­mord­gedanken – und überweisen aus Dankbarkeit für die neu­gewon­nene Lebensfreude großzügige Beträge. Kandidaten, die sich nicht einmal durch Waterboarding und andere Testmethoden von ihrem Vorhaben abbringen lassen, werden von der Brücke gegen Honorar an Organisationen vermittelt, die Selbst­mord­attentäter suchen – und bekommen auf diese Weise die Gelegenheit, ihren Tod in den Dienst einer höheren Sache zu stellen. Kunden der Brücke sind zum Beispiel die islamistische Terrorgruppe Daesh und die militante Umweltbewegung Green Power.

Wer heutzutage einen Attentäter braucht, muss nicht mehr auf verblendete Djihadisten mit narzisstischer Störung zurückgreifen, nicht auf halbe Kinder mit Waffen-Fetisch oder auf Psychopathen, die Ausländer und Frauen hassen. Sondern bekommt einen professionell ausgebildeten, auf Herz und Nieren geprüften Märtyrer, der für eine höhere Sache sterben will.

Dirk, der Erste, der das zwölfstufige Testverfahren der Brücke ganz durchlaufen hatte, raste mit einem Schlauchboot auf einen Walfänger zu und sprengte sich unmittelbar vor der Kollision in die Luft. Das Youtube-Video wurde innerhalb weniger Stunden mehr als eine Million Mal aufgerufen.

Mit dem Geld aus dieser ersten Vermittlung zogen Britta und ihr schwuler Partner Babak von Leipzig nach Braunschweig um.

Anschlag in Leipzig

Brittas Ehemann Richard gehört ein Drittel des Start-up-Unternehmens Smart Swap in Braunschweig. Das Paar hat eine siebenjährige Tochter, Vera, die sich sehr gut mit Cora versteht, der gleichaltrigen Tochter des befreundeten Ehepaars Knut und Janina. Der Theaterautor Knut hofft auf den Durchbruch, und Janina bietet mit dem Start-up „Schreibmaschine“ Sekretariatsarbeiten an. Obwohl sich die beiden eigentlich keine Immobilie leisten können, sind sie dabei, ein altes Haus in Wiebüttel zu kaufen und nehmen einmal auch die Freunde mit zur Besichtigung. Britta hält den „Albtraum von einem Haus“ für „Stein gewordenen Eskapismus“, erklärt sich aber bereit, die Freunde finanziell zu unterstützen.

Knut, Janina und Cora sind zu Besuch bei Britta, Richard und Vera, als in den Fernsehnachrichten von einem fehlgeschlagenen Anschlag im Cargo-Bereich des Leipziger Flughafens berichtet wird. Bei den Tätern handelt es sich um den 22-jährigen Autoschlosser Markus Blattner und den drei Jahre älteren Chemiestudenten Andreas Muradow. Blattner konnte festgenommen werden, Muradow ist tot.

Britta und Babak haben die beiden Selbstmord-Attentäter nicht vermittelt. Wer hat die Fäden gezogen? Britta fährt zunächst nach Bad Godesberg und dann nach Leipzig, um sich von ihren Kontaktleuten versichern zu lassen, dass Blattner und Muradow weder im Auftrag von Daesh noch von Green Power handelten. Dass beide Attentäter „Empty Hearts“ tätowiert haben, könnte auf ein neues Unternehmen hinweisen, das mit der Brücke konkurrieren will.

Es gelingt Babak, eine Besuchserlaubnis bei Markus Blattner in der JVA Leipzig zu bekommen, indem er sich als dessen Cousin Torsten Mayer ausgibt. Aber als er hinkommt, erfährt er, dass der Häftling sich in seiner Zelle erhängte.

Julietta

Die Brücke hat in den elf Jahren des Bestehens ausschließlich männliche Kandidaten angenommen. Zur Zeit werden zwei Männer getestet: der 23-jährige Djawad und der doppelt so alte Herr Marquardt.

Überraschend meldet sich eine junge, magersüchtige Frau namens Julietta, die sich gründlich über die tatsächliche Tätigkeit der Brücke informiert hat und entschlossen ist, ihrem Leben ein sinnvolles Ende zu setzen. Dabei denkt sie an eine Aktion für den Tierschutz.

Guido Hatz

Richard scheint es nichts auszumachen, dass seine Frau fast das gesamte Familieneinkommen erwirtschaftet. Aber er und seine beiden Partner freuen sich darüber, dass ein Mann namens Guido Hatz angekündigt hat, eine größere Summe in Smart Swap anzulegen.

Bei einem Empfang zu Feier des Investors lernt Britta den Mann kennen. Er warnt sie vor einem Burn-out und rät ihr zu einem Sabbatical. Dann könne sie auch besser ihren Mann unterstützen, der nun viel zu tun habe.

Britta verlässt die Veranstaltung vorzeitig und schaut noch einmal im Büro vorbei. Die Türe wurde aufgebrochen. Statt des großen Bilds aus bunten Pünktchen, an dem Babak gearbeitet hat, liegt ein Foto auf dem Tisch. Es zeigt G. Flossen, einen Green Power-Aktivisten, den Britta unlängst in Leipzig kontaktierte. Augen­scheinlich wurde er ermordet.

Erst jetzt erfährt Britta, dass Babaks Pünktchen-Bilde kein Kunstwerk sein sollte, sondern 1043 verschlüsselte Datensätze von potenziellen Selbstmördern enthielt, die der Algorithmus „Lassie“ nach dem Anschlag in Leipzig zusammentrug.

Sicherheitshalber bringt Babak den Computer in ein Versteck. Dann fährt er mit seiner Geschäftspartnerin und Julietta zu dem leerstehenden Haus in Wiebüttel, das Brittas Freunde kaufen wollen. Um nicht geortet zu werden, nehmen sie weder Smartphones noch Laptops mit.

Julietta, die für den Tierschutz sterben will, schockiert Britta, als sie vor deren Augen eine Katze mit einem Stein erschlägt.

Kurz darauf sehen sie durchs Fenster, wie Guido Hatz aus dem Auto steigt. Die Untergetauchten überwältigen ihn, als er das Haus betritt. Nachdem sie ihn gefesselt haben, schleppen sie ihn in den Keller.

Guido Hatz gibt sich als BND-Agent zu erkennen und behauptet, er habe von Anfang an seine schützende Hand über die Brücke gehalten. Durch das Attentat in Leipzig sei allerdings einiges aus der Bahn geraten.

„Wir wussten sofort, dass ihr das nicht wart. Die Maschinerie geriet in Aufregung. Unser Job ist es nicht, Dinge zu verhindern, sondern zu wissen, was passieren wird.“

Empty Hearts

Er fragt, ob sich Britta und Babak an Enrico Stamm erinnern. Der war vor etwa acht Jahren als Kandidat gescheitert, weil ihm der beauftragte Psychiater eine massive narzisstische Störung attestierte. Guido Hatz berichtet, dass Enrico Stamm in den letzten Jahren eine Gruppe von Männern um sich versammelt hat, die als Märtyrer sterben wollen. Er baute also eine Parallelstruktur zur Brücke auf. Die „Empty Hearts“ bereiten einen Putsch gegen die BBB-Regierung vor und wollen Angela Merkel wieder an die Spitze der Regierung bringen. Die Geheimdienste beabsichtigen nicht, das Vorhaben zu verhindern.

Nach diesen Erklärungen erwartet Guido Hatz, dass ihm die Fesseln abgenommen werden. Stattdessen stopft ihm Britta herumliegende Socken in den Mund und umwickelt seinen Kopf mit Klebeband.

Über das Cryptofon des Agenten nimmt Britta Kontakt mit den Empty Hearts auf:

„Füchsin an Bord, ihr bekommt Familienzuwachs, Rufnamen Libelle, Eber, Frettchen, Treffen Achtzehn Null Null, Koordinaten erbeten.“

Auf eine Antwort braucht sie keine Minute lang zu warten.

Vor dem Treffen, das in den Räumen der Brücke stattfinden soll, holt Britta die Kandidaten Djawad und Marquardt im Hotel ab. Sie fährt mit ihnen und Julietta zu einem Tätowierer, der dreimal den Schriftzug „Empty Hearts“ sticht.

Zur vereinbarten Zeit betritt Enrico Stamm mit zwei Begleitern die Praxis. Sie habe ihm ihre drei besten Selbstmord-Kandidaten gebracht, erklärt ihm Britta und verlässt dann das Gebäude.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Ende

Nach ihrer Rückkehr sagt Britta ihrem Mann, sie habe eine Art Nerven­zusammen­bruch gehabt, vermutlich ein Burn-out. Von einem Moment auf den anderen habe sie eine Auszeit nehmen und über sich nachdenken müssen. Obwohl Richard ihr offenbar nicht glaubt, hinterfragt er die Erklärung nicht, und Britta ist ihm dafür dankbar.

Knut, Janina und Cora kommen zu Besuch. Auch Babak sitzt mit am Tisch. Britta eröffnet den Freunden, dass sie die Heilpraxis Die Brücke aufgeben werde. Richard fügt hinzu, dass Babak dadurch nicht arbeitslos werde, sondern einen Algorithmus für Swappie entwickeln soll.

Jeden Tag fahren Britta und Babak nach Wiebüttel, um ihren Gefangenen zu versorgen. Erst nach dem erwarteten Anschlag wollen sie ihn freilassen.

In den Nachrichten wird über einen Terrorangriff im Berliner Regierungsviertel berichtet. Die Attentäter – eine junge Frau und zwei Männer – sind tot. Niemand sonst wurde verletzt.

Babak fragt Britta, ob ihr klar sei, dass die BBB gestärkt aus dem fehl­geschla­genen Putschversuch hervorgehen und bei der nächsten Wahl niemand eine Chance gegen Regula Freyer haben werde. Als Britta nickt, fügt er hinzu:

„Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, warum du das getan hast.“

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Die Handlung der Dystopie „Leere Herzen“ spielt in der nahen Zukunft. Juli Zeh entwirft ein erschreckendes Bild von Deutschland: Die Politikverdrossenheit hat dazu geführt, dass Angela Merkel als Bundeskanzlerin von der nationalistischen Politikerin Regula Freyer abgelöst wurde. Die meisten Menschen nehmen es gleichgültig hin, dass die rechtsradikale Regierung sowohl für eine Auflösung der EU als auch der UN sorgt und die Demokratie in Deutschland schrittweise abschafft. Außerhalb der regierenden BBB gibt es kaum noch jemanden, der sich für politische Ziele engagiert. Und die Rekrutierung von Selbstmord-Attentätern ist zum lukrativen Geschäftsmodell geworden.

„Leere Herzen“ weist Züge eines Politthrillers auf, aber das Gedankenexperiment geht weit darüber hinaus, denn Juli Zeh prangert das fehlende politische Engagement der schweigenden Mehrheit in Deutschland an, das die Ränder erstarken lässt. (Dass die Innenministerin der rechtsradikal geführten Bundesregierung Wagenknecht heißt, weist auf eine Koalition mit der Linken hin.)

Der Titel „Leere Herzen“ korrespondiert mit der Hohlheit der Bürger, die sich in die innere Emigration zurückgezogen haben. Er stammt aus einem Song, der so beginnt:

Full hands and empty hearts. The first stay first, so the last play their parts. But the poor are treasures in this world. Riches are worthless just like words with no progress. […]

Julietta singt in „Leere Herzen“:

When the future has passed, the past will return. One day you’ll be asked what you did, baby. Full hands, empty hearts, it’s a suicide world.

Juli Zeh entwickelt das Szenario nüchtern und illusionslos aus der Perspektive der Protagonistin Britta Söldner. Auf sprachlichen und stilistischen Zierrat hat sie in „Leere Herzen“ verzichtet. Die Romanfigur G. Flossen ist eine Karikatur, und die eine oder andere Szene wirkt tragikomisch, zum Beispiel die Gefangennahme Guido Hatz‘. Aber der Grundtenor von „Leere Herzen“ ist ernst und düster.

Wie das Ende zu verstehen ist, bleibt mir ein Rätsel.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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