Vera Brühne (Biografie)
28. April 1894: Otto Praun wird in München geboren.
6. Februar 1910: Vera-Maria Kohlen wird in Essen geboren. Ihr Vater Ludwig Kohlen (1870 – 1951) ist seit 1. Oktober 1906 Bürgermeister von Kray-Leithe (ab 1929 ein Stadtteil von Essen).
9. August 1913: Johann Ferbach wird in Köln geboren.
Während Veras Brüder Jura studieren, besucht Vera nur eine Haushaltsschule.
1. Januar 1939: Johann Ferbach wird zur Wehrmacht eingezogen.
1941: Vera, die seit 1937 mit dem Schauspieler Hans Cossy (bürgerlich: Hans Cosiolkofsky, 1911 – 1972) verheiratet ist, bringt ihre Tocher Sylvia zur Welt.
1943: Johann Ferbach desertiert und arbeitet in Köln unter falschem Namen auf dem Bau.
Herbst 1944: Johann Ferbach, der auf dem von Hans Cossy für sich und seine Familie gemieteten Grundstück einen behelfsmäßigen Luftschutzbunker baut, rettet Vera und ihre dreijährige Tochter nach der Zerstörung des Hauses durch einen Luftangriff aus den Trümmern. Vorübergehend nimmt er die beiden bei sich auf.
8. Mai 1945: Vera zieht mit ihrer Tochter nach München, aber die Verbindung mit Johann Ferbach lässt sie nicht abreißen.
10. März 1951: Ludwig Kohlen stirbt.
1953: Vera wird von Hans Cossy geschieden.
1954: Sonja Bletschacher, eine mit Otto Praun befreundete Offizierswitwe und frühere Agentin der Abwehr, wird in Starnberg tot aufgefunden. Der Kriminalbeamte Karl Rodatus kommt zu dem Ergebnis, es habe sich um einen Selbstmord gehandelt.
Vera Brühne wird nach kurzer Ehe von dem Filmkomponisten Lothar Brühne (1900 – 1958) geschieden.
Die große, schlanke, elegante Blondine besitzt in München-Schwabing eine Eigentumswohnung und bietet sich Herren als Begleiterin an.
Juli 1957: In einer Münchner Gaststätte fällt Vera Brühne dem sechzehn Jahre älteren geschiedenen Gynäkologen Dr. Otto Praun auf. Nachdem er mit ihr ins Gespräch gekommen ist, schickt er seine sechsundvierzigjährige Begleiterin Elfriede Kloo, die seit 1943 seinen Haushalt führt und mit ihm in „wilder Ehe“ lebt, nach Hause. Praun überlässt Vera Brühne einen gebrauchten VW-Käfer und bietet ihr 200 D-Mark pro Monat dafür, dass sie ihm jeden Montag- und Donnerstagabend zur Verfügung steht, angeblich nur als Chauffeurin.
Otto Praun betreibt eine Kassenarztpraxis in München und wohnt mit Elfriede Kloo in einer Villa in Pöcking am Starnberger See. Außerdem gehören ihm zwei Mietshäuser in München und ein 8,3 Hektar großes Grundstück mit einer Finca in Lloret de Mar. Bei Katja Hintze, der Verwalterin der Finca, handelt es sich gerüchtweise um eine Geliebte des Besitzers. Jedenfalls hat er sie als Erbin des Anwesens eingesetzt. Aus Sorge um sein Leben besitzt er drei Pistolen und hat stets eine davon greifbar, auch im Auto und beim Spaziergang am Seeufer.
Oktober 1957: Vera Brühne fährt mit Otto Praun nach Lloret de Mar.
Sommer 1958: Otto Praun entzieht Katja Hintze das Wohnrecht in seiner Villa in Lloret de Mar, hebt die zu ihren Gunsten bestehende Erbregelung auf und setzt Vera Brühne als neue Verwalterin ein.
Frühjahr 1959: Vor einem spanischen Notar wird Vera Brühne von Otto Praun als Erbin der Finca in Lloret de Mar eingesetzt. (Nach anderen Angaben vermacht Otto Praun die Villa zwar seinem 1930 geborenen Sohn Günther, räumt aber zugleich Vera Brühne ein lebenslanges Nutzrecht ein.)
Weihnachten 1959: Otto Praun überwirft sich mit seinem Sohn Günther, der in München als Assistenzarzt arbeitet.
Frühjahr 1960: Vera Brühne und Johann Ferbach sind zusammen beim Karneval in Köln.
8. bis 13. April 1960: Vera Brühne hält sich bei ihrer kranken Mutter in Bonn auf.
10. bis 18. April 1960: Dr. Günther Praun macht Skiurlaub in Vorarlberg.
13. April 1960: Vera Brühne besucht den krankgeschriebenen Johann Ferbach in seiner Wohnung in Köln. Ferbach sagt später aus, er habe Vera Brühne anschließend zum Bahnhof gebracht.
14. April 1960: Vera Brühne kommt gegen 8 Uhr mit dem Zug aus Köln nach München, um ein neues Auto zu übernehmen, das Otto Praun für sie angeschafft hat. Gegen 17.45 Uhr fährt sie zurück nach Bonn.
15. April 1960, Karfreitag: Der Bundesbahnbedienstete Ulrich Schauer arbeitet ab 7.00 Uhr im Garten des Anwesens von Otto Praun in Pöcking. Das tut er auch an den folgenden drei Tagen. Er wundert sich, dass nicht einmal der Spaniel des Hauseigentümers zu sehen oder zu hören ist, obwohl Prauns Auto vor der Haustüre steht.
18. April 1960, Ostermontag: Wie verabredet, will das Ehepaar Scholler Otto Praun in Pöcking besuchen. Es öffnet jedoch niemand, und die Schollers fahren ebenso verstimmt wie verwundert wieder nach Hause.
19. April 1960: Um 23.45 Uhr melden sich Renate Meyer und Hans-Joachim Vogel bei der Bayerischen Landpolizei in Feldafing.
Renate Meyer, die in drei Monaten ihren 42. Geburtstag feiern wird, arbeitet seit 1955 als Sprechstundenhilfe für Otto Praun. Sie lebt mit dem elf Jahre jüngeren Heizungsmonteur Hans-Joachim Vogel in München.
Die beiden geben an, nach Pöcking gefahren zu sein, nachdem Renate Meyer den ganzen Tag über vergeblich versuchte, Otto Praun telefonisch zu erreichen. Es habe niemand geöffnet, aber Hans-Joachim Vogel sei durch eine unverschlossene Terrassentüre ins Haus gelangt und habe Otto Praun tot am Boden liegen sehen.
Zwei Polizisten fahren zur Villa des Arztes, der in einer Woche seinen 66. Geburtstag gefeiert hätte. Der Tote liegt blutverschmiert neben dem aufgedrehten Heizkörper in der Diele. Die Schläfe weist eine Schutzverletzung auf, und die rechte Hand ruht auf einer Pistole, von der man später feststellen wird, dass sie Otto Praun gehörte. Auf der vier Meter entfernten Couch fällt den Polizisten ein eingetrockneter Blutfleck und ein Projektil auf.
20. April 1960: Gegen 1.00 Uhr trifft ein Polizeiinspektor in der Villa ein. Einige Zeit später stößt einer der Polizisten im Keller auf die Leiche von Elfriede Kloo. Die Neunundvierzigjährige starb durch einen Genickschuss aus nächster Nähe. Um 3.10 Uhr kommen ein Kriminalinspektor und Kriminalobermeister Karl Rodatus nach Pöcking. Erst jetzt wird Otto Prauns Spaniel entdeckt, der in einem Abstellraum eingesperrt war. Aus einer Aktentasche ziehen die Beamten unter anderem zwei Exemplare der Süddeutschen Zeitung vom 13. bzw. 14. April sowie zwei Scheiben Fleisch. Dr. Helmut K. stellt die Totenscheine aus. Obwohl es keinen Abschiedsbrief gibt, zweifelt keiner der beteiligten Herren daran, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelt. Otto Praun scheint zuerst Elfriede Kloo und dann sich selbst erschossen zu haben. Deshalb werden weder Spuren gesichert noch Ermittlungen eingeleitet.
Aufgrund der Leichenstarre schätzen die Beamten, dass Otto Praun und Elfriede Kloo seit 15. April tot sind. Später wird der offizielle Tatzeitpunkt auf 14. April 1960, 19.45 Uhr, festgelegt, denn am Gründonnerstag hörte Emilie Klingler, die Eigentümerin eines etwa 350 Meter entfernten Hauses, zwei Schüsse, und es heißt, Otto Prauns beim Sturz beschädigte, von der Polizei allerdings nicht sichergestellte Armbanduhr sei um 19.45 Uhr stehen geblieben.
Am frühen Morgen kommt Dr. Günther Praun nach Pöcking. Angeblich erfuhr er von Renate Meyer, dass sein Vater sich das Leben nahm. Statt den Spaniel ins Tierheim zu bringen, erschießt Karl Rodatus das Tier mit der letzten Patrone in der Tatwaffe und verscharrt es anschließend im Garten.
Die Staatsanwaltschaft gibt die Leichen noch am selben Tag frei.
22. April 1960: Otto Praun und Elfriede Kloo werden (an verschiedenen Orten) beerdigt.
Mai 1960: Vera Brühnes Mutter stirbt in Bonn.
8. Juli 1960: Sylvia Cosiolkofsky kehrt von einem Aufenthalt in England nach München zurück.
21. Juli 1960: Karl Rodatus vernimmt Vera Brühne.
2. August 1960: Bei der Testamentseröffnung im Amtsgericht Starnberg lassen sich Vera Brühne und Günther Praun von Anwälten vertreten.
14. August 1960: Günther Prauns Rechtsanwalt informiert die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München, dass sein Mandant die Selbstmordthese bezweifelt.
18. August 1960: Günther Praun stellt Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Mordes in zwei Fällen und beantragt die Exhumierung der Leiche seines Vaters.
28. Oktober 1960: Der Ermittlungsrichter ordnet die Exhumierung an.
29. Oktober 1960: Die Autopsie wird im Gerichtsmedizinischen Institut in München vorgenommen. Es stellt sich heraus, dass der Schädel zwei Schussverletzungen aufweist. Eine davon wurde bisher übersehen. Otto Praun kann sich also nicht selbst erschossen haben. Er wurde ermordet.
29. November 1960: Die Staatanwaltschaft München beauftragt die Bayerische Landespolizei, den Fall noch einmal zu untersuchen.
7. Januar 1961: Nachträgliche Tatortbesichtigung in Pöcking
Hans-Joachim Vogel behauptet, er habe am 14. April 1960 abends allein vor dem Fernsehgerät gesessen und sei dann zum Hauptbahnhof gefahren, um eine aus dem Italienurlaub nach Hamburg zurückreisende Bekannte zu treffen, habe allerdings vergeblich auf sie gewartet.
Renate Meyer sagt aus, Otto Praun habe den Besitz in Spanien verkaufen und sich von Vera Brühne trennen wollen. Am Gründonnerstag unterrichtete er sie darüber, dass Vera Brühne einen Kaufinteressenten gefunden hatte, einen Dr. Schmitz aus dem Rheinland, der an diesem Tag nach Pöcking kommen wollte. Schmitz rief um 17 Uhr in der Praxis in München an. Eine Stunde später kündigte Praun Elfriede Kloo den Besucher telefonisch an, und um 19 Uhr fuhr er nach Pöcking, um sich mit ihm zu treffen.
Erst jetzt interessiert sich die Polizei für einen auf blaues Papier getippten Brief, der laut Polizeibericht in der Nacht vom 19./20. April 1960 neben Elfriede Kloos Lesebrille auf dem Sekretär lag. Günther Praun übergab ihn inzwischen seinem Anwalt. Er ist an „Friedl“ (Kloo) gerichtet, von „Otto“ (Praun) unterzeichnet und auf den 28. September 1959 in „Costambrava“ datiert.
Der Überbringer dieses Briefes ist Herr Dr. Schmitz aus dem Rheinland […] Er ist ein sehr wichtiger Mann für mich hier in Spanien, deshalb sei besonders nett zu ihm. Ich habe von Dir als meiner Frau gesprochen und ihm von unserem schönen Haus in Pöcking erzählt […]
März 1961: Der Reporter Nils van der Heyde nimmt Kontakt mit Sylvia Cosiolkofsky auf. Die beiden treffen sich von da an häufiger.
24. April 1961: Die Mordkommission übergibt den Ermittlungsbericht der Staatanwaltschaft beim Landgericht München II.
27. April 1961: Die Mordkommission schickt die Armbanduhr des Ermordeten zur Untersuchung ins Bayerische Landeskriminalamt. Die Uhr befand sich seit einem Jahr in Günther Prauns Besitz. Beim Sturz Otto Prauns scheint die Uhr gegen den Heizkörper geschlagen zu sein. Jedenfalls ist das Glas herausgebrochen, und die Zeiger sind verbogen. Am 14. April 1960 soll die Uhr um 19.45 Uhr stehen geblieben sein. Als Günther Praun sie der Polizei aushändigte, standen die Zeiger allerdings auf 20.45 Uhr, und jetzt, im Landeskriminalamt, wird 21.48 Uhr protokolliert. Dass sich die Zeiger fortbewegten, wird mit Erschütterungen beim Transport erklärt. Weiterhin gilt 19.45 Uhr als Tatzeit.
Die Polizei nimmt an, dass Vera Brühne zur Tatzeit allein in ihrem Auto fuhr, aber sie behauptet, ein Alibi zu haben: Angeblich hatte sie ihre Brille in der Praxis ihres Münchner Zahnarztes vergessen, und der brachte sie ihr zum Langwieder See nach. Der Zahnarzt bestätigt dies zunächst, aber später widerruft er seine Aussage und erklärt, seine Patientin habe ihn um die Lüge gebeten und er sei von einem unbedeutenden Verkehrsdelikt ausgegangen.
Offenbar versuchte Vera Brühne, auch von der Putzfrau ihrer Mutter ein Alibi zu bekommen, denn Anna Krippeler sagt nun aus, Vera Brühne habe sie Ende April 1960 überreden wollen, bei der Polizei anzugeben, sie sei in der Nacht auf dem 15. April 1960 gegen 2.30 Uhr wieder in Bonn gewesen.
Bei der Suche nach der Schreibmaschine, mit der das blaue Papier beschrieben wurde, kommt die Polizei durch einen Hinweis von Charlotte Frank weiter, denn sie weist darauf hin, dass ein BWL-Student, der einige Zeit als Untermieter bei ihrer Nachbarin Vera Brühne wohnte, eine alte Schreibmaschine besaß. Günter Heuel warf das alte, schadhafte Gerät zwar weg, nachdem er seine Examensarbeit darauf geschrieben hatte, aber anhand von Schriftproben kann nachgewiesen werden, dass der Brief auf seiner Schreibmaschine getippt worden war.
Schließlich werden die Ermittler auf die Beziehung Vera Brühnes mit dem verwitweten Maschinenschlosser Johann Ferbach aufmerksam.
13. Juli 1961: Die Staatsanwaltschaft beantragt einen Haftbefehl gegen Vera Brühne.
Sommer 1961: Vera Brühne hält sich mit ihrer Tochter Sylvia Cosiolkofsky in der Villa in Lloret de Mar auf.
26. September 1961: Der Ermittlungsrichter erlässt einen Haftbefehl gegen Vera Brühne.
3. Oktober 1961: Vera Brühne wird in München verhaftet und im Untersuchungsgefängnis Stadelheim eingesperrt.
12. Oktober 1961: Johann Ferbach wird in Köln festgenommen und zunächst in den Klingelpütz gebracht, später in die Justizvollzugsanstalt Neudeck im Münchner Stadtteil Au überstellt.
Dort wird dem seit 28. November 1960 ebenfalls in Untersuchungshaft sitzenden, sechsunddreißigjährigen Mithäftling Siegfried Schramm erlaubt, mit Ferbach Schach zu spielen, obwohl das nicht üblich zu sein scheint.
Der spektakuläre Fall sorgt für enormes Aufsehen. Dabei beflügelt weniger der Doppelmord als die mutmaßliche Täterin die Fantasien. Dementsprechend wird auch nicht von einem Fall Otto Praun / Elfriede Kloo gesprochen, sondern von einem Fall Vera Brühne. Wochenlang malt nicht nur die Regenbogenpresse immer neue Einzelheiten über sie aus. Klatschkolumnisten stellen sie als habgierige, verruchte Lebedame dar, die es verstanden habe, aus ihrem guten Aussehen Kapital zu schlagen. Das erregt die Gemüter in der spießbürgerlichen Gesellschaft ähnlich wie im Fall der 1957 ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt. Reporter besorgen sich von Sylvia Cosiolkofsky Briefe und Schnappschüsse von Vera Brühne.
Oktober 1961: Sylvia Cosiolkofsky erzählt Nils van der Heyde, die Mutter habe ihr gestanden, dass sie mit Johann Ferbach zusammen in Pöcking gewesen sei und ihn dazu gebracht habe, Otto Praun und Elfriede Kloo zu töten. Der Reporter gibt der Polizei einen Tipp.
8. November 1961: Ein Kriminalbeamter taucht überraschend bei Sylvia Cosiolkofsky auf und lässt sich von ihr bestätigen, was sie dem Journalisten anvertraute. Noch am selben Tag wiederholt sie die Beschuldigung im Beisein ihres Vaters Hans Cossy gegenüber dem Ermittlungsrichter.
Mitte November 1961: Sylvia Cosiolkofsky erzählt auch dem „Stern“-Reporter Fred Ihrt von dem angeblichen Geständnis ihrer Mutter.
Januar 1962: Siegfried Schramm sagt aus, sein Mithäftling Johann Ferbach habe ihm an Weihnachten den Doppelmord in Pöcking gestanden und den Tathergang detailliert geschildert. Angeblich stiftete Vera Brühne ihren langjährigen Freund zu dem Mord mit dem Versprechen an, mit ihm zusammen nach Lloret de Mar zu ziehen. Außerdem soll Ferbach geklagt haben, Vera Brühne sei zwar eine Bombe im Bett, aber sie habe ihn „vom Dieb zum Ehebrecher und später zum Mörder“ gemacht.
25. April 1962: Unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Dr. Klaus Seibert beginnt vor dem mit sechs Laien und drei Berufsrichtern besetzten Landgericht München II die Hauptverhandlung gegen Vera Brühne und Johann Ferbach. In der Umgebung des Justizpalastes bricht der Verkehr zusammen.
Auch an den folgenden einundzwanzig Sitzungstagen drängen weit mehr Neugierige in den Gerichtssaal, als dort Platz finden. Wer die Verhandlung nicht vor Ort erleben kann, liest die ausführlichen Berichte darüber in der Zeitung.
117 Zeugen und mehr als ein Dutzend Sachverständige werden gehört. Neben Renate Meyer ist Siegfried Schramm der entscheidende Belastungszeuge. Er bleibt bei seiner Aussage, Johann Ferbach habe ihm den Mord gestanden.
Als Landgerichtsrat Dr. Gottfried Schumann in einem späteren Gerichtsverfahren dem vorbestraften Betrüger Siegfried Schramm „eine für die Rechtsordnung höchst gefährliche Lust am Fabulieren und dergleichen“ attestiert, hält Seibert das für „eine Desavouierung meiner Person und des ganzen Schwurgerichts“.
Am dreizehnten Verhandlungstag wird Sylvia Cosiolkofsky in den Zeugenstand gerufen. Zur Erleichterung ihrer Mutter widerruft sie ihre belastende Aussage.
Die beiden Angeklagten beteuern ihre Unschuld, und es gibt keine Tatzeugen. Das Gericht hält sich deshalb an Indizien. Und dabei bleiben viele Fragen offen. Weil sich die Angeklagten in Widersprüche verwickeln und Vera Brühne offenbar versuchte, Alibis vorzutäuschen, sind sie verdächtig. Ob Vera Brühne und Johann Ferbach jedoch den Doppelmord durchführten bzw. initiierten oder nicht, lässt sich
nicht zwingend beweisen. Eine entscheidende Rolle spielt der Eindruck, den Vera Brühne macht. Sie sieht gut aus, ist gut gekleidet und tritt selbstbewusst auf. Vermutlich waren weder sie noch Otto Praun monogam. Bei einem Mann gilt das als „normal“, bei einer Frau wird Promiskuität jedoch mit Sittenlosigkeit gleichgesetzt. Vera Brühne beteuert zwar, kein sexuelles Verhältnis mit Otto Praun gehabt zu haben, aber niemand glaubt ihr, zumal die Medien sie als Lebedame darstellen, die sich für ihre Dienste bezahlen oder zumindest beschenken ließ. Theodor W. Adorno meint in dem Essay „Sexualtabus und Recht heute“, beim Urteil über Vera Brühne könne die Vorstellung eine Rolle gespielt haben, „dass einer Frau, die ein libertines Sexualleben führe, auch ein Mord zuzutrauen sei“.
4. Juni 1962: Trotz widersprüchlicher Zeugenaussagen, zweifelhafter Indizien und umstrittener Gutachten verurteilt das Gericht Vera Brühne und Johann Ferbach wegen Doppelmordes zu lebenslangen Zuchthausstrafen. Außerdem werden ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. „Aber ich bin doch, bitte, unschuldig!“, flüstert Vera Brühne nach der Urteilsverkündung und schlägt die Hände vors Gesicht.
In der mündlichen Urteilsbegründung heißt es, die Angeklagten hätten seit Anfang 1960 geplant, Otto Praun zu töten, weil Vera Brühne befürchtete, dass der Arzt sein Testament zu ihren Ungunsten ändern könnte. Die Tatwaffe habe sie Otto Praun vermutlich aus dem Handschuhfach seines Autos gestohlen. Ferbach habe am 14. April 1960 in der Arztpraxis in München angerufen, sich als Dr. Schmitz ausgegeben, und anschließend mit dem von Vera Brühne gefälschten Brief gegenüber Elfriede Kloo ausgewiesen. Die Haushälterin sei von ihm in den Keller gelockt und dort erschossen worden. Dann habe er auf Otto Praun gewartet, ihn in der Diele mit zwei Kopfschüssen ebenfalls getötet und einen erweiterten Suizid vorgetäuscht.
Vera Brühne legt ihre stolze Haltung auch im Gefängnis nicht ab. „Wenn ich sie besuchte“, erzählt später die Häftlingsbetreuerin Birgitta Wolf, „bekam ich eine Audienz, der karge Raum wurde ihr Salon, und den Kittel trug sie wie ein Kleid von Dior“. Kerzengerade auf einem Hocker sitzend, malt sie. Mit anderen Häftlingen möchte sie nichts zu tun haben. Sogar auf den Hofgang verzichtet sie deshalb.
Um Gutachten und eigene Ermittlungen zu finanzieren, schließen die Verteidiger Franz Moser und Heinz Pelka im Namen ihrer Mandanten Exklusivverträge mit der „Neuen Illustrierten“ ab.
25. September 1962: Siegfried Schramm, dessen Zeugenaussage maßgeblich zur Verurteilung von Vera Brühne und Johann Ferbach beitrug, wird aus der Haft entlassen, weil sein Vater im Sterben liegt. Er soll sich am 5. März 1964 (!) wieder einfinden.
4. Dezember 1962: Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs lehnt die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil vom 4. Juni ab.
22. Juli 1963: Johann Ferbachs Verteidiger Heinz Pelka beantragt die Wiederaufnahme des Verfahrens.
Während die Kellnerin Gertrud B. behauptet, Dr. Praun habe am 14. April 1960 bis etwa 21.30 Uhr mit zwei Begleitern in einer Gaststätte am Sendlinger-Tor-Platz in München gesessen, will ein Mann namens Josef M. in der Nacht vom 14./15. April 1960 mit Johann Ferbach im Nachtlokal „Sevilla“ in Köln gewesen sein.
4. März 1964: Einen Tag, bevor Schramm sich wieder in der Haftanstalt melden soll, nimmt ihn die Polizei in Salzburg wegen „Nachahmung von Dokumenten ohne Schädigungsabsicht“ fest. Am 16. März 1964 wird er deshalb in Österreich zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt.
8. Juli 1964: Richter Konrad Sattler lehnt den Wiederaufnahmeantrag im Fall Johann Ferbach ab.
1. Oktober 1965: Peter Stähle berichtet in „Die Zeit“, der vierundfünfzig Jahre alte ehemalige Münchner Waffenhändler Hans Joachim Seidenschnur wolle nachweisen, dass Otto Praun an internationalen Waffengeschäften beteiligt war und in diesem Zusammenhang ermordet wurde.
22. Januar 1967: Luftwaffen-Brigadegeneral Werner Repenning stirbt im Alter von einundfünfzig Jahren. Die Staatsanwaltschaft Bonn ermittelte gegen den Offizier und mutmaßlichen Geheimagenten, den Verteidigungsminister Franz Josef Strauß im Mai 1959 zu seinem persönlichen Referenten gemacht hatte, aufgrund von Bestechungsvorwürfen. Es heißt, Repenning habe im Zusammenhang mit der Beschaffung des Schützenpanzers HS 30 für die Bundeswehr mehr als zwei Millionen D-Mark Schmiergeld bekommen.
19. September 1967: Der fünfzig Jahre alte Geheimagent Roger Hentges berichtet vor dem Bonner Staatsanwalt Dr. Wolfgang Meyer-Hollatz und einem Vernehmungsrichter von Schmiergeldzahlungen im Zusammenhang mit Waffengeschäften unter anderem an Werner Repenning und Otto Praun. Otto Praun habe ihn am 14. April 1960 gegen 21 Uhr – also nach dem offiziellen Zeitpunkt seiner Ermordung – in Frankfurt am Main angerufen und mehr Geld verlangt. Das habe er unverzüglich Werner Repenning mitgeteilt. Der persönliche Referent des Verteidigungsministers sei daraufhin mit einem weiteren Bundeswehroffizier aus Bonn zu ihm nach Frankfurt am Main gekommen. Die beiden Herren hätten ihn im Auto mit nach München genommen, wo sie in der Nacht auf den 15. April 1960 kurz nach 0.00 Uhr eingetroffen seien. Hentges will am Hauptbahnhof gewartet haben, während die Offiziere nach einem Anruf bei Otto Praun nach Pöcking gefahren seien. Um 2.00 Uhr hätten ihn die beiden wieder abgeholt und ihm auf dem Rückweg erzählt, es habe mit Praun Schwierigkeiten gegeben. Die Offiziere können dazu nicht befragt werden, denn Werner Repenning ist tot, und die Identität des „Oberstleutnants Schröder“ bleibt ungeklärt.
27. Dezember 1967: Roger Hentges Ehefrau Gitta bestätigt vor einem Kölner Amtsrichter, sie habe im Auftrag ihres damaligen Verlobten mit der Bahn Bargeld aus Paris geholt. Außerdem bezeugt sie das Telefongespräch mit Otto Praun am 14. April 1960 gegen 21 Uhr.
29. Januar 1968: „Der Spiegel“ berichtet über Roger Hentges‘ Aussagen vor der Staatsanwaltschaft im Herbst 1967.
Werner Repennings Witwe Inge klagt gegen Roger Hentges. Sie sagt aus, ihr Mann habe am Abend des 14. April 1960 seine Schwiegermutter in Rhöndorf besucht. Das gehe aus seinem Terminkalender hervor. Unter Eid will sie sich jedoch nicht darauf festlegen.
Nachdem sich die Staatsanwaltschaften in Bonn und Köln für unzuständig erklärten, übernimmt die Münchner Staatsanwaltschaft die Angelegenheit. Ein Münchner Gericht unter dem Vorsitz von Landgerichtsrat Oskar Ringlstetter verurteilt Hentges wegen uneidlicher Falschaussage zu einer Haftstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe, die seltsamerweise der BND übernimmt.
Daraus entsteht die Verschwörungstheorie, Otto Praun sei nicht nur Geheimagent, sondern auch Waffenhändler gewesen und in diesem Zusammenhang ermordet worden.
23. Dezember 1968: Die Erste Strafkammer beim Landgericht München II weist Dr. Maximilian Girths Antrag auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Vera Brühne zurück.
Die Medien vollziehen eine Kehrtwende: Statt Vera Brühne weiter zu verunglimpfen, entrüsten sich die Kolumnisten nun über das haarsträubende Urteil und kolportieren Verschwörungstheorien.
6. September 1969: Die „Bild“-Zeitung bringt einen Artikel unter der Schlagzeile „Der Brühne-Mord war Geheimdienst-Arbeit“.
2. Dezember 1969: Aufgrund einer von Günther Praun gegen die „Bild“-Zeitung erwirkten einstweiligen Verfügung entscheidet die 18. Zivilkammer des Landgerichts München 1, dass die Behauptung, Otto Praun habe mit Waffen gehandelt, erlaubt sei.
Januar 1970: Unter dem Titel „Zwischenbilanz eines Justizskandals“ sendet der Hessische Rundfunk in seinem Zweiten Programm einen Bericht von Ulrich Sonnemann (1912 – 1993) „Über den Fall Brühne-Ferbach“. Polizei und Justiz wird vorgeworfen, bei der Aufklärung des Doppelmords versagt zu haben.
1970: Das Buch „Der bundesdeutsche Dreyfus-Skandal. Rechtsbruch und Denkverzicht in der zehn Jahre alten Justizsache Brühne-Ferbach“ von Ulrich Sonnemann wird auf Antrag von Franz Josef Strauß beschlagnahmt. (Eine Neuauflage erscheint 1985 in Gießen.)
6. April 1970: Der erste Teil der „Spiegel“-Serie „Die vielen Säulen des Richters Seibert. Justiz im Fall Ferbach-Brühne“ von Rudolf Augstein erscheint.
21. Juni 1970: Johann Ferbach stirbt im Alter von sechsundfünfzig Jahren in der Straubinger Justizvollzugsanstalt an Herzversagen.
Frühjahr 1971: Ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks ruft im Tübinger Institut für Strafprozess und Strafvollzug an und lädt Professor Karl Peters, der Fehlerquellen in Strafprozessen erforscht, zu einem Streitgespräch mit Staatsanwälten und Verteidigern im Fall Vera Brühne / Johann Ferbach ein. Peters schickt seinen Assistenten Wilhelm Haddenhorst. Nach der Sendung lässt Haddenhorst sich von Vera Brühnes Rechtsanwalt Franz Moser die Akten schicken. Der Tübinger Gerichtsmediziner Professor Hans Joachim Mallach bestätigt ihm schließlich, dass die laienhafte Feststellung der Leichenstarre am 20. April 1960 keine genaue Aussage über den Todeszeitpunkt zulässt.
15. April 1971: Hans Brandes wird tot in seinem Fahrzeug auf einem Feldweg bei Schäftlarn aufgefunden. Er starb an einem Gift. Kurz zuvor teilte er dem Journalisten Joachim Glomm mit, er habe beim BND in Pullach ein Schriftstück mit dem Briefkopf des Bundesverteidigungsministeriums und dem Betreff „Reise mit Hentges am 14. April 1960 nach Pöcking“ entdeckt.
Februar 1972: Die Aktionsgemeinschaft deutscher Rechtsanwälte e. V. richtet an den bayrischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel ein Gnadengesuch für Vera Brühne.
21. Februar 1972: Auf der Grundlage eines Gutachtens von Hans Joachim Mallach, das den offiziellen Tatzeitpunkt in Zweifel zieht, wird ein weiterer Wiederaufnahmeantrag gestellt.
17. November 1972: Der Wiederaufnahmeantrag wird von der 1. Strafkammer des Landgerichts München II abgelehnt.
Anfang Juni 1975: Alfons Goppel weist das Gnadengesuch zurück.
30. Mai 1979: Franz Josef Strauß begnadigt Vera Brühne.
Peter Anders, der sich intensiv mit dem Fall Vera Brühne beschäftigt, erklärt dazu später, der bayrische Ministerpräsident habe Vera Brühne nach einer Absprache mit ihm begnadigt, „um das Erscheinen meines angekündigten Buches für die nächsten 15 Jahre zu verhindern“ (Peter Anders: Der Fall Vera Brühne, S. 337).
Mitte Dezember 1979: Vera Brühne verlässt das Frauengefängnis Aichach.
Nachdem Vera Brühne sich eine Weile bei ihrem Anwalt vor den aufdringlichen Reportern verbarg, zieht sie unter dem Namen Maria Adam in ihre alte Wohnung in München.
5. Oktober 1990: Sylvia Cosiolkofsky stirbt im Alter von neunundvierzig Jahren an Zungenkrebs.
Im selben Jahr adoptiert ihre achtzigjährige Mutter einen dreißig Jahre jüngeren Nachbarn, der sich um sie kümmert.
11. Mai 2000: In der WDR-Reihe „Die großen Kriminalfälle“ läuft der Dokumentarfilm „Lebenslänglich für Vera Brühne“ von Michael Gramberg.
17. April 2001: Vera Brühne wird nach einem Sturz ins Krankenhaus „Rechts der Isar“ in München eingeliefert und stirbt dort.
Sie wird auf dem Waldfriedhof im Münchner Stadtteil Solln beigesetzt.
24. Mai 2001: Das fünfstündige Drama „Vera Brühne“ von Hark Bohm wird erstmals von Sat.1 ausgestrahlt.
14. März 2008: Unter dem Titel „Der Fall Vera Brühne“ sendet Arte erstmals eine von Hark Bohm neu geschnittene, dreistündige Fassung seines Films.
Bis heute halten sich sowohl gravierende Zweifel an der Täterschaft von Vera Brühne und Johann Ferbach, als auch Verschwörungstheorien, die sich um angebliche Geheimdienstkontakte und Waffengeschäfte von Otto Praun ranken.
Literatur über Vera Brühne
- Peter Anders: Der Fall Vera Brühne. Tatsachenroman (Decent, Blumberg 2000, ISBN 978-3-9806204-1-3, 8. Auflage: 2014)
- Peter Anders: „Ich bin doch bitte unschuldig!“ Der Fall Vera Brühne. Tatsachenroman (Decent, München 2012, ISBN 978-3-9806204-5-1)
- Sylvia Cossy: Gebrandmarkt. Das Schicksal Vera Brühnes Tochter zu sein (Moewig und RTS, München 1980, ISBN 3-8118-0197-X)
- Guido Golla: Fallakte Vera Brühne – Johann Ferbach. Eine Analyse (BoD 2023, ISBN 978-3-758376344)
- Michael und Gabriele Preute, Klaus Brenning: Deutschlands Kriminalfall Nr. 1 Vera Brühne. Ein Justizirrtum? (Goldmann, München 1979, ISBN 3-442-03891-X)
- Max Pierre Schaeffer: Der Fall Vera Brühne. Die Wahrheit (Blanvalet, München 1979, ISBN 3-7645-0039-5)
- Ulrich Sonnemann: Der bundesdeutsche Dreyfus-Skandal. Rechtsbruch und Denkverzicht in der Justizsache Brühne-Ferbach (Lentz, Wollerau 1974, ISBN 3-88010-007-1)
- Ulrich Sonnemann (Hg.): Die Vergangenheit, die nicht endete. Machtrausch, Geschäft und Verfassungsbruch im Justizskandal Brühne/Ferbach (Focus, Gießen 1985, ISBN 3-88349-324-4)
© Dieter Wunderlich 2007 / 2014
Hark Bohm: Vera Brühne
Justizirrtümer: Fehlurteile in Mordprozessen