Salman Rushdie : Der Boden unter ihren Füßen
Inhaltsangabe
Kritik
In der fünfunddreißigsten Schwangerschaftswoche erfährt Lady Spenta Cama in Bombay, dass der Fetus in ihrem Leib tot ist. Am 27. Mai 1937 bringt sie in der Privatklinik der Sisters of Maria Gratiaplena ein totes Kind zur Welt – und gleich darauf noch ein zweites, viereinhalb Pfund wiegendes, das offenbar auf den Ultraschallbildern hinter dem größeren Körper des Zwillingsbruders verborgen war. Der Säugling, der den Namen Ormus erhält, macht bereits wenige Minuten nach seiner Geburt schnelle Fingerbewegungen, die jeder Gitarrist als Akkordfolgen hätte identifizieren können. Fünf Jahre zuvor hatte Spenta Cama bereits ein Zwillingspaar geboren: Khusro und Ardaviraf, die jedoch zumeist Cyrus und Virus gerufen werden.
Der Vater, Sir Darius Xerxes Cama, ist ein begeisterter Sportler, der selbst während der Niederkunft seiner Ehefrau Spenta Kricket spielt. Weil er sich an diesem Tag über nationalistische Musikanten im Publikum ärgert, zielt er mit dem Ball auf die Gruppe, trifft jedoch statt der Störenfriede seinen fünfjährigen Sohn Virus genau zwischen die Augen. Virus kommt erst einige Stunden später in der Intensivstation eines Krankenhauses wieder zu sich. Obwohl er nur eine Gehirnerschütterung erlitten hat, spricht er immer weniger und versinkt schließlich in teilnahmsloses Schweigen. Spenta sorgt sich nur noch um Virus und vernachlässigt den Neugeborenen, den sie von Dienstboten aufziehen lässt.
Darius, der aufgrund des Schocks auf Sport verzichtet und in seinem Haus jegliche Musik untersagt, schließt seine Anwaltskanzlei und beginnt mit seinem Freimaurerbruder Lord William Methwold, einem aus einer wohlhabenden englischen Familie stammenden Bauunternehmer mit einer „Vorliebe für indische Frauen auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter“, indoeuropäische Mythen zu erforschen. Einige Zeit später verfällt Darius immer mehr dem Alkohol und dem Opium. Und dann findet Lord Methwold auch noch heraus, dass Darius die juristischen Examen nicht bestanden hatte und die für die Zulassung als Anwalt in Bombay benutzten Dokumente folglich Fälschungen sein müssen.
In einer Nacht im Jahr 1942 erwacht Cyrus, weil Ormus im Bett nebenan mit so süßer Stimme singt, dass die Vögel erwachen, weil sie glauben, der Tage breche an. Hasserfüllt versucht er seinen kleinen Bruder mit einem Kissen zu ersticken, aber die Kinderfrau kann den Mord im letzten Augenblick verhindern. Nach diesem Vorfall muss Cyrus in ein strenges Internat. Ormus singt jahrelang keinen Ton mehr.
Cyrus neigt zu Gewalttätigkeiten gegen Lehrer und Mitschüler. Anders als die meisten anderen Schüler verbringt er die Ferien nicht bei seiner Familie, sondern bleibt im Internat. So auch im August 1947. Da erstickt er seine während der Ferien ebenfalls im Internat wohnenden Schulkameraden und taucht unter. Zwei Jahre später stellt er sich unvermittelt der Polizei, gesteht freimütig neunzehn Morde und seufzt: „Ich könnte ein bisschen Ruhe gebrauchen.“ Ein Richter verurteilt ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe, und er wird ohne Kopfkissen in eine Zelle des Hochsicherheitsgefängnisses Tihar Jail in Delhi gesperrt.
Vor Lady Spenta Camas Tür in der Privatklinik der Sisters of Maria Gratiaplena begegneten sich am 27. Mai 1937 Ameer Merchant und Vasim Vaqer Merchant, die beide einen Krankenhausbesuch machen wollten. Sie verliebten sich und heirateten einige Zeit später. Finanziell haben sie keine Sorgen, denn sie führen seit dem Tod von Ameers Vater Ishak Merchant das von ihm gegründete Bauunternehmen in Bombay fort.
[Ishak Merchant war] so unendlich cholerisch, dass seine inneren Organe im Alter von dreiundvierzig Jahren tatsächlich vor Wut zerplatzten und er an starken inneren Blutungen verstarb. (Seite 107)
1947 wird Ameer Merchant von einem Jungen entbunden. Umeed bleibt ihr einziges Kind.
Als Ameer und ihr nach den Anfangsbuchstaben seiner beiden Vornamen „Vivvy“ genannter Ehemann 1956 einen Tag mit ihrem Jungen am Juhu Beach bei Bombay verbringen, erscheint der prahlerische Piloo Doodhwala mit seiner Ehefrau Golmatol, den sieben oder acht Jahre alten Töchtern Halva und Rasgulla, einem etwa zwölf oder dreizehn Jahre alten Mädchen und einem Gefolge von Bediensteten. Sobald das größere Mädchen aufblickt, fühlt der neunjährige Umeed sich wie vom Blitz getroffen: Ein coup de foudre! Ohne nachzudenken, geht er auf sie zu und streckt ihr den Apfel entgegen, den er gerade essen wollte. Halva und Rasgulla laufen herbei und betteln um den Apfel, aber nach einer kurzen Irritation reicht Umeed ihn dem anderen Mädchen, das auch gleich hineinbeißt.
Umeed fragt seine Eltern nach der Fremden und erfährt, dass sie Nissa Doodhwala heißt, eigentlich Nissa Shetty, denn Piloo Doodhwala ist nur ihr Vormund. Sie stamme aus Amerika, heißt es, sei Vegetarierin und sorge fortwährend für Ärger.
Tatsächlich kam Nissa in einer Hütte bei Chester in Virginia zur Welt. Ihre Mutter Helen, eine Greco-Amerikanerin, war während des Zweiten Weltkriegs die Ehefrau eines indischen Anwalts namens Shetty geworden. Er zeugte mit ihr in drei Jahren drei Töchter – Nissa war die mittlere von ihnen –; dann wurde er wegen standeswidrigen Verhaltens zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung gestand er seiner Frau, er habe sich sexuell umorientiert und zog mit einem muskulösen Schlachter zusammen. Helen Shetty verkam daraufhin in Alkohol, Pillen und Schulden, bis John Poe, ein verwitweter Bauunternehmer mit eigenen vier Kindern, sich um sie und ihre drei Kinder kümmerte. Eines Tages lief Nissa in ein verwunschenes Waldstück und schlief dort ein Weilchen. Dann …
[…] setzte [sie] sich in Trab, doch als sie nach Hause kam, stellte sie fest, dass sie sich ruhig Zeit hätte lassen können, denn zu Hause waren alle tot. (Seite 142)
Die anderen sechs Kinder lagen erstochen in ihren Betten. John Poe hing mit durchschnittener Kehle über dem Fernsehgerät. Helen fand man im Ziegenstall; unter ihren baumelnden Füßen lag ein blutiges Küchenmesser. Nissa kommt bei entfernten Verwandten unter, dem Ehepaar Egiptus in Chickaboom, aber nach einem Jahr hält Diana Egiptus es mit dem frechen, pflichtvergessenen, unberechenbaren Mädchen nicht mehr aus, und daraufhin wird Nissa von ihrem Vater zu reichen Verwandten nach Bombay geschickt, zu den Doodhwalas.
Piloo Doodhwala galt in der Gegend als Ziegenmilchkönig – bis die „Exwyzee Milk Colony“ gegründet wurde, die Kuhmilch vertreibt. Da ließ Piloo seine Ziegen schlachten und ihr Fleisch gratis an verdienstvolle und nicht vegetarische Arme verteilen. Um die besorgten Ziegenhirten zu beruhigen, reiste er durchs Land und erklärte ihnen sein neues Vorhaben. (Wir kommen darauf zurück.)
In der Nacht nach dem Strandaufenthalt pocht es bei den Merchants an der Haustür. Nissa liegt ohnmächtig vor der Schwelle im Regen, mit Blutergüßen und aus zahlreichen Schnittwunden blutend. Sie ist von ihrem Pflegevater verprügelt worden und deshalb von der Bandra-Villa der Doodhwalas zur Villa Thracia der Merchants geflohen. Ameer Merchant nimmt Nissa wie eine Tochter auf. Das Mädchen will nicht länger Doodhwala heißen und nennt sich von jetzt an Vina Apsara.
Unmittelbar nach ihr taucht Ormus Cama auf und erkundigt sich nach Nissa alias Vina. Jetzt wird auch der Anlass für Piloos Wutausbruch klar.
Ormus soll nämlich Persis Kalamanja heiraten, ein engelsgleiches Mädchen mit stinkreichen Eltern. Patangbaz („Pat“) Kalamanja und seine Frau Dolly kamen ursprünglich aus Kenia, erwarben ihren Reichtum jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg in London, zuerst durch die Herstellung billiger Radios und Wecker, dann mit einem Reisebüro. Pat verbringt die meiste Zeit nach wie vor in Wembley, während Dolly mit Persis in Bombay lebt. Als der neunzehnjährige Ormus mit Persis im „Rhythm Center Record Store“ den von Jesse Garon Parker gesungenen nagelneuen Titel „Heartbreak Hotel“ hörte, stürzte er vor Zorn und Überraschung schreiend aus der Kabine. Da traf er auf die sieben Jahre jüngere Vina, und es war für sie beide Liebe auf den ersten Blick. Ormus erklärte ihr, sein tot geborener Zwillingsbruder Gayomart habe ihm den Song bereits vor zwei Jahren, neun Monaten und achtundzwanzig Tagen vorgesungen. Bei ihrem ersten Wiedersehen schwor Ormus, er werde Vina bis zum Tag nach ihrem sechzehnten Geburtstag nicht berühren und auf sie warten. Selbstlos sorgte Persis dafür, dass die beiden Liebenden sich heimlich treffen konnten.
Im Herbst 1960 kommt der Kornettist „Red“ Nichols mit seiner Band „Red Nichols and His Five Pennies“ nach Bombay. Ormus und Vina besuchen eine seiner Jam Sessions und finden sich widerstrebend damit ab, dass Umeed und Virus sie begleiten. Das Konzert ist nicht besonders gut. Als die Band sich anschickt, nach dem mäßigen Applaus eine Zugabe zu spielen, springt Virus auf die Bühne, zeigt sein einfältiges Grinsen und beginnt vor Red Nichols‘ abgeschaltetem Mikrofon auf seiner indischen Holzflöte zu spielen. Mit der Voigtländer Vito CL, die Umeed zum dreizehnten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekam, hält er fest, was geschieht: Ormus und Vina eilen Virus nach und versuchen die Situation zu retten, indem sie auf der Bühne singen. Das Publikum jubelt ihnen zu. Danach schicken Ormus und Vina Umeed mit Virus nach Hause. In der Suite im Taj Hotel, die Red Nichols ihnen zur Verfügung stellt, lässt sich die Sechzehnjährige von Ormus deflorieren. Als er ihr jedoch einen Heiratsantrag macht, erwidert sie:
„Du bist der einzige Mann, den ich je lieben werde. Aber glaubst du wirklich im Ernst, dass du auch der einzige Kerl bist, den ich jemals ficken werde?“ (Seite 212)
Sehr zum Missfallen von Umeeds Vater hat Ameer Merchant sich als Vorkämpferin der Bauherren-Lobby in Bombay profiliert, die Vivvy für ein „Kartell futuristischer Vandalen“ hält. Um ihre ehrgeizigen Bauvorhaben verwirklichen zu können, tut Ameer sich mit Piloo Doodhwala zusammen, und ihr Mann kann wegen seiner immensen Spielschulen nichts dagegen unternehmen. Er muss die entsprechenden Verträge unterzeichnen.
Drei Tage später liegt die Villa Thracia in Schutt und Asche. Vina ist mit Ameers Schmuck und einigen teuren Kleidern verschwunden. Die Polizei ermittelt, dass die amerikanische Staatsbürgerin mit einer TWA-Maschine nach London flog. Das Ticket hatte Pat Kalamanja auf Bitten seiner Tochter Persis besorgt. Er holte Vina in London-Heathrow ab und brachte sie in seinem Haus in Wembley unter. Am nächsten Tag lieh sie sich von ihm einen kleinen Geldbetrag in britischen Pfund und fuhr allein nach London. Dann gab sie ihm das geliehene Geld zurück und erstattete ihm den für das Flugticket ausgelegten Betrag, rief ein Taxi und fuhr zum Flughafen, um nach New York zu fliegen. Offenbar hatte sie in London die gestohlenen Juwelen und Kleider verkauft.
Mit seinem indischen Reisepass ist es Ormus nicht ohne weiteres möglich, Vina zu folgen. Er versucht es auch gar nicht.
„Bis ans Ende der Welt werde ich ihr folgen“, prahlte er, dann aber ging er nicht mal bis zum Flughafen. (Seite 247)
Stattdessen verführt er eine Frau nach der anderen, bis auf eine: Persis.
Als syrischer Priester verkleidet, bricht Cyrus Cama aus dem Tihar Jail in Delhi aus. Ein Wärter hilft ihm dabei, nachdem Cyrus ihn davon überzeugt hatte, er sei ein großer Seher, der die Führung der indischen Nation übernehmen müsse. Sir Darius Xerxes Cama und sein Butler Gieve werden mit Kopfkissen erstickt. Am Neujahrstag 1965 taucht Cyrus am Haupttor des Gefängnisses auf, stellt sich und bekennt, seinen Vater und dessen Butler ermordet zu haben.
Darius‘ Witwe wird von Lord William Methwold auf seinen Landsitz in England eingeladen. Ende Januar 1965 verlässt Lady Spenta Cama mit ihren Söhnen Virus und Ormus Bombay. Virus wird auf Methwolds Drängen in einem Sanatorium untergebracht. Ormus verschwindet von sich aus.
Nachdem zuerst Vina und dann auch Ormus das Land verlassen haben, kommen Umeed und Persis sich durch ihren Schmerz über den Verlust der geliebten Person näher.
Im Laufe der Jahre jedoch wurden wir einer des anderen schlechte Angewohnheit. (Seite 279)
Umeeds Mutter erliegt im Alter von einundfünfzig Jahren einem Gehirntumor. Am Morgen nach der Bestattung wird Umeed von Dienstboten geweckt. Mit aufgerissenen Augen starren sie auf V. V. Merchants Leiche, die am Deckenventilator hängt und langsam rotiert, weil jemand versehentlich auf den Schalter gedrückt hat.
Als einziger Erbe des Familienunternehmens Merchant & Merchant ist Umeed ein reicher Mann. Er verkauft die Firma einem von Piloo Doodhwala geführten Firmenkonsortium.
Nach einem Erdbeben in Bombay im Jahr 1970 taucht plötzlich Vina auf. Sie erfuhr von der Katastrophe in New York und setzte sich aus Sorge um Ormus unverzüglich in eine Maschine nach Bombay. Umeed klärt sie darüber auf, dass Ormus vor fünf Jahren auch in den Westen ging. Vina war einmal kurze Zeit verheiratet, und die Liste ihrer Liebhaber ist lang. Sie hat den Durchbruch als Rocksängerin geschafft und steht bei dem Plattenlabel „Colchis“ von Yul Singh unter Vertrag. Die Nacht verbringt sie mit Umeed im Bett, dann fliegt sie in die USA zurück.
Beginnen wir heute mit einem Tieropfer. (Oder wenigstens mit dem Bericht darüber.) (Seite 150)
Mit diesen Worten beginnt das Kapitel „Bocksgesänge“. Anita Dharkar, eine junge Redakteurin beim „Illustrated Weekly“, macht Umeed auf Gerüchte über betrügerische Geschäfte von Piloo Doodhwala mit Ziegen aufmerksam.
Furchtlos hatte er im Bereich der von Banditen verseuchten Schluchten von Madhya Pradesh und Andhra Pradesh riesige Herden zusammengestellt. Inzwischen gehörte er zu den größten Arbeitgebern der nationalen Ziegenindustrie, und sein berühmt hoher Standard an Hygiene und Qualitätskontrolle hatte ihm landesweit viele Auszeichnungen sowie das Recht nicht nur auf Futtersubventionen pro Kopf der Herden, sondern auch auf beträchtliche Steuerabschreibungen und Förderungsgelder verschafft, die für so zukunftsweisende ländliche Unternehmer wie ihn gedacht waren. (Seite 299)
Piloo besitzt 100 Millionen „absolut fiktive Ziegen“ höchster Qualität. Das ist sehr einträglich, …
[…] weil die nichtexistente Ziege sich schneller fortpflanzt, weniger Pflege, ja sogar weniger Platz erfordert als jede andere Rasse […] (Seite 302)
Bei dem Versuch, den Betrug auf Fotos für einen Zeitungsartikel zu dokumentieren, wird Umeed auf einer Ziegenfarm ertappt. Die Männer nehmen ihm seine Kamera und die Filme ab und werfen ihn gefesselt in einen Stall, in dem die Leiche eines Journalisten an einem Balken hängt, der auch hinter Piloo Doodhwala herspioniert hatte. Umeed gelingt es, sich von den Fesseln zu befreien. Der Journalist trug die gleichen importierten Wanderstiefel wie er. Deshalb kommt er auf die Idee, in den Absätzen nachzusehen, und er findet tatsächlich in einem Hohlraum einen belichteten Film. Die Fotos, die Umeed nach seiner Flucht mit nach Bombay bringt und im „Illustrated Weekly“ veröffentlicht, sind eine Sensation, denn sie beweisen, dass Piloo Doodhwala die staatlichen Zuschüsse für gar nicht existierende Ziegen kassiert hat. Eine größere Untersuchung findet statt. Piloo Doodhwala und einige seiner führenden Mitarbeiter werden wegen Betrugs zu Haftstrafen verurteilt. Allerdings gelingt es dem einflussreichen Unternehmer, sechs Monate nach dem Haftantritt zum Bürgermeister gewählt zu werden, und Sanjay Gandhi sorgt dafür, dass man ihn begnadigt, damit er sein Amt antreten kann.
Niemand ahnt, dass die Fotos nicht von Umeed stammen. Der französische Starfotograf M. Henri Hulot gratuliert ihm zu seinem Scoop und bietet ihm eine Stelle bei der 1947 von ihm, dem Amerikaner Bobby Flow, dem Engländer „Chip“ Boleyn und dem Franzosen Paul Willy gegründeten Fotoagentur „Nebuchadnezzar“ an. Es ist ein Glückfall für Umeed Merchant, der den Namen „Rai“ als Pseudonym wählt und bald auch von seinen Freunden so gerufen wird.
Gott sei Dank? Nein, nein, nein. Wir wollen doch nicht etwas so Grausames, Bösartiges, Rachsüchtiges, Intolerantes, Liebloses, Unmoralisches und Arrogantes wie Gott erfinden, nur um einen dummen, unverdienten Glücksfall zu erklären. (Seite 313)
Inzwischen wurde Ormus von John Mullens („Mull“) Standish XII. eingeladen, bei dessen Piratensendern mitzumachen. Zusammen mit seinen neuen Kollegen Nathaniel Hawthorne Crossley und Waldo Emerson Crossley, zwei Brüdern, geht Ormus an Bord eines der verrosteten Schiffe außerhalb der britischen Hoheitsgewässer, die Mull gekauft hat, um von den anderen Rundfunkstationen boykottierte Rocksongs nach Großbritannien auszustrahlen.
Einmal, als seine beiden Kollegen schlafen, flüstert Ormus ins Mikrofon von „Radio Freddie“, dass er sich nach Vina sehne, aber nicht wisse, wo er sie suchen solle. Mull gratuliert Ormus per Schiffsfunk zu diesem vermeintlichen PR-Gag und fordert ihn auf, damit weiterzumachen. Vina kann den englischen Piratensender in New York natürlich nicht hören.
Obwohl Mull homosexuell und in Ormus verliebt ist, tritt er ihm nicht zu nahe, sondern er fördert dessen Karriere als Rocksänger selbstlos. So kommt es, dass eines Tages der Plattenproduzent Yul Singh persönlich Ormus einen Vertrag für „Colchis Records“ anbietet. Ormus nimmt mit seiner – nach dem Ort seiner ersten Begegnung mit Vina – „Rhythm Center“ genannten Band mehrere erfolgreiche Titel auf. Im Sommer 1967, vor der Einspielung von „It Shouldn’t Be This Way“, schickt er die anderen Musiker aus dem Studio, übernimmt alle Instrumente nacheinander selbst und singt dazu am Schluss.
Die Vermarktung dieser Platte verzögert sich allerdings aufgrund eines Unfalls um mehr als drei Jahre. Als Ormus nämlich mit den Crossley-Brüdern zu einem Picknick fährt, kollidiert ihr Mini Cooper mit einem Schwertransporter, der Dünger geladen hat. Hawthorne, der das Auto lenkte, ist sofort tot. Waldo erleidet irreparable Gehirnverletzungen. Ormus liegt besinnungslos auf der Rücksitzbank und erwacht nicht aus dem Koma. Seine Mutter, die Lord William Methwold vor Jahren geheiratet und kürzlich beerbt hatte, pflegt ihn in einem weißen Haus auf einem Hügel über der Themse.
Im Blut der drei verunglückten Männer findet die Polizei größere Konzentrationen des Halluzinogens Lysergsäurediethylamid 25. Vermutlich war das LSD in dem Tee, den Antoinette Corinth, die Mutter der beiden Brüder, ihnen für das Picknick mitgegeben hatte. Die Thermoskanne ist allerdings nicht mehr auffindbar.
Erst nach dreieinviertel Jahren, als man die Hoffnung auf eine Genesung von Ormus aufgibt, bringt „Colchis“ die Single mit „Beneath Her Feet / It Shouldn’t Be This Way“ heraus.
Vina hört die Platte in New York und fliegt sofort nach London. Als sie sich über den Bewusstlosen beugt, schlägt er die Augen auf. Er war gerade 150 Sekunden lang klinisch tot, ging durch einen Tunnel auf ein Licht zu, machte dann aber kehrt, weil er hinter sich Vinas Stimme rufen hörte. Der Blick zurück rettete ihm das Leben. Allerdings ist er auf dem linken Auge so gut wie blind. Damit sieht Ormus Dinge aus einer anderen Welt, unter anderem eine nymphomanische indische Krankenschwester namens Maria. Wenn er eine Augenklappe aufsetzt, erscheint Maria nicht mehr.
Yul Singh holt Ormus nach Amerika und stellt ihm und Vina eine Villa in Tempe Harbor an der Südspitze des Lake Chickasauga zur Verfügung, in dem außer ihnen der Arthouse-Movie-Direktor Otto Wing und mit seiner Ehefrau Ilfredis wohnt. Das frisch verheiratete Paar treibt es hemmungslos in den Räumen, im Pavillon am Seeufer, auf dem Pool-Tisch, dem Tennisplatz, der Terrasse. Ilfredis ist unersättlich. Mit demselben „nackten Kaltwassereifer“ begeistert sie sich für Religiöses.
Ormus macht Vina 1971 einen weiteren Heiratsantrag, und weil sie sich wieder sträubt, verlangt er, dass sie ihm irgendein Datum nennt, an dem sie seine Frau wird. Bis dahin, so schwört er, werde er enthaltsam bleiben. Vina lässt zwar keinen Zweifel daran, dass sie nicht vorhat, ein keusches Leben zu führen, aber sie verspricht Ormus, sich in genau zehn Jahren mit ihm zu vermählen. Er wird dann vierundvierzig sein, sie siebenunddreißig.
Ormus ist voller Musik und hat in Vina die Stimme gefunden, die seine Lieder in die Welt trägt. Unter Vinas Namen werden vegetarische Rezepte veröffentlicht: „Vina’s VegeTable“. Sie gilt als Idol, protestiert gegen Benachteiligungen von Menschen aufgrund ihrer Rasse und tritt für Frauenrechte ein, wird allerdings wegen ihrer hemmungslos ausgelebten Heterosexualität von Feministinnen abgelehnt, die ihr außerdem vorwerfen, „nichts als das Instrument der Kunst eines einzigen Mannes“ zu sein.
Wegen ihrer kritischen Äußerungen wird Vina von der Polizei verhört. Ormus wird von der Einwanderungsbehörde unter dem Vorwand seiner Verwicklung in den Autounfall unter Drogeneinfluss aufgefordert, die USA innerhalb von sechzig Tagen zu verlassen. Erst im Oktober 1975 hebt das US-Appellationsgericht die Ausweisung auf, und im Jahr darauf erhält Ormus sogar eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Vina bittet Mull Standish 1975, als ihr und Ormus‘ Manager nach Amerika zu kommen. Mull ist entsetzt über die schlecht ausgehandelten, für die beiden Künstler unvorteilhaften Verträge. Es kommt zum jahrelangen Krieg zwischen dem Manager der „VTO-Band“ und dem „Colchis“-Boss Yul Singh. Innerhalb von fünf Jahren verbraucht Mull in der Auseinandersetzung den größten Teil seines Privatvermögens. 1980, als seine Niederlage kaum noch aufzuhalten ist, gibt eine unbekannte Person in einem Hotel in Delhi eine dicke Akte für ihn ab. Sie enthält Beweise dafür, dass Yul Singh seit Jahren Bomben und Schusswaffen kauft und die „randständigen Terroristen der nationalistischen Sikh-Bewegung“ in Indien finanziell unterstützt. Mit diesem Material als Druckmittel zwingt Mull den Plattenproduzenten zum Abschluss neuer Verträge für Vina und Ormus. Am Tag nach der Unterzeichnung vergiften sich Yul Singh und seine Lebensgefährtin Marie-Pierre d’Illiers mit Schlaftabletten.
In diesem Jahr heiraten Vina und Ormus. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht stellt Ormus verblüfft fest, dass die „Anderwelt“ auch dann nicht mehr da ist, wenn er die Augenklappe abnimmt. Das Glück hält allerdings nicht lange an: Ormus leidet zunehmend an Migräneanfällen und kann bald nicht mehr auftreten. Vina bleibt nichts anderes übrig, als mit Hilfe des neuen „Colchis“-Bosses Mo Mallick eine neue Solokarriere zu starten. Im Herbst 1988 hat sie ein Album fertig. Im Frühjahr 1989 fliegt sie mit ihrer neuen Band zu einer Reihe von Konzerten nach Mexiko. Als sie feststellt, dass Rai ihr gefolgt ist, macht sie ihm erbost und unmissverständlich klar, dass er zwar einer ihrer Liebhaber sei, aber niemals Ormus ersetzen könnte.
Sex ist nie ein Motiv für Vina. Sex ist trivial, als schnäuze man sich die Nase. (Seite 417)
Nach ihrem Auftritt am 13. Februar 1989 in Guadalajara fährt Vina mit dem zwanzigjährigen Mestizen Raúl Páramo zurück in das Hotel, das er von seinem Vater geerbt hat.
Sie hatte ihn gepflückt wie eine Blume, und jetzt wollte sie die Zähne in ihn schlagen, sie hatte ihn sich bestellt wie ein Schnellgericht, das man nach Hause mitnimmt, und jetzt beunruhigte sie ihn mit der Zügellosigkeit ihrer Gier, weil sie sich auf ihn stürzte, kaum dass sich die Tür der Limousine hinter ihnen geschlossen hatte und bevor dem Chauffeur Zeit blieb, die Glastrennwand zu schließen […] (Seite 10)
Am anderen Morgen träumt die Vierundvierzigjährige, sie liege nackt auf einem Aztekenaltar und werde im nächsten Augenblick Quetzalcoatl geopfert. Schweißüberströmt erwacht sie aus dem Albtraum. Neben ihr im Bett röchelt Raúl im Drogenrausch. Offenbar hat er eine Überdosis genommen. Sie rafft ihre Sachen zusammen und verlässt fluchtartig die Suite. Rai, der auf dem Korridor gewacht hat, begleitet sie im Hubschrauber zu einem Bankett, das Don Ángel Cruz für die Rocksängerin auf seiner Agavenplantage in Tequila gibt. (Raúl stirbt inzwischen im Krankenhaus.)
Da bebt plötzlich die Erde. Die Gebäude stürzen ein. Die Tequila-Fässer bersten. Der Hubschrauber hat gerade noch rechtzeitig abgehoben; er schwebt dicht über dem Boden, der Pilot winkt. Vina klettert hinein. Rai bleibt zurück. Trotz des Erdbebens fliegt Vina wie geplant für ein Wochenende zu der abgelegenen, dem Präsidenten der „Colchis“-Schallplattengesellschaft gehörenden Villa Huracán nördlich von Puerto Vallarta an der Pazifikküste. Als der Pilot sie dort absetzt, ist alles noch intakt. Dann jedoch …
[…] wird ein großes Stück der pazifischen Küste verschlungen. Die Sprunghöhe des Erdbebens ist elf Meter groß: riesig. Das Meer kocht herein und füllt den Bruch in der Erde, den Riss in der Realität. Wasser, Erde, Feuer rülpsen hoch in den Himmel hinauf. (Seite 609)
Unter Vinas Füßen tut sich der Boden auf und sie wird in eine Spalte gerissen.
Schwarz gekleidet und mit einer passenden Augenklappe aus Samt fliegt Ormus nach Guadalajara, um an der Trauerfeier für Vina teilzunehmen. Rai hört ihn in seinem Hotelzimmer singen:
„She was my ground, my favourite sound, my country road, my city street, my sky above, my only love, and the ground beneath my feet“ (Seite 613)
Fotos von Vina beherrschen die Titelblätter. Ihr Name wird nicht nur im Musikgeschäft vermarktet, sondern auch für Bücher, Videospiele und vieles mehr missbraucht. Weil kein Leichnam gefunden wird, glauben einige Anhänger, Vina sei noch am Leben. Andere betreiben einen beispiellosen Totenkult („Vina Divina“). Mit Doppelgängerinnen wird sehr viel Geld verdient. Ormus sitzt bei Double-Wettbewerben häufig in der Jury und bestellt die Gewinnerinnen anschließend auf sein Hotelzimmer.
Rai verlässt dagegen kaum noch seine Wohnung. Wenn er Hunger hat, lässt er sich Fastfood liefern. Seine Putzfrau kündigt, weil es ihr vor dem Unrat in seinen Räumen graust. Freunde übernehmen die Aufgabe, Rai zu retten. Johnny Chow steht beispielsweise eines Tages mit Vina in der Tür, mit einem chinesischen Transvestiten, der Vina verblüffend ähnlich sieht.
Im Herbst 1991 erhält Rai eine kurze Nachricht von Ormus: „Ich habe sie gefunden. Sie lebt.“ Auf dreihundert Monitoren in Ormus‘ Villa flimmern Videos von Vina-Imitatorinnen. Auf Knopfdruck erscheint auf allen Bildschirmen zugleich die echte Vina: Es ist ihr Gesicht, ihr Körper, ihre Stimme. Doch die Aufnahme ist weniger als eine Woche alt, und diese Vina ist höchstens zwanzig! Sie heißt Mira Celano und lebt mit ihrer kleinen Tochter Tara und dem Mischlingshund Cerberus in Manhattan. Ormus bittet Rai, in seinem Namen um die Sängerin zu werben; er selbst ist zu krank. Widerstrebend kommt Rai der Bitte seines Freundes und Rivalen nach. Er besucht eine Vorstellung, in der Mira auftritt und geht anschließend zu ihr in die Garderobe. Auf dem Heimweg erzählt Mira ihm, dass sie ebenfalls eine geliebte Person verloren hat: Taras Vater Luis Heinrich, auch er ein Musiker, schoss sich eines Tages eine Kugel in den Kopf. Rai verliebt sich in Mira, und als sie ein weiteres Treffen verabreden, rät sie ihm, dann nicht für seinen Freund, sondern für sich selbst zu sprechen: Sie erwidert seine Gefühle. Rai überredet sie, mit ihm Ormus zu besuchen. Der erwartet sie, setzt sich ans Klavier und ist überwältigt, als Mira hinter ihn tritt und wie Vina singt. Während Rai Vinas heimlicher Liebhaber war, ist er jetzt der Geliebte Miras, und für Ormus bleibt nur die Rolle eines Verliebten: Die Verhältnisse haben sich vertauscht.
Am vierten Jahrestag von Vinas Tod kündigt Mo Mallick ein Comeback von Ormus Cama und eine Neugründung seiner legendären Band an. Das erste Konzert findet im September 1993 in Roseland statt. Als jedoch Mira wie Vina gekleidet auf der Bühne erscheint, protestieren einige Zuschauer. Mira versucht die Aufführung zu retten, indem sie mutig von der Bühne ins Publikum springt.
Sekundenlang denke ich, sie werden sie nicht auffangen, sehe ich ihren Körper zerbrochen und von den grausamen, tödlichen Füßen der Menge zertrampelt. Ich denke an Tara. Aber die Arme werden hochgerissen, halten sie empor, sie schwebt über einem Meer von Händen, sie ist in Sicherheit.
Denke ich. Aber ich kann nicht sehen, was sie sieht – den Zorn in vielen Gesichtern unter ihrem hilflosen Körper –, ich kann die Hände nicht spüren, die an ihrem Körper zu zerren beginnen. Erst als irgendjemand ihr die rote Vina-Perücke vom Kopf reißt, wird es deutlich. Ich bin aufgesprungen, Mallick schreit in sein Walkie-Talkie, wir haben einen Aufruhr, holt sie da raus, aber bevor die Sicherheitswachen in die Menge hineinwaten können, hat sie es irgendwie geschafft, auf die Bühne zurückzugelangen, und als sie sich aufrichtet, sehen wir alle die Schnitte an ihrem freien Bauch, ihrem Rücken, ja sogar ihrem Gesicht, ihr langes dunkles Haar weht wild und zerzaust auf dem Rücken, das Bustier ist verschwunden, aber sie hört nicht auf zu singen, lässt keinen Takt aus, in ihrer zerrissenen Lederhose steht sie vorn in der Bühnenmitte, singt blutend und barbusig in ihre gottverdammten, mörderischen, undankbaren Gesichter hinein, und das ist der Moment, in dem ich weiß, in dem jeder von uns in der Roseland-Konzerthalle mit Sicherheit weiß, dass Mira Celano ein großer, ein ganz großer Star werden wird. (Seite 711)
Anschließend macht Mira Ormus klar, dass sie nie mehr als Vina-Double auftreten wird.
Okay, Ormus? Wir machen es auf meine Art, oder wir vergessen das Ganze hier, auf der Stelle. Hörst du zu? Wirst du damit fertig werden? Niemand kommt aus der Unterwelt zurück. Niemand ist zurückgekommen. Vina Apsara ist weg. (Seite 712)
Statt zu antworten, summt Ormus vor sich hin, aber Mira lässt nicht locker und besteht auf einer Antwort. Da sagt er ruhig:
Was willst du? Vina Apsara? Oh, tut mir Leid, sie ist gestorben. (Seite 712)
Die Rockband startet zu 1994 einer Welttournee. In Indien schürt der zweiundsechzigjährige Häftling Khusro alias Cyrus Cama durch einen offenen Brief an seinen jüngeren Bruder Ormus die Stimmung gegen einen Auftritt, und die Innenministerin Golmatol Doodhwala setzt ein Einreiseverbot durch.
Im Winter 1995/96, nach dem Abschluss der internationalen Tournee, verlässt Ormus sein Apartment in Manhattan und geht ein paar Minuten spazieren. Als Ormus zum Rhodopé Building zurückkehrt, steht wegen der Kälte kein Doorman unter der Markise am Eingang. Der Leibwächter, der ihm unbemerkt gefolgt ist, rutscht auf dem Glatteis aus. In diesem Augenblick tritt eine hoch gewachsene, dunkelhäutige Frau mit roten Haaren, die wie Vina gekleidet ist, auf Ormus zu und feuert das Magazin ihrer Pistole auf ihn ab. Die Polizei, die in dem Mordfall ermittelt, verfolgt die Spuren im Schnee bis in eine Seitenstraße, wo sie plötzlich enden.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Wenn Sie mich fragen, ich glaube, dass es Vina war, die wirkliche Vina, Vina Apsara höchstpersönlich. Meine Vina. Nein: Auch das muss ich akzeptieren, dass sie immer noch Ormus‘ Vina war, auf immer und ewig die seine. Ich glaube, sie kam und hat ihn geholt, weil sie wusste, wie sehr er sich wünschte, endlich zu sterben. Weil er sie nicht von den Toten zurückholen konnte, nahm sie ihn mit sich hinunter, damit er bei ihr sein konnte, dort unten, wohin er eigentlich gehörte. (Seite 736f)
Aus der griechischen Mythologie kennen wir die traurige Geschichte von Orpheus und Eurydike. Als der göttliche Bienenzüchter Aristaios der frisch vermählten Eurydike nachstellt, flieht sie, wird jedoch von einer giftigen Schlange gebissen und stirbt, bevor Orpheus zu ihr eilen kann. Orpheus folgt seiner jungen Ehefrau in die Unterwelt, bringt mit seinem Gesang und seinem Leierspiel den kläffenden Höllenhund Kerberos zum Schweigen und den Fährmann Charon dazu, ihn über den Styx zu rudern. Seine Musik erweicht schließlich sogar Persephone, die an der Seite ihres Gatten Hades über das Totenreich wacht: Sie gibt Eurydike frei. Kurz vor dem Ausgang zur Oberwelt verstößt Orpheus jedoch gegen das Gesetz, demzufolge niemand die Schatten der Toten ansehen darf: Er dreht sich nach Eurydike um. In diesem Augenblick verschwindet sie für immer, und Orpheus kann ihr nicht folgen, denn Charon weigert sich, ihn noch einmal überzusetzen.
Wie in dem griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike verbinden sich in Salman Rushdies Roman „Der Boden unter ihren Füßen“ Musik, Liebe und Tod.
Am 14. Februar 1989 wird die legendäre Rocksängerin Vina bei einem Erdbeben in die Tiefe gerissen. Nachdem ihr langjähriger Liebhaber, der völlig unmusikalische Fotograf Rai, sich von dem Schock einigermaßen erholt hat, erzählt er Vinas Geschichte, eigentlich die Geschichte des Liebespaares Vina und Ormus, die mit seinem eigenen Schicksal eng verbunden ist.
Und Vinas Geschichte mit ihren Echos aus großen, alten Sagen von, ach, Helena, Eurydike, Sita, Rati und Persephone, der großen Vina große Sage, die ich mich auf meine umständliche Art und Weise durchaus beeilen werde zu erzählen, hatte wahrhaft tragische Dimensionen. (Seite 78)
Der zwischen 1937 und 1995 in Bombay, London, New York und Mexiko spielende Roman beginnt mit einem Erdbeben, und bereits in der sechsten Zeile liegt eine Nackte mit ausgebreiteten Armen auf einem aztekischen Opferaltar. Verschmitzt und mit überbordender Fabulierlaune erzählt Salman Rushdie unzählige Episoden einer farbigen, teilweise aberwitzigen Handlung mit mehreren ineinander verflochtenen Erzählsträngen, in der immer wieder indische und griechische Mythen anklingen. Beim Lesen der ebenso lebendigen wie bilderreichen und poetischen Geschichte glaubt man, einem sehr gebildeten und munter plaudernden Orientalen zuzuhören. Salman Rushdie verfügt in der Tat über eine magische Kraft des Erzählens.
Übrigens hat es den im Roman auftretenden Bandleader Ernest Loring („Red“) Nichols wirklich gegeben. Der 1905 geborene und 1965 gestorbene Kornettist nahm in den Zwangerjahren mit „His Five Pennies“ zahlreiche Platten auf. Die Namen von Nathaniel Hawthorne Crossley und Waldo Emerson Crossley, der beiden Kollegen des Protagonisten bei dem Piratensender „Radio Freddie“, erinnern an zwei amerikanische Schriftsteller: Nathaniel Hawthorne (1804 – 1864) und Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882). „Doodhwala“ ist Hindi und bedeutet Milchmann; die Figur Piloo Doodhwala weist angeblich Züge des indischen Politikers Laloo Prasad Yadav auf. Das sind nur einige der Anspielungen Salman Rushdies.
Der Erzähler Rai wurde wie Salman Rushdie 1947 geboren, und der 14. Februar 1989 war nicht nur ein Valentinstag, also ein Tag der Liebenden, sondern an diesem Tag verhängte Ayatollah Khomeini die Fatwa über den indischen Schriftsteller.
„Der Boden unter ihren Füßen“ soll angeblich von dem Regisseur Raoul Ruiz und mit Salma Hayek als Vina Apsara und Naveen Andrews als Ormus Cama verfilmt werden.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Kindler Verlag
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