Salman Rushdie : Harun und das Meer der Geschichten

Harun und das Meer der Geschichten
Originalausgabe: Haroun and the Sea of Stories, London 1990 Harun und das Meer der Geschichten Übersetzung: Gisela Stege Kindler Verlag, München 1991 Knaur-Taschenbuch, München 1993 ISBN: 3-426-60092-7, 256 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2005 ISBN: 3-499-23936-1, 254 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Raschid Khalifa ist ein fantasievoller Geschichtenerzähler, aber als ihn seine Frau verlässt, fällt ihm nichts mehr ein. Der Erzählwasserhahn wird ihm abmontiert. Um dagegen etwas zu unternehmen, fliegt sein Sohn Harun auf einem künstlichen Wiedehopf zum Mond Kahani, auf dem sich das Meer der Geschichten befindet. Dort hat Khattam-Shud, der Feind der Geschichten, damit begonnen, den Urquell der Erzählströme zu verstopfen ...
mehr erfahren

Kritik

"Harun und das Meer der Geschichten" ist ein ideenreiches, kluges, lustiges und mit viel Liebe zum Detail erzähltes Märchen voller Abenteuer. Salman Rushdie ruft damit auch zum Widerstand gegen despotische Regime auf.
mehr erfahren

Raschid Khalifa

Es war einmal im Lande Alifbay eine traurige Stadt, die traurigste von allen Städten, so todtraurig, dass sie sogar ihren Namen vergessen hatte. Sie stand an einem freudlosen Meer voller Wehmutfischen, die so elend schmecken, dass die Menschen nach ihrem Genuss vor lauter Trübsinn Magenschmerzen bekamen, auch wenn der Himmel strahlend blau war.
Im Norden der Traurigen Stadt standen mächtige Fabriken, in denen die Traurigkeit (wie man mir sagte) produziert, verpackt und in alle Welt verschickt wurde, wo man niemals genug davon zu bekommen schien. Aus den Schornsteinen dieser mächtigen Fabriken quoll dicker schwarzer Rauch und lastete schwer wie eine Trauerbotschaft auf der Stadt. (Seite 9)

So beginnt Salman Rushdie seinen Roman „Harun und das Meer der Geschichten“.

Das Märchen handelt von Harun, dem Sohn des fantasievollen Geschichtenerzählers Raschid Khalifa, der auch den Spitznamen „Schah von Bla“ trägt. Raschid wohnt mit seiner Ehefrau Soraya und Harun im Erdgeschoss eines kleinen Hauses. Im Stockwerk darüber lebt Mr Sengupta mit seiner Frau Oneeta. Der dürre, knauserige Büroangestellte ist nicht gut auf Raschid Khalifa zu sprechen, denn der hält nichts von Geschichten:

„Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind?“ (Seite 15)

Unverständlicherweise brennt Soraya eines Tages mit Mr Sengupta durch. Dem betrogenen Ehemann fällt daraufhin keine Geschichte mehr ein; seine Fantasie ist versiegt. Deshalb zieht er sich auf einer Parteiversammlung in der Stadt G den Unwillen der Veranstalter zu. Aber die Politiker haben ihn noch für einen Auftritt im K-Tal gebucht. Raschid Khalifa und sein Sohn Harun benutzen den Postbus, um hinzukommen. Am Ufer des Bleiernen Sees werden sie von Mr Abergutt abgeholt und zu einem komfortablen Hausboot gebracht, auf dem sie übernachten sollen.

Das Land Gup

Nachts wacht Harun auf. Aus dem Bad hört er seltsame Geräusche. Sie stammen von dem blaubärtigen Wasser-Dschinn Wenn, der gerade dabei ist, den Erzählwasserhahn abzumontieren. Angeblich hat Raschid Khalifa das Abonnement gekündigt. Harun bezweifelt es, denn er weiß, dass sein Vater in den letzten Tagen keinen Brief schrieb. Wenn klärt ihn jedoch darüber auf, dass man die Kündigung seinen Gedanken entnommen habe. Selbstverständlich möchte Harun wissen, wie das funktioniert, aber der Dschinn meint, dabei handele es sich um einen P2C2E (prozess too complicated to explain). Beschweren könne Harun sich nur in Gup City, und zwar beim Walross, dem Oberkontrolleur. Harun nimmt Wenn das Werkzeug weg und erpresst den Dschinn auf diese Weise, ihn mit nach Gup City zu nehmen, denn er will unbedingt den Irrtum aufklären und dafür sorgen, dass das Erzählwasser für seinen Vater wieder fließt.

Wenn und Harun, der nur ein Nachthemd trägt, fliegen auf einem künstlichen Wiedehopf mit Namen Aber zum Kahani, dem zweiten Mond der Erde, von dem die Menschen nichts wissen, weil er sich so rasch bewegt, dass ihn irdische Instrumente nicht erfassen können. Die Oberfläche scheint ganz aus Wasser zu bestehen. Schon bevor sie nach Gup City kommen, stellt sich heraus, dass die Erzählströme verschmutzt sind.

Bestimmte, allgemein beliebte Liebesgeschichten sind zu nichts als endlosen Einkaufslisten verkommen. Kindergeschichten ebenfalls. (Seite 93)

Während das von König Plappergee regierte Land Gup ohne Unterlass von der Sonne beschienen wird, herrscht auf der anderen Seite des Mondes immerwährende Dunkelheit. Dort ist Chup, das Reich von Khattam-Shud, dem Erzfeind aller Geschichten und sogar der Sprache. Er beansprucht, als Kultmeister von Bezeban verehrt zu werden und hat den Chupwalas das Sprechen verboten.

Das Meer der Geschichten

Unmittelbar vor Haruns Ankunft in Gup wurde Prinzessin Batcheat entführt, die Prinz Bolo versprochene einzige Tochter des Königs. In Gup ist man überzeugt, dass Khattam-Shud sie in der Zitadelle von Chup gefangen hält. Vermutlich geht auch die Verunreinigung im Meer der Geschichten von ihm aus.

Zur Überraschung Haruns wird sein Vater vor den König gezerrt. Es stellt sich heraus, dass Raschid Khalifa herausgefunden hat, wie man sich durch den Genuss bestimmter Speisen an beliebige Orte versetzen kann. Als er am Rand von Gup auftauchte, hielt man ihn für einen Spion und nahm ihn fest. Harun klärt die Anwesenden jedoch darüber auf, dass sein Vater ein Geschichtenerzähler aus der Traurigen Stadt im Lande Alifbay ist.

Es gilt nun zwei Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen: Prinzessin Batcheat muss gerettet werden, und es ist höchste Zeit, das Meer der Geschichten zu säubern. Khattam-Shud hat sich wahrscheinlich aufgeteilt, indem sich sein Schatten verselbstständigte: Der eine Khattam-Shud wird in Chup vermutet, der andere am Südpol von Kahani, wo sich der Urquell des Meeres der Geschichten befindet. Während König Plappergee, Prinz Bolo und General Kitab mit ihrer Streitmacht – der sich auch Raschid Khalifa anschließt – nach Chup marschieren, um die Prinzessin zu befreien, fliegt Harun auf dem Wiedehopf Aber zum Südpol. Begleitet wird er von seinen neuen Freunden, zu denen nicht nur Wenn und die beiden Vielmaulfische Goopy und Bagha gehören, sondern auch der Schwimmende Gärtner Mali, der auf Haruns Frage, was er zu tun habe, erklärt:

„Instandhaltung. Verworrene Geschichtenströme entwirren. Und entknoten. Unkraut jäten. Kurz gesagt: gärtnern.“ (Seite 92)

Am Südpol, der sich auf der Nachtseite von Kahani befindet, werden Harun, Wenn und Aber von Chupwalas mit einem Netz der Nacht gefangen. Mali entkommt den Feinden. Diese schrauben den Kopf des Wiedehopfs auf und entnehmen ihm das Steuer- und Speichermodul. Dann bringen sie ihre Gefangenen auf ein Schattenschiff. Harun kennt zwar Glühbirnen, aber die Chupwalas verwenden das Gegenteil: Dunkelbirnen, die statt Licht Dunkelheit verströmen. Er und seine Freunde werden vor einen „spindeldürren, mickrigen, verschlagenen, hinterhältigen Federfuchsertyp“ gezerrt, der Harun an Mr Sengupta erinnert. Es handelt sich um Khattam-Shud, genauer gesagt, um dessen Schatten. Khattam-Shud zeigt den Gefangenen stolz, dass auf dem Schiff verschiedene Gifte hergestellt werden, die dazu dienen, das Meer der Geschichten zu vergiften. Gleichzeitig arbeiten Taucher in Giftschutzanzügen daran, den Urquell mit einem riesigen Stöpsel zu verschließen.

„Aber warum hassen Sie die Geschichten so sehr?“, stieß Harun völlig benommen hervor. „Geschichten machen Spaß …“
„Die Welt jedoch ist nicht zum Spaß da“, entgegnete Khattam-Shud. „Die Welt ist zum Beherrschen da.“ (Seite 187)


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Rettung

Mali klettert über die Bordwand hoch und wirft sich über den Generator. Dadurch bricht die Stromversorgung auf dem Schiff zusammen, und es kann keine Dunkelheit mehr erzeugt werden. In dem Durcheinander bemerkt zunächst niemand, dass Harun einen Giftschutzanzug nimmt, anzieht und damit ins Wasser springt. Er trinkt aus einem gleich bei seiner Ankunft im Meer der Geschichten mit Wunschwasser gefüllten Fläschchen und wünscht sich, dass der Südpol durch eine außergewöhnliche Drehung des Mondes Kahani von der Sonne beschienen wird. Nach ein paar Sekunden geht rasend schnell die Sonne auf und bleibt im Zenit stehen. In Gup City wundern sich dagegen die Bewohner darüber, dass es zum ersten Mal in der Geschichte dunkel wird und sie die Sterne sehen können. Im Licht der Sonne schmelzen die Chupwalas und ihr Schiff wie Eiscreme. Der Stöpsel sinkt auf den Meeresboden, ohne Schaden anzurichten.

Inzwischen erreichte die Streitmacht von Gup die Schattenzone. Dort trafen die Soldaten auf den Schattenkrieger Mudra, der ihnen in Zeichensprache erklärte, dass er sich von Khattam-Shud und dem Bezeban-Kult losgesagt habe. Er schloss sich ihnen an.

Auf der Bat-Mat-Karo-Ebene vor den Toren von Chup City kommt ihnen ein Parlamentär entgegen, der schließlich mit „Elfenbeinfiguren, Kegeln, Jadefiguren, Teetassen aus Porzellan, lebenden Schildkröten, brennenden Zigaretten, Hüten“ zu jonglieren beginnt. Miss Plaudertasch, die selbst jonglieren kann, entdeckt plötzlich, dass unter den herumwirbelnden Gegenständen eine Bombe mit brennender Zündschnur ist. Ein Selbstmordattentäter! Sie fängt den Sprengkörper und wirft ihn weit weg, keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Augenblick explodiert er.

General Kitab besiegt mit seiner Streitmacht die Gegner und zieht in die eroberte Stadt ein, wo Prinzessin Batcheat ihrem Verlobten in die Arme fliegt. Da geht plötzlich die Sonne auf. Die Gebäude schmelzen. Der Kopf der Götzenstatue Bezaban poltert herab – und zerschmettert Khattam-Shud, der gerade fliehen wollte.

Mudra bildet eine neue Regierung in Chup, und zwischen seinem Reich und dem von Gup herrscht fortan Frieden.

Prinz Bolo und Prinzessin Batcheat feiern Hochzeit.

Rückkehr

Harun und sein Vater kehren zum Bleiernen See zurück, wo sich herausstellt, dass die Nacht noch gar nicht vorbei ist.

Am Morgen werden sie von Abergutt und dessen Leibwächtern abgeholt. Das Volk hat sich bereits versammelt, um Raschid Khalifa zuzuhören. Er blinzelt seinem Sohn zu und nennt zunächst den Titel seiner Geschichte: „Harun und das Meer der Geschichten“. Dann beginnt er zu erzählen:

„Es war einmal im Lande Alifbay eine traurige Stadt, die traurigste von allen Städten, so todtraurig, dass sie sogar ihren Namen vergessen hatte.“ (Seite 242)

Raschid Khalifa erzählt von den Chupwalas, die ihren Kultmeister Khattam-Shud zwar hassten, aber nichts gegen den Diktatur unternahmen. Da begreifen die Zuhörer, was sie zu tun haben: Sie bewerfen Abergutt mit faulem Gemüse und zwingen ihn, mit seinen Wachen die Flucht zu ergreifen.

Zurück in der Traurigen Stadt, wundern sich Harun und Raschid Khalifa darüber, dass die Passanten trotz des Regens fröhlich sind und sich wieder an den Namen ihrer Stadt erinnern: Sie heißt Kahani.

Vor ihrem Haus werden sie nicht nur von Oneeta begrüßt, sondern auch von Soraya, die sich von Mr Sengupta getrennt hat.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Ähnlich wie Michael Ende in „Die unendliche Geschichte“, schildert Salman Rushdie in „Harun und das Meer der Geschichten“, wie die Fantasie durch Kleingeister, Bürokraten und Despoten, Informationsmüll und Konsumdenken ausgelöscht wird. „Harun und das Meer der Geschichten“ ist ein ideenreiches, kluges, lustiges und mit viel Liebe zum Detail erzähltes Märchen voller Abenteuer. Salman Rushdie, gegen den der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini am 14. Februar 1989 wegen des Romans „Die satanischen Verse“ eine Fatwa verhängt hatte, ruft mit „Harun und das Meer der Geschichten“ auch zum Widerstand gegen diktatorische Regime auf.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Buchkritik: © Dieter Wunderlich 2002 / 2009
Textauszüge: © Kindler Verlag

Salman Rushdie (Kurzbiografie)

Salman Rushdie: Mitternachtskinder
Salman Rushdie: Die satanischen Verse
Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer
Salman Rushdie: Der Boden unter ihren Füßen
Salman Rushdie: Shalimar der Narr
Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte
Salman Rushdie: Golden House
Salman Rushdie: Quichotte
Salman Rushdie: Victory City

Eveline Hasler - Die Wachsflügelfrau
Eveline Hasler löst den Lebensweg einer der ersten promovierten Frauen und der ersten Juristin Europas in einzelne Szenen auf und ordnet diese nicht chronologisch, sondern wie die Steinchen eines Mosaiks.
Die Wachsflügelfrau