Poll

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Originaltitel: Poll – Regie: Chris Kraus – Drehbuch: Chris Kraus nach Erinnerungen von Oda Schaefer – Kamera: Daniela Knapp – Schnitt: Uta Schmidt – Musik: Annette Focks – Darsteller: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller, Enno Trebs, Gudrun Ritter, Jevgenij Sitochin, Susi Stach, Erwin Steinhauer, Michael Kreihsl u.a. – 2010; 130 Minuten

Inhaltsangabe

Die 14-jährige Oda kommt im Sommer 1914 mit ihrer verstorbenen Mutter im Sarg nach Estland, zu ihrem Vater Ebbo von Siering, der mit seiner neuen Familie auf dem Gut Poll lebt. Der Deutsch-Balte, der seinen Medizin-Lehrstuhl aufgeben musste, seziert in seinem Labor Leichen estnischer Freiheitskämpfer, die von zaristischen Soldaten erschossen wurden. Seine Frau betrügt ihn mit dem Verwalter. Durch Zufall stößt Oda auf einen verletzten Partisan, und sie versteckt ihn vor den Russen ...
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Kritik

"Poll" handelt vom Verfall der Gesellschaft, von Tod und Vergänglichkeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Einiges mag zu ambitioniert und zu dick aufgetragen sein, aber v.a. optisch ist das vielschichtige und abgründige Epos etwas Besonderes.
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Oda von Siering (Paula Beer) wuchs bei ihrer geschiedenen Mutter in Berlin auf. Als diese stirbt, ist Oda 14 Jahre alt. Um die Tote in der baltischen Heimat beerdigen zu können, reist Oda im Sommer 1914 mit dem Sarg nach Estland, wo ihr Vater Ebbo von Siering (Edgar Selge) mit seiner zweiten Ehefrau Milla (Jeanette Hain) und dem Sohn Paul (Enno Trebs) auf dem Gut Poll lebt.

Ebbo von Siering gehört zu den deutschen Aristokraten-Familien, die im Baltikum lange das Sagen hatten. Bei seiner Frau Milla handelt es sich hingegen um eine Estin. Sie gehört dem Volk an, das von Deutschen und Russen gleichermaßen unterdrückt wird. Seit einigen Jahren wird die Herrschaft der Deutschen und der Russen durch estnische Partisanen bekämpft, aber bisher ist es dem zaristischen Militär gelungen, die Aufstände in der estnischen Provinz niederzuschlagen. Die Deutschen pflegen nach wie vor ihr Brauchtum, und russische Offiziere sind zu Gast, wenn Ebbo von Siering zur Hausmusik einlädt.

Der Gutshof am Ostseestrand besteht aus einem neoklassizistischen Mittelteil mit einem Säulenportal und zwei Anbauten auf hölzernen Stelzen. Es sieht so aus, als könne das unproportionierte Ungetüm jederzeit zusammenkrachen. Im ehemaligen Sägewerk hat sich Ebbo von Siering, der vor längerer Zeit seinen Medizin-Lehrstuhl in Berlin verlor, ein Labor eingerichtet. Der im normalen Leben gescheiterte Wissenschaftler kauft den russischen Militärs Leichen von getöteten „Anarchisten“ ab. Er ist besessen von der Idee, den Sitz des Bösen im menschlichen Körper zu finden. Dazu vermisst er die Schädel, öffnet sie und seziert die Gehirne. In den Regalen hat er hunderte von Gläsern mit in Formalin konservierten Präparaten aufgereiht. Oda bringt ihm ein siamesisches Zwillingspaar im embryonalen Stadium mit.

Milla von Siering betrügt ihren Mann, der sich ohnehin nur für seine absurden Forschungen interessiert, mit dem estnischen Verwalter Dirk Mechmershausen (Richy Müller).

Oda ist noch nicht lange da, als die russischen Militärs zwei estnische Freiheitskämpfer jagen. Sie schießen den einen nieder und überlassen die vermeintliche Leiche Ebbo von Siering, der den Mann mit einer Injektion tötet, um ihn dann zu sezieren. Aber dem anderen Esten gelingt es, sich zu verstecken. Oda entdeckt den Verletzten (Tambet Tuisk) durch Zufall in der Ruine einer Kapelle auf dem Gut. Trotz des Risikos ist sie sofort bereit, dem Mann zu helfen. Sie bringt ihn auf den Dachboden des ehemaligen Sägewerks. Dort wird niemand nach ihm suchen. Ihrem Vater spielt sie vor, sie interessiere sich für Medizin, damit er ihr zeigt, wie man eine Wunde näht. Dann versorgt sie die Verletzungen des Esten. Regelmäßig bringt sie ihm etwas zu essen und zu trinken. Allmählich gewinnt sie sein Vertrauen, aber seinen Namen will er nicht verraten. Oda nennt ihn Schnaps, und er gibt ihr den Spitznamen Napoleon. Die beiden jungen Leute interessieren sich füreinander. Schnaps ist Schriftsteller. Seine Werke wurden von den Russen verboten. Oda, die davon träumt, sich einmal als Lyrikerin einen Namen zu machen, lässt sich von ihm Ratschläge geben.

Dass Paul in sie verliebt ist, nutzt Oda, um ihn zu überreden, die Pistole eines russischen Soldaten für sie zu stehlen. Weil er dabei erwischt wird, sperrt sein Vater ihn zur Strafe in einen Schrank und zwingt Oda dazu, ihm mit der Schranktüre die Finger zu quetschen.

Einige Zeit später ruft Paul im Labor des Vaters nach Oda. Als das Quaken eines Frosches, den Oda von Paul geschenkt bekam, sie und Schnaps zu verraten droht, zerdrückt Oda das Tier in der Hand.

Eines Abends sieht Oda das Licht einer Petroleumlampe in den Fenstern des Labors. Aufgeregt rennt sie hin. Schnaps hat sein Versteck verlassen und in einem Glas den präparierten Kopf seines Kameraden gefunden. Kurz darauf kommen Ebbo und Milla von Siering überraschend herein. Oda und Schnaps drücken sich ins Dunkel und wagen kaum zu atmen. Sie werden Zeuge, wie Milla von Siering gegen ihren Ehemann aufbegehrt und schreit, er könne noch so viele Schädel aufsägen und werde doch nie begreifen, was einen Menschen ausmache. Er werde nie verstehen, dass Menschen sich ändern können. Daraufhin schlägt Ebbo von Siering seine Frau und demütigt sie, indem er sie a tergo vergewaltigt.

Ein paar Tage danach fahren die Deutschen zum Picknick an den Strand. Ebbo von Siering will bei dieser Gelegenheit ein Familienfoto aufnehmen lassen. Aber dazu kommt es nicht mehr, denn unvermittelt galoppieren russische Militärs über den Strand. Sie feiern den Ausbruch des Krieges. Hochrufe auf den Zaren werden laut. Hauptmann Karpow (Jevgenij Sitochin) ordnet an, dass ab sofort kein Deutsch mehr gesprochen werden darf.

Mechmershausen fragt Milla nach dem Hämatom unter ihrem Auge, aber sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben. „Nun wird sich alles ändern“, sagt sie zu ihrem Liebhaber.

Oda, die ein Unwohlsein vortäuschte, um allein vom Strand zurückkehren zu können, bereitet mit Schnaps die gemeinsame Flucht vor. Er wollte sich schon zwei Tage zuvor allein auf den Weg machen und sie zu ihrem eigenen Schutz fesseln und knebeln, um einen Überfall vorzutäuschen, aber Oda will ihn unbedingt begleiten. Sie verkleidet sich als Junge. Im letzten Augenblick betäubt Schnaps sie mit Chloroform und legt sie vorsichtig auf den Boden des Speichers über dem Labor.

In diesem Augenblick betritt der über Millas Abweisung frustrierte Gutsverwalter das ehemalige Sägewerk. Hasserfüllt kippt er die Regale um, zertrümmert die Gläser und legt Feuer. Schnaps stürmt ins Freie, wird aber von Dirk Mechmershausen gestellt. Nachdem Schnaps den Verwalter niedergeschlagen hat, geht er zu einem bereitstehenden Pferd. Bevor er aufsitzt, denkt er an das bewusstlose Mädchen auf dem Dachboden. Er rennt zurück in das brennende Gebäude und rettet Oda. Als er mit ihr auf den Armen wieder herauskommt, richtet Mechmershausen ein Gewehr auf ihn.

Leute, die das Feuer von weitem gesehen haben, kommen gelaufen. Mechmershausen zieht sich mit Oda und Schnaps in eine Scheune zurück. Oda erklärt dem Verwalter frei heraus, dass sie dem Aufständischen geholfen habe. Der versucht ihr zu erklären, dass sie den „Anarchisten“ erschießen müssen. Andernfalls würden die Russen sie alle drei töten. Oda soll rausgehen, während er den inzwischen gefesselten Schnaps erschießen will. Aber sie weigert sich und droht damit, den Russen zu sagen, er habe dem Partisan geholfen.

Inzwischen ist auch Ebbo von Siering eingetroffen. Er verdächtigt den Verwalter als Brandstifter, und als er herausfindet, wo Mechmershausen sich versteckt, geht er zu einer Gruppe russischer Offiziere und verrät es ihnen. Mechmershausen zielt durch einen Spalt in der Holzwand der Scheune auf ihn und schießt ihn nieder. Daraufhin umstellen die russischen Militärs die Scheune.

Ebbo von Siering wird auf einer Trage abtransportiert. Milla sagt zu ihm: „Die Zukunft ist vorbei.“

Schnaps kann Mechmershausen überreden, ihn loszubinden und ihm eine Pistole zu geben. Angeblich will er mit dem Verwalter gegen die Russen kämpfen. Er umarmt Oda. Dann setzt er sich die Mündung der Pistole unters Kinn und drückt ab. Durch seinen Selbstmord will er Oda schützen. Sie und der Verwalter können nun behaupten, er habe sie überfallen und in seiner Gewalt gehabt.

Mechmershausen öffnet die Türe und tritt ins Freie. Aber die Russen sind fort. Sie wurden zur Front abkommandiert.

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Im Vorspann von „Poll“ heißt es zwar, es handele sich um eine wahre Geschichte, aber die Handlung ist weitgehend fiktiv. Die spätere Schriftstellerin Oda Schaefer kam 1914 tatsächlich nach Estland und besuchte das Familiengut Poll. Ihre Mutter lebte damals allerdings noch und begleitete sie. In Wirklichkeit lag das Gut Poll im Landesinneren und nicht am Strand. Odas Vater Eberhard Kraus war kein Mediziner, sondern Journalist und kam ebenfalls nur als Besucher nach Poll. Das Gut wurde von Odas Tante Anna und Dirk Mechmershausen verwaltet. (Die beiden heirateten später.) Oda spielte während ihres Aufenthalts in Poll mit ihrem neunjährigen Cousin Paul. Die Figur des estnischen Freiheitskämpfers ist völlig frei erfunden. Außerdem brannte 1914 nicht ein Sägewerk, sondern eine Ziegelei auf dem Gut ab. Oda wollte damals übrigens Schauspielerin werden, nicht Dichterin, wie die Filmfigur.

Im Nachspann heißt es, Ebbo von Siering (1857 – 1918) sei am 3. September 1914 aus Russland ausgewiesen worden und habe sich am 26. Dezember 1918 in Berlin erschossen. Milla von Siering (1872 – 1917) wurde den Angaben zufolge wegen deutschfreundlicher Äußerungen festgenommen und nach Sibirien verbannt, wo sie im Sommer 1917 an Scharlach starb. Dirk Mechmershausen (1864 – etwa 1930) begleitete sie nach Sibirien. Paul von Siering (1898 – 1917), so lesen wir weiter im Nachspann, sei als russischer Leutnant am 16. Juni 1917 vor Riga gefallen.

Während Chris Kraus (* 1963) – der Regisseur und Drehbuchautor des Films „Poll“ – in Mannheim Geschichte und Literatur studierte, stieß er zufällig auf eine Lyriksammlung von Oda Schaefer, und es fiel ihm auf, dass ihr Geburtsname Kraus lautete.

Es stellte sich heraus, dass diese Frau Schaefer meine Großtante war, die einzige Cousine meines Großvaters. Aber noch nie zuvor hatte ich von ihr gehört. In meiner Familie wurde nicht über sie gesprochen, sie war eine persona non grata, eine Salonkommunistin, die sich in ihrer Weltanschauung gegen meine in weiten Teilen nationalsozialistisch orientierte Familie gestellt hatte. Mein Großvater und seine Brüder waren Offiziere in der SS und, wie ich erst heute weiß, in den Einsatzgruppen gewesen, die in Lettland und Estland Zehntausende von Juden erschossen hatten. Eine Person wie Oda Schaefer, die gegen Hitler opponiert hatte und die Nazis für Verbrecher und Idioten hielt, passte nicht ins Bild, war eine Zumutung und wurde als schwarzes Schaf totgeschwiegen. (Chris Kraus im Interview, Presseheft zum Film „Poll“)

Die eigentliche, im Sommer 1914 spielende Handlung ist in einen Rahmen eingebettet: Die knapp 70 Jahre alte Lyrikerin und Schriftstellerin Oda von Siering (Gudrun Ritter) schreibt ihre Memoiren. Zwar gibt es in „Poll“ eine Ich-Erzählerin, aber die Geschichte wird nicht durchgehend aus dieser einen subjektiven Perspektive entwickelt. Zwischendurch schlüpft Chris Kraus auch in andere Figuren.

Gleich zu Beginn hören wir die Erzählerin aus dem Off mit den Worten:

Als ich noch ein Kind war, hat mein Vater mir beigebracht, dass die Erde ein Ort ist, an dem ich eines Tages verschwinden werde. Nichts wird von mir bleiben. Keines meiner Gefühle wird mich überdauern. Es wird sein, als hätte es mich nie gegeben.

Wir werden auf das Thema Tod und Vergänglichkeit eingestimmt. Das bezieht sich hier vor allem auf den Verfall einer Gesellschaft, der auch von dem grotesken Herrenhaus und dem morbiden Laboratorium symbolisiert wird. Das Gut Poll erinnert an das Sanatorium in „Der Zauberberg“. Beide Handlungen spielen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Dass Ebbo von Siering sich mit Phrenologie beschäftigt und nicht davor zurückschreckt, einen noch lebenden „Anarchisten“ zu töten, um ihn dann zu sezieren, verweist auf die kruden Vorstellungen der Rassentheoretiker und die Menschenversuche unter der NS-Herrschaft.

„Poll“ ist ein makabres Märchen für Erwachsene. Einiges mag zu ambitioniert und zu dick aufgetragen sein, aber vor allem optisch ist das vielschichtige und abgründige Epos etwas Besonderes.

Im Mittelpunkt steht die 14-jährige Oda von Siering, die sich an der Schwelle vom Kind zur Frau befindet und ebenso idealistisch ist wie der estnische Freiheitskämpfer, dem sie hilft. Es handelt sich um einen außergewöhnlich starken Charakter, der von Paula Beer (* 1995) ebenso facettenreich wie ausdrucksstark dargestellt wird. Bevor sie dafür vor der Kamera stand, hatte sie nur erste Schauspielerfahrungen mit dem Jugendensemble des Berliner Friedrichstadtpalasts gesammelt. Dennoch setzte sich die Schülerin beim Casting gegen 2500 Konkurrentinnen durch und erwies sich als Idealbesetzung.

Das Gutshaus wurde eigens für „Poll“ bei dem Dorf Matsi in der südwestestnischen Gemeinde Varbla errichtet. Die Bauzeit betrug ein halbes Jahr. Weil es in der Umgebung keine Verkehrsanbindung gibt, musste das Baumaterial mit Schiffen angeliefert werden. Es war auch nicht einfach, 1000 Komparsen, 150 Mitglieder der Filmcrew, Hunderte von Kostümen und andere Ausstattungsgegenstände in den abgelegenen Ort zu bringen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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