Christiane Nüsslein-Volhard

Christiane Volhard wurde am 20. Oktober 1942 in Magdeburg als zweites von fünf Kindern des Architekten Rolf Volhard und dessen Ehefrau Brigitte, einer Kindergärtnerin, geboren. Nach dem Krieg suchte die Familie Zuflucht bei Christianes Großvater, der in Frankfurt-Sachsenhausen ein Haus besaß und als Facharzt für Herz- und Nierenkrankheiten tätig war.

Bereits als Kind begeisterte Christiane sich für Tiere und Pflanzen, und seit ihrer Pubertät wollte sie Biologin werden. So hielt sie denn auch im Rahmen der Abiturfeier am Schiller-Gymnasium in Frankfurt am Main ein Referat über die »Sprache bei Tieren«. 1962 immatrikulierte sich Christiane Volhard für ein Biologie-, Physik- und Chemiestudium an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität. Nach zwei Jahre wechselte sie zur Eberhard-Karls-Universität Tübingen und setzte ihr Studium mit dem Fach Biochemie fort.

Noch während des Studiums heiratete sie 1967 den Physiker Volker Nüsslein. Nach dem Diplom (1968) arbeitete Christiane Nüsslein-Volhard am Max-Planck-Institut für Virusforschung in Tübingen und schrieb in dieser Zeit auch ihre Dissertation, mit der sie 1973 promovierte.

Danach blieb Christiane Nüsslein-Volhard zunächst noch ein Jahr am Max-Planck-Institut in Tübingen, bevor sie ein Forschungsstipendium als Postdoktorandin am Biozentrum Basel erhielt. 1977 wurde ihre Ehe geschieden, und sie ging als Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft an die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, zu dem Insektenembryologen Klaus Sander. Von 1978 bis 1980 leitete sie eine Forschungsgruppe an dem neuen Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium (EMBL) in Heidelberg. Dann kehrte sie nach Tübingen zurück und wurde dort Gruppenleiterin am Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft (1981 – 1984).

Seit 1985 ist Christiane Nüsslein-Volhard wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Zwischendurch lehrte sie als Gastprofessorin an führenden Universitäten in den USA, darunter Yale und Harvard. Außerdem ist sie seit 1991 Honorarprofessorin in Tübingen.

Zwei Jahre nach Christiane Volhards Geburt bewies Oswald Avery, dass die Gene aus Desoxyribonucleinsäure (DNS) bestehen, und 1962, als Christiane Volhard gerade ihr Biologie-Studium in Frankfurt am Main begann, erhielten der Engländer Francis H. C. Crick und der Amerikaner James D. Watson den Nobelpreis für Medizin. Den beiden Wissenschaftlern war es 1953 mit Hilfe der Röntgen-Beugungsbilder des Londoner Physikers Maurice H. F. Wilkins gelungen, die Feinstruktur der DNS aufzuklären. Von da an nahm die Genetik einen enormen Aufschwung – und geriet bald in die Schlagzeilen. Politiker und Juristen, Philosophen und Theologen diskutieren seither über Themen wie künstliche Befruchtung (»Retortenbabys«), Präimplantationsdiagnostik, Klonen, die Entschlüsselung des Humangenoms, Chancen und Risiken der Gentechnik, Stammzellenforschung.

In ihrer eigenen Forschungsarbeit verband Christiane Nüsslein-Volhard von Anfang an genetische mit entwicklungsbiologischen Fragestellungen und wollte wissen, wie aus einer befruchteten Eizelle ein aus vielen ganz unterschiedlichen Zellen bestehender Organismus entsteht, also Komplexes aus Einfachem.

»Leben ist das Faszinierendste, was es gibt«, schrieb sie. »Innerhalb von kurzer Zeit entsteht in einem Ei, das aus nicht viel mehr als einem Säckchen Dotter besteht, umhüllt von einer schützenden Schale, ein Küken, das laufen, sehen und essen kann.« Weil sie die entsprechenden Vorgänge bei der Taufliege (Drosophila melanogaster) untersuchte, erhielt sie den Spitznamen »Herrin der Fliegen« (nach dem Roman »Der Herr der Fliegen« von William Golding). Christiane Nüsslein-Volhard entdeckte und beschrieb Gene, denen bei der Ausformung des Embryos eine Schlüsselrolle zukommt, und sie fand heraus, dass die Festlegung von oben und unten sowie vorn und hinten im Ei durch verschiedene Konzentrationen morphogener Substanzen gesteuert wird (Gradiententheorie).

In den Neunzigerjahren wandte sich Christiane Nüsslein-Volhard einem anderen Tier zu: dem Zebrafisch (Brachydanio rerio). Der ist dafür besonders geeignet, weil die Embryos außerhalb des Mutterleibs heranwachsen und durchsichtig sind. Erwartungsgemäß stieß die Wissenschaftlerin dabei auf wesentliche Übereinstimmungen der biochemischen Vorgänge der Embryogenese bei Insekten und Wirbeltieren. Zwischen Eier legenden Tieren und Säugetieren besteht allerdings ein Unterschied: Die außerhalb des Mutterleibs heranwachsenden Eier bekommen alle für die Ausformung des Embryos erforderlichen Stoffe und Steuerungen mit. Embryonen, die sich im Uterus einnisten, sind dagegen nicht nur auf die Ernährung, sondern auch auf die Steuerung der Entwicklung durch den mütterlichen Organismus angewiesen.

Nachdem Christiane Nüsslein-Volhard 1985 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und 1991 mit dem Albert Lasker Medical Research Award die höchste wissenschaftliche Ehrung der USA erhalten hatte, zeichnete der Bundespräsident sie 1994 mit dem Verdienstkreuz und elf Jahre später mit dem Großen Verdienstkreuz aus. Außerdem wurde Christiane Nüsslein-Volhard 1997 in den Orden Pour le Mérite aufgenommen. Den Höhepunkt der zahlreichen Ehrungen bildete 1995 der Nobelpreis für Medizin, den sie sich mit ihren Kollegen Eric F. Wieschaus und Edward B. Lewis teilte. Damit würdigte das Nobelkomitee die epochalen Erkenntnisse der drei Wissenschaftler über die grundlegenden genetischen Steuerungsmechanismen der frühen Embryonalentwicklung.

1998 gründete Christiane Nüsslein-Volhard mit Peter Stadler, einem ehemaligen Manager der Bayer AG, und dem Kölner Genetiker Klaus Rajewsky die »Artemis Pharmaceuticals GmbH«, ein auf die Entwicklung von gentechnisch hergestellten Medikamenten spezialisiertes Unternehmen.

Die Bundesregierung berief die Nobelpreisträgerin 2001 in den nationalen Ethikrat. In den – nicht nur in diesem Gremium – heftig umstrittenen Fragen der Genetik gilt Christiane Nüsslein-Volhard als Befürworterin liberaler Regelungen.

Den Kritikern einer gentechnischen Veränderung von Lebensmitteln hält sie entgegen, dass Nutztiere und -pflanzen schon immer gezüchtet wurden: Um nicht auf zufällige Mutationen warten zu müssen, kreuzte man zwei verschiedene Arten und hoffte auf eine Kombination der angestrebten Eigenschaften. Effektiver ist es, wenn man dem Erbgut einer Pflanze oder eines Tieres ein isoliertes Gen mit bekannten Eigenschaften hinzufügt.

Das Klonen von Menschen lehnt Christiane Nüsslein-Volhard ebenso entschieden ab wie die Zeugung von »Menschen nach Maß oder Wunsch«, doch beides hält sie ohnehin eher für »Ideen und Utopien, die von Politikern, Poeten und Philosophen diskutiert werden«.

Das in Deutschland geltende fast vollständige Verbot der Forschungsarbeit mit embryonalen Stammzellen wird von Christiane Nüsslein-Volhard abgelehnt, nicht nur, weil sie sich davon die Entwicklung wirksamer Therapien für Patienten mit Diabetes, Parkinson und Multipler Sklerose verspricht, sondern auch, weil die Verwendung embryonaler Stammzellen – die bei künstlichen Befruchtungen ohnehin übrigbleiben – für Forschungszwecke in anderen europäischen Ländern erlaubt ist und von der EU gefördert wird. Sollten im Ausland auf der Basis der Stammzellen-Forschung Therapien entwickelt werden, könnten diese den deutschen Patienten kaum vorenthalten werden. Damit entstünde eine paradoxe Situation.

Seit 2005 gehört Christiane Nüsslein-Volhard auch dem Scientific Council des European Research Councils (ERC) der EU an.

Zur Unterstützung junger Wissenschaftlerinnen mit Kindern gründete sie die »Christiane Nüsslein-Volhard Stiftung«.

Christiane Nüsslein-Volhard: Bibliographie (Auswahl)

  • Von Genen und Embryonen (Reclam, Stuttgart 2004)
  • Das Werden des Lebens. Wie Gene die Entwicklung steuern (C. H. Beck, München 2004)

Literatur über Christiane Nüsslein-Volhard

  • Judith Rauch: Verstehen, wie das Leben funktioniert. In: Charlotte Kerner (Hg): Madame Curie und ihre Schwestern. Frauen, die den Nobelpreis bekamen (Beltz, Weinheim / Basel 1997)

© Dieter Wunderlich 2006

Der Code des Lebens: DNS

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