Reichstagsbrand


Am 18. Februar 1933, gut einen Monat nach seinem 24. Geburtstag, kommt der arbeitslose holländische Maurer Marinus van der Lubbe nach Berlin. Die Nacht auf den 27. Februar verbringt er im Polizeiasyl von Henningsdorf. Am Morgen geht er zu Fuß los, kauft von seinem letzten Geld vier Pakete Kohleanzünder und trifft am frühen Nachmittag in der Berliner Innenstadt ein. Kurz nach 21 Uhr klettert er durch ein Fenster in das Reichstagsgebäude. Hastig zündet er Vorhänge, Handtücher und Tischdecken an, zieht seinen Mantel und das Jackett aus, hält sie in die Flammen und schleudert die lodernden Kleidungsstücke in die Ecken. Schließlich brennt der Plenarsaal; die Glaskuppel zerbirst. Um 21.22 Uhr treffen Polizei und Feuerwehr ein. Als der Brandstifter, der mit seinem brennenden Hemd in der Hand keuchend durch die Gänge läuft, Polizisten sieht, bleibt er stehen und schreit: „Protest!“

Hitler und andere Parteiführer essen zu dieser Zeit in Goebbels‘ Wohnung am Reichskanzlerplatz zu Abend. Das Telefon läutet; der Hausherr hebt ab. Es meldet sich Ernst Hanfstaengl, ein persönlicher Freund Hitlers, der wegen einer fiebrigen Erkältung in einem Gästezimmer des Reichstagspräsidenten-Palais liegt. Goebbels kann nicht glauben, was er hört und schreit: „Der Reichstag brennt! Soll das ein Witz sein?“ Gleich darauf greift er wieder zum Telefonhörer: „Ich habe mit dem Führer gesprochen; er will wissen, was wirklich los ist. Keine Scherze mehr!“ Hanfstaengl erwidert verärgert: „Kommen Sie gefälligst selbst her und überzeugen Sie sich, ob ich Unsinn rede oder nicht. Das ganze Gebäude steht in Flammen.“

So rasch es die vereisten Straßen erlauben, lassen sich Hitler und Goebbels zum Reichstag fahren. Franz von Papen, Hermann Göring, der Berliner Stadtkommandant und der Polizeipräsident sind bereits da. Göring brüllt mit gerötetem Gesicht gegen den Lärm: „Es handelt sich um ein kommunistisches Attentat; einer der Täter ist schon gefunden.“ Wer der Verhaftete sei, fragt Goebbels. Göring weiß vorerst nur, dass es sich um einen „holländischen Kommunisten“ handelt. „Aber wir werden es aus ihm herausbringen. Haben Sie keine Angst, Doktor!“

Als kommissarischer Innenminister von Preußen erhält Göring anschließend in der Reichskanzlei freie Hand zur Niederschlagung des „kommunistischen Aufstands“. Um 1 Uhr nachts legt ihm sein Pressereferent Martin Henry Sommerfeldt den Entwurf für den offiziellen Bericht im „Amtlichen Preußischen Pressedienst“ vor. Göring überfliegt den Text, wischt mit dem Unterarm auf seinem Schreibtisch alles zur Seite und tobt: „Das ist Mist! Das ist ein Polizeibericht vom Alex [Alexanderplatz], aber das ist kein politisches Kommuniqué!“ Sommerfeldt hält dagegen: „Das sind die Feststellungen, die die Feuerwehr und die Polizei getroffen und mir mitgeteilt haben. Es ist das von Ihnen angeforderte amtliche Material!“ Aber Göring donnert: „Das ist Quatsch!“ Er nimmt einen dicken Farbstift: „Ein Zentner Brandmaterial? Zehn, hundert Zentner!“ Sommerfeldt gibt zu bedenken: „Das ist unmöglich, Herr Minister, kein Mensch glaubt Ihnen, dass ein Mann hundert Zentner …“ „Nichts ist unmöglich! Ein Mann? Das war nicht ein Mann, das waren zehn, zwanzig Männer! Mensch, wollen Sie denn nicht begreifen – das war die Kommune! Das ist das Signal zum kommunistischen Aufstand! Das Fanal! Es geht los!“ Im Büro hin- und herlaufend diktiert Göring einer Sekretärin den Bericht für das amtliche Nachrichtenbüro.

Sommerfeldt erfährt, dass der Reichspropagandaleiter der NSDAP die Meldung über den Brand im Reichstag bereits im In- und Ausland verbreiten lässt. „Mit Gewalt, Blut und Schrecken wollen die bolschewistischen Meuchelmörder eine Panik über Deutschland bringen, um von der Welle des Entsetzens sich selbst hochtragen zu lassen“, behauptet Goebbels im „Angriff“. „Rottet diese Pest in Deutschland so gründlich aus, dass nicht einmal der Name davon übrig bleibt! … Entweder versinkt Deutschland in diesen Schwaden von Tränen und Blut, oder die Nation gibt Hitler die Möglichkeit, dem roten Spuk ein kurzes aber hartes Ende zu bereiten. … Hitler will handeln! Gebt ihm die Macht dazu! Reißt am 5. März [Reichstagswahl] die Tore auf, damit er, der Fahnenträger der Nation, unsere Standarte ins neue Reich hineintragen kann!“

In der Kabinettssitzung am 28. Februar legt Göring dar, er gehe von mindestens sechs bis sieben Brandstiftern aus. Sämtliche Büros der KPD habe er bereits schließen und alle greifbaren Abgeordneten und Funktionäre der Partei verhaften lassen. Eilends verabschieden die Minister eine Verordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“, die der Reichspräsident noch am selben Tag unterschreibt. „Zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ werden Grundrechte „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt“. „Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.“

Hitler tobt am 2. März, man hätte den Brandstifter sofort aufhängen sollen, und Göring brüstet sich tags darauf in einer Rede: „Volksgenossen, meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“ Innerhalb von zwei Wochen werden allein in Preußen 7784 Personen eingesperrt. Göring sei „ganz groß in Fahrt“ und räume in Preußen „mit einer herzerfrischenden Forschheit“ auf, lobt Goebbels. „Er hat das Zeug dazu, ganz radikale Sache zu machen, und auch die Nerven, um einen harten Kampf durchzustehen.“

Alfred Rosenberg, der Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“, sagt zu dem britischen Journalisten Sefton Delmer: „Ich hoffe nur, es ist nicht das Werk unserer Burschen. Es ist genau eines jener verdammt blöden Stücke, die ihnen ähnlich sehen.“

Kaum jemand glaubt Göring und Goebbels, die behaupten, es habe sich beim Reichstagsbrand um das Fanal einer kommunistischen Revolution gehandelt. Viele halten Goebbels für den Drahtzieher oder verdächtigen Göring, den Anschlag inszeniert zu haben – zumal der Reichstag und das Palais des Reichstagspräsidenten durch einen 120 Meter langen unterirdischen Gang verbunden sind. Als man Göring berichtete, der Reichstag brenne, witzeln die Berliner, blickte er auf die Uhr und sagte: „Schon?“ Tatsächlich prahlt Göring später: „Der Einzige, der den Reichstag wirklich kennt, bin ich.“ Nach einer kleinen Kunstpause klopft er sich auf die Schenkel und fügt lachend hinzu: „Ich habe ihn ja angezündet.“ Ein Scherz? Im Nürnberger Prozess wird Göring abstreiten, dass er etwas mit dem Brandanschlag zu tun hatte.

Nach dem Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege“ (keine Strafe ohne ein zum Tatzeitpunkt gültiges Gesetz) braucht Marinus van der Lubbe nur mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen, denn die Todesstrafe für Brandstiftung wurde erst mit der Verordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“ am Tag nach der Tat eingeführt. Aber das NS-Regime erklärt am 29. März, das verschärfte Strafmaß gelte rückwirkend.

Am 21. September beginnt vor dem Leipziger Reichsgericht der Prozess. Angeklagt sind außer Marinus van der Lubbe vier Kommunisten: ein Deutscher und drei Bulgaren. Göring sagt am 4. November als Zeuge aus. Er kommt eine Stunde zu spät und hält dann erst einmal eine ausschweifende Philippika gegen den Kommunismus. Obwohl der Rundfunk live aus dem Gerichtssaal überträgt, lässt er sich von dem Angeklagten Georgij Dimitroff provozieren und verliert die Selbstbeherrschung: „Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der längst an den Galgen gehört. … Sie werden Angst haben, wenn ich Sie erwische, wenn Sie hier aus dem Gericht raus sind, Sie Gauner, Sie!“ Vier Tage nach Göring sagt Goebbels aus. Von Georgij Dimitroff in die Enge getrieben, muss er während seines dreistündigen Auftritts zugeben, dass die NS-Machthaber politische Gegner verfolgen und ausschalten, ohne deren verfassungsmäßige Rechte zu berücksichtigen.

Marinus van der Lubbe beteuert, er habe das Feuer allein gelegt. Tatsächlich werden seine Mitangeklagten freigesprochen und er selbst am 23. Dezember 1933 zum Tod verurteilt. Obwohl das Reichsgericht aufgrund der vorgelegten Gutachten überzeugt ist, dass ein einzelner Täter ohne Helfer nicht in der Lage war, innerhalb weniger Minuten im Reichstag einen Großbrand auszulösen, sucht kein Staatsanwalt nach möglichen Hintermännern.

Göring sorgt dafür, dass die drei soeben freigesprochenen Bulgaren eingesperrt bleiben. (Wegen des internationalen Protestes ordnet Hitler jedoch am 26. Februar 1934 ihre sofortige Ausweisung in die Sowjetunion an.)

Marinus van der Lubbe wird am 10. Januar 1934 – drei Tage vor seinem 25. Geburtstag – enthauptet.

Heute glaubt niemand mehr, dass die Kommunisten mit dem Reichstagsbrand ein Fanal setzen wollten. Aber seit Jahrzehnten wird darüber gestritten, ob die Nationalsozialisten den Anschlag initiiert hatten oder nicht.

Goebbels sei auf die Idee gekommen, den Reichstag anzuzünden, sagte Hans Bernd Gisevius am 25. April 1946 unter Eid aus, und Göring habe die Polizei auf falsche Fährten gelenkt.

Golo Mann schrieb: „Die Vermutung, jene, die so ungeheuren Vorteil aus ihm [dem Reichstagsbrand] zogen, hätten ihn auch angestiftet, hat sich damals sofort verbreitet, und das ist charakteristisch: man traute ihnen ein solches Verbrechen zu, mit Empörung, mit Bewunderung oder mit heimlichem Lachen.“

Die Möglichkeit einer Einzeltäterschaft wurde 1959/60 in der „Spiegel“-Serie „Stehen Sie auf, van der Lubbe“ von Fritz Tobias vertreten und später von namhaften Historikern wie Hans Mommsen übernommen. Hans Schneider vom Institut für Zeitgeschichte in München glaubte zwar, die These widerlegen zu können, aber seine Studie wurde erst 2004 postum veröffentlicht.

Alexander Bahar und Wilfried Kugel gehörten zu den Vertretern des Lagers, in dem davon ausgegangen wurde, dass der Reichstagsbrand von den Nationalsozialisten selbst gelegt worden war. Sie behaupteten, man habe Göring, Hitler und Goebbels bereits um 21 Uhr telefonisch über den Reichstagsbrand unterrichtet, zu einem Zeitpunkt, als der von einem nationalsozialistischen Agent provocateur angestiftete oder zumindest in seinem Vorhaben bestärkte Marinus van der Lubbe gerade erst vor dem Reichstagsgebäude angekommen sei. Bahar und Kugel nahmen an, Goebbels habe den Anschlag geplant, um vor den Reichstagswahlen am 5. März 1933 die KPD auszuschalten. Göring habe schon deshalb eingeweiht werden müssen, weil „ein Kommando von minimal 3, maximal 10 SA-Leuten“ am 27. Februar gegen 20 Uhr durch den unterirdischen Gang von seinem Palais ins Reichstagsgebäude eingedrungen sei und den Plenarsaal mit einer Mischung aus Phosphor, Mineralöl und Benzin präpariert habe.

Den aktuellen Stand in der Forschung über den Reichstagsbrand bzw. in der Diskussion über die Täterschaft gibt das von Dieter Deiseroth unter dem Titel „Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht“ herausgegebene Buch wider (Verlagsgesellschaft Tischler, Berlin 2006, 380 Seiten, 24 €). In einer gründlich recherchierten Untersuchung kam Sven Felix Kellerhoff zu der Überzeugung, dass Marinus van der Lubbe ein Einzeltäter gewesen sei (Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls, Be.bra Verlag, Berlin 2008, 160 Seiten, 14.90 €).

Nachdem der Bruder des Hingerichteten jahrelang vergeblich versucht hatte, die Rehabilitierung von Marinus van der Lubbe zu erreichen, wurde das Urteil am 10. Januar 2008 – 74 Jahre nach der Hinrichtung – auf der Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1998 aufgehoben.

© Dieter Wunderlich 2002 / 2008

Daniel Glattauer - Gut gegen Nordwind
Daniel Glattauer holt das Genre des Briefromans in die Ära der elektronischen Kommunikation. Allein mit (fiktiven) E-Mails entwickelt er eine komplette Geschichte. "Gut gegen Nordwind" ist romantisch, lebendig, tempo- und pointenreich, spannend, unterhaltsam und originell.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.