Marvel Moreno : Im Dezember der Wind

Im Dezember der Wind
En diciembre llegaban las brisas Plaza & Janés, Barcelona 1987 Im Dezember der Wind Übersetzung: Rike Bolte Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023 ISBN 978-3-8031-3354-0, 448 Seiten ISBN 978-3-8031-4364-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am Beispiel von drei Kolumbianerinnen zeigt Marvel Moreno, wie die Frauen in den Fünfzigerjahren unter dem Machismo leiden. In der patriarchalischen Gesellschaft darf es keine weibliche Sexualität geben. Der Körper der Frau diene nicht zur Konkupiszenz, sondern zur Reproduktion, erklärt ein Priester. Marvel Moreno plädiert für die freie Verfügbarkeit der Frau über ihren Körper als Voraussetzung für eine bessere Gesellschaft.
mehr erfahren

Kritik

Marvel Moreno schreibt zornig und kraftvoll. Sie erzählt nicht chronologisch oder gar stringent, sondern assoziativ ausschweifend. Dieses Überbordende und die Fülle der Figuren erschweren bei der Lektüre von "Im Dezember der Wind" den Überblick ebenso wie die von einer hypotaktischen Syntax und ungewöhnlich langen Absätzen geprägte wilde und zugleich anspruchsvolle Sprache.
mehr erfahren

Doña Eulalia

Eulalia del Valle Álvarez de la Vega stammt aus einer Familie, die aus Spanien in die kolumbianische Hafenstadt Barranquilla kam und „in der über fünfhundert Jahre lang niemand gearbeitet hatte“.

Doña Eulalia war von ihrer Mutter erzogen worden, jenem Mädchen, das – in der Hochzeitsnacht von ihrem Mann vergewaltigt und von einem Tierarzt zusammengeflickt – neun Monate lang ein Kind im Bauch trug, das, als es sich aus ihrem Unterleib schob, Gebärmutter und Eierstöcke mit sich riss und aus dem Mädchen eine Frau machte, die übergangslos aus der Kindheit in einen Zustand des körperlichen Verfalls hinüber geschlittert war. In den drei Jahren, in denen sie zwischen Hitzewallungen und Wahnkrämpfen hin- und hergerissen und von einer Krankheit in die nächste hinübergleitend das Bett hütete, lernte Doña Eulalias Mutter, die Männer zu hassen. Eiskalt. Glasklar. Und mit ebendieser Klarheit und Kälte gab sie den Hass an ihre Tochter weiter.

In der Hochzeitsnacht liegt Doña Eulalia neben der schnarchenden Schnapsleiche des Kinderarztes Juan Palos Pérez.

Von diesem Moment an hasste sie ihn, das heißt, sie kannte erstmals einen Grund für den Hass, auf den ihre Mutter sie vorbereitet hatte und der schon wenige Stunden später seinen unvermeidlichen und endgültigen Höhepunkt erreichen würde, als Doktor Juan Palos Pérez aufstand, um sich erst zu übergeben und dann, ohne sich den Mund auszuspülen, ins Bett zurückkehrte, sich auf sie legte und sie mit der Behändigkeit eines Hahns vögelte. In Wirklichkeit – und das war es, was Doña Eulalia am meisten wehtat – war ihr Gatte ein heimtückischer Liebhaber, der Gefallen daran hatte, Frauen in Erregung zu versetzen, der genau wusste, wie man sie zu berühren und zu streicheln hatte, um ihre Lust zu wecken – allerdings offenbar nur unter der Bedingung, dass sie zum Dienstpersonal gehörten.

40 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Dora ertappt Doña Eulalia ihren Ehemann in der Garage mit dem Dienstmädchen. Und nach fünf Jahren Ehe wird die Leiche von Doktor Juan Palos Pérez an einem Strand in Puerto Colombia entdeckt.

Blau angelaufen und aufgeschwemmt, den Mund voller Algen und Muscheln, sah ihn Doña Eulalia del Valle auf einem Tisch in einem Krankenhaus liegen, in das die Polizei sie eine Stunde vor der Autopsie durch den Rechtsmediziner gebracht hatte, der schließlich die Todesursache nannte: Blutstau, hervorgerufen durch Geschlechtsverkehr, während der Verdauungsprozess noch in vollem Gange war, um ein Uhr mittags, also zu einer Tageszeit, zu der die Sonnenstrahlen bekanntlich senkrecht fallen und die einzig vernünftige Betätigung das Abhalten einer Siesta ist, in anderen Worten, der Doktor hatte diese Welt an einem einsamen Strand verlassen, inmitten höllischer Hitze und auf dem Körper einer Frau, die ihn wahrscheinlich in einer Panikreaktion zum Meer geschleift hatte, um ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen oder ihn überhaupt durch den Kontakt mit Wasser wiederzubeleben, dann aber die Lage begriffen und es vorgezogen hatte, dass die Wellen ihn fortspülten, um sich hastig ankleiden und unbemerkt in die Stadt aufmachen zu können.

Dora

Im Alter von 15 Jahren wird Dora, Doña Eulalias Tochter, von ihrem Chef Andrés Larosca defloriert, dem kaufmännischen Leiter des Unternehmens, das seinem Schwiegervater gehört. Nach kurzer Zeit beendet der Vater von vier Kindern die Affäre und entlässt Dora aus der Firma.

Anders als Andrés Larosca verliebt sich Benito Suárez in Dora und fasst ihr Verhältnis nicht nur als kurzes Abenteuer auf. Der Chirurg und Mitinhaber der Klinik Las tres Marías heiratet Dora, obwohl sie keine Jungfrau mehr ist.

Benito Suárez ist der einzige Sohn von Doña Giovanna Mantini, die im Alter von 25 Jahren den Rechtsanwalt José Vicente Suárez geheiratet hat, gegen den Willen ihrer Familie, weil er Mulatte ist.

Weil Benito Suárez es für pervers hält, wenn Dora sexuelle Lust empfindet, bringt er sie alle zwei Monate zur Beichte nach Puerto Colombia. Der Priester ermahnt Dora jedes Mal, dass der Körper einer Frau nicht zur Konkupiszenz, sondern zur Reproduktion diene. Sobald Dora schwanger ist, verweigert ihr Ehemann jeden sexuellen Kontakt mit ihr und nach der Geburt des Sohnes Renato erklärt er, eine Mutter dürfe sich „nicht aufgeilen wie irgendeine Hure“.

Dora reagiert darauf mit Migräneanfällen.

Benito Suárez ist überzeugt, dass man eine Frau wie einen Hund dressieren müsse. Er traktiert sie mit Beschimpfungen, Ohrfeigen und Tritten. Schließlich bringt er Dora dazu, sich von dem mit ihm befreundeten Psychiater Jerónimo Vargas therapieren zu lassen, der seine eigene Ehefrau zwingt, zu Hause nackt herumzuschleichen und alle drei bis vier Stunden den „ehelichen Pflichten“ nachzukommen. Das gehört zu seiner „Theorie des permanenten Orgasmus, der seiner Meinung nach im Mann die schöpferischen Kräfte des Universums freisetzt“.

Mit Hilfe von Jerónimo Vargas will Benito Suárez seine Frau in die geschlossene Psychiatrie einliefern. Das Vorhaben wird vereitelt, weil die Köchin das Gespräch der beiden Männer belauscht und den Plan verrät. Der Vater von Doras Freundin Lina, ein Richter, ruft daraufhin Benito Suárez an und warnt ihn: Falls er Dora ins Irrenhaus stecke, werde er ihn ins Gefängnis bringen.

Doña Clotilde del Real

Doña Clotilde del Real war in Gottesfurcht, das heißt, in panischer Angst vor einem besonders stumpfsinnigen Vater, erzogen worden, dessen reaktionäre Ansichten sogar die überaus konservativen Mitglieder des Club Cartagena in Erregung versetzten. Nachdem [Don Cipriano del Real] seine Frau zu Tode geschwängert hatte, tyrannisierte er seine fünfzehn Kinder und verlangte ihnen eiserne Disziplin und untertänigsten Gehorsam ab.

Bei der Hochzeitsfeier erfährt Clotilde vom Tod des Mannes, den sie liebt, aber nicht heiraten durfte, weil Cristian mit 16 Jahren zu jung gewesen wäre, um über sein Erbe verfügen und Don Ciprianos Schulden tilgen zu können. Clotilde fällt ihn Ohnmacht und wird in der Hochzeitsnacht von ihrem 46-jährigen Angetrauten vergewaltigt. Nach sieben Monaten Schwangerschaft, gegen die sie vergeblich ankämpft, bringt sie ihren Sohn Álvaro Espinoza zur Welt.

Doña Clotilde hätte ohne weitere Umstände den Stumpfsinn eines geschlechtslosen Ehelebens hinnehmen können, wenn ihr Körper ihr nicht so übel mitgespielt hätte: Denn der reagierte auf das Sperma ihres Mannes mit einer derartigen Abstoßung, dass sie nach jedem Beischlaf von Ekzemen und Quaddeln übersät war. Der Fall, der von sämtlichen Ärzten, Heilern und Scharlatanen der Stadt begutachtet wurde, war äußerst ungewöhnlich: Sobald Genaro Espinoza über der reglosen und äußerst tugendsamen Doña Clotilde masturbierte, spürte sie ein fürchterliches Brennen an ihren Geschlechtsorganen, die anfingen, sich zu röten und zu entzünden, bis sich die Haut ablöste, während der Rest des Körpers ebenfalls allergische Reaktionen zeigte und unter windpockenähnlichen Blasen zu jucken begann.

Cipriano del Real beschuldigt seinen Schwiegersohn, Clotilde „mit seinem von der Sünde vergifteten Saft krank zu machen“. Dem reichen Händler bleibt nichts anderes übrig, als sich zu fügen und die Zweckehe aufrechtzuerhalten. Er rächt sich, indem er jede Nacht ostentativ durch die Bordelle zieht.

Zu seinem ersten Bordellbesuch hatte ihn der Vater gezwungen, der sicher sein wollte, dass sein Sohn nicht homosexuell war. Der Junge kauerte jedoch drei Tage lang mit dem Rosenkranz in einer Ecke und erlitt bei jeder Annäherung einer Prostituierten einen Asthmaanfall, bis die Betreiberin eine androgyne Schwarze auftrieb, die zu Analverkehr bereit war.

[…] eine Schwarze, die einem Burschen so ähnlich wie möglich und daran gewöhnt sei, sich in das liederliche Loch ficken zu lassen. So rettete sie das Bordell, und so begann das Sexleben von Álvaro Espinoza.

Schon als Jugendlicher bekämpfte Genaro Espinoza seine Unruhe durch Bordellbesuche, „wo er die Erleichterung entdeckte, die es bedeutet, Frauen wie Tiere behandeln zu können“.

Catalina

Divina Arriaga ist die zwölfte Tochter eines Millionärsehepaars, von deren elf älteren Geschwistern keines den ersten Geburtstag erlebte. Um das Kind vor der Hitze Barranquillas zu schützen, schicken die Eltern es mit mehreren Erzieherinnen nach Europa, und in Berlin schreibt Divina sich in der Tanzschule von Isadora Duncan ein.

Als Erbin sowohl des Flussfahrt- als auch des Import-Export-Unternehmens ihres Vaters kehrt sie 1947 nach Barranquilla zurück. Ihre am 21. August 1937 in Saint-Malo geborene Tochter Catalina lässt sie als kolumbianische Staatsbürgerin registrieren. Als Vater gibt sie Stanislaw Czartoryski an. Der von den Nazis verfolgte polnische Adlige habe sich in der Résistance engagiert, erklärt sie, und sei von der Gestapo in einem alten Haus in der Bretagne zu Tode gefoltert worden. Dass sie keine Dokumente vorlegen kann, begründet sie mit einem alliierten Luftangriff auf ein Rathaus in Frankreich, bei dem die Papiere verbrannten.

Catalina muss die spanische Sprache erst noch lernen. Im Internat La Enseñanza gilt sie als frecher Geist, denn sie wehrt sich gegen die Unterwürfigkeit, zu der die Nonnen die Schülerinnen erziehen wollen.

[Catalina] verkörperte die aufreizende Kindfrau, verlockend aufgrund ihrer Schönheit, unerreichbar aufgrund ihres Alters. Vor allem aber war Catalina die Tochter von Divina Arriaga, und diese wiederum war nach all dem Tratsch zum Gespenst der Wollust geworden, das den Männern mit ihren domestizierten Ehefrauen und ihren billigen, vorhersehbaren Prostituierten das Bild absoluter Sinnlichkeit vorhielt, die sie einst in Kindertagen erahnt, im Laufe des Lebens aber erfolglos gesucht hatten und von der nur ein unkenntlich gewordenes, in Auflösung begriffenes, tödliches Begehren übriggeblieben war, das in den Tiefen ihres Unbewussten vor sich hin polterte. Und mit einem Mal wurde dieses Bild Wirklichkeit, stieg mit dem lüsternen Gang einer Nymphe die Stufen des Country Clubs empor, blitzte sie aus grünen Augen an, erweckte die Unruhe von damals wieder zum Leben und ließ sie unwillkürlich und berauscht klatschen und dann Catalinas Namen rufen – so wie sie in ihrem Innern immer wieder nach Divina Arriaga gerufen hatten.

Catalina, die kurz Wirtschaftswissenschaften studierte, heiratet Álvaro Espinoza, „einen verhärmten, schweigsamen Mann, der von einer unbegreiflichen Verachtung der gesamten Menschheit angetrieben“ zu sein scheint und Psychiater wird, „um das Wort und damit die Welt zu beherrschen“ und den Ärzten zu entkommen, die ihn in eine Anstalt stecken wollen.

Durch Zufall erfährt Catalina von Henk, einem Kunstexperten in Boston, der Álvaros Milchbruder war, also von derselben schwarzen Amme gestillt wurde. Sie lässt nicht nur ihn nach Barranquilla kommen, sondern auch María Fernanda Valenzuela, eine Lesbe aus gutem Hause, die Catalina dafür bezahlt, Álvaro Espinoza den Kopf zu verdrehen. Dadurch setzt sie ihren labilen Ehemann unter Druck, und er erschießt sich schließlich mit dem Revolver, den Catalina angeblich zur Verteidigung gegen mögliche Einbrecher kaufte und scheinbar versehentlich auf dem Nachttisch liegen lässt, bevor sie nach Puerto Colombia fährt.

Beatriz

Nena heiratet ihren Cousin Jorge Avendaño, der nach dem Tod seines Vaters von dessen jüngerem Bruder, Nenas Vater, adoptiert worden war. Wegen der Eheschließung brach Jorge sein Jurastudium in Bogotá ab. Der Vater ist zornig über den Ungehorsam seiner Tochter und seines Adoptivsohns, denn obwohl Ehen zwischen Cousins und Cousinen nicht ungewöhnlich sind, will er die beiden nicht miteinander verheiraten. Am Hochzeitsabend erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt, nachdem er das frisch getraute Ehepaar verfluchte.

Nach fünf Söhnen bekommen Nena und Jorge eine Tochter, die sie Beatriz nennen.

Im Alter von zwölf Jahren ertappt Beatriz durch Zufall ihren Vater beim Ehebruch in seinem abgestellten Auto. Er lässt spontan den Motor an – und rechnet nicht damit, dass Beatriz vor den anfahrenden Wagen springt. Sie wird meterweit fortgeschleudert und bleibt mit einem gebrochenen Bein liegen, bis man sie zur Operation in die Clínica del Prado bringt.

Einige Zeit später wird Beatriz vom 24-jährigen Nachbarsohn Javier Freisen vergewaltigt und defloriert, und zwar aus Hass auf seinen Bruder Jean-Luc, der Beatriz liebt.

Sein Sieg, dachte er, würde aber gar nicht darin bestehen, sie zu vergewaltigen, sondern darin, sie zu zwingen, seine Lust zu teilen. Und er wusste auch schon, wie er das, was ihm vorschwebte, bekommen würde. Er riss den Rock in zwei Streifen, band mit dem einen ihre Hände zusammen und knotete den anderen an das Kopfende des Bettes. Als sie sich nicht mehr rührte, knöpfte er ihre Bluse auf und entblößte die Brüste. Er musste sie gar nicht berühren […]: Mit bloßen Brüsten und gefesselt dazuliegen, erzeugte in ihr tiefste Erregung – das Zittern ihres Körpers sprach für sich. Unterdessen zog sich Javier in aller Ruhe aus und betrachtete stolz sein aufgerichtetes Glied.

Mit Gürtelhieben bringt er sie dazu, die Beine zu öffnen.

Er drang langsam in sie ein, hob ihre Beine an, um besser in die feuchte Wärme ihres Innern hineinzufinden: Das so eisern verteidigte Häutchen gab beim ersten Ansturm nach, aber Beatriz bekam auch das nicht mehr mit: Eine blitzartige, explosionsartige Lust schleuderte sie über Zeit und Raum hinweg fort, in einen reißenden Strudel hinein, in dem das Bewusstsein sich auflöste und der Ausbruch der Lust auf die Finsternis des Todes traf.

Für sie hatte das Problem zwölf Tage nach dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit begonnen, als unerträgliche Kopfschmerzen und Übelkeit einsetzten. Mit der Erkenntnis, dass sie schwanger und damit gezwungen war, gegen ihren Willen zu heiraten, war jedes Verlangen und außerdem alle Lebenslust in ihr verloschen.

Sobald ihre Brüder von der Schwangerschaft erfahren, setzen sie Javier Freisen unter Druck und verlangen von ihm, Beatriz zu heiraten.

Javier kam als Zehnjähriger mit seinen Eltern und älteren Geschwistern nach Barranquilla, mit dem Fabrikanten Gustavo Freisen und dessen Ehefrau Odile, einer geborenen Kerouan.

Gustavo Freisen war schleierhaft, was hier vor sich ging: Jean-Luc war wegen Beatriz durchgedreht, und nun heiratete diese unter Tränen den Bruder, der wiederum dafür verantwortlich war, dass Jean-Luc den Rest seines Lebens in einer Irrenanstalt verbringen würde.

Beatriz verabscheut von da an das Sexuelle.

Die Befriedigung durch den Orgasmus, so erklärte sie [ihrer Freundin] Lina, machte in keiner Weise die Demütigungen wett, denen sie sich unterwerfen musste, um in seinen Genuss zu kommen.

Um ihren Mann ertragen zu können, nimmt Beatriz Beruhigungsmittel ein und benutzt vor dem Koitus Vaseline.

[…] und Javier fand eine willige Gattin vor, der alles, was um sie herum geschah, herzlich egal war. Da er sich nicht vorstellen konnte, was hinter dieser Veränderung steckte, war Javier glücklich: Er bekleidete einen angesehenen Posten, hatte zwei schöne Kinder, eine unterwürfige Frau; und jetzt konnte er auch noch jede Nacht vögeln, ohne dass der Widerwille des anderen Körpers seinen Gelüsten in die Quere kam.

Lina

Lina erinnert sich Ende der Siebzigerjahre in Paris an die mit ihr damals in Barranquilla befreundeten Mitschülerinnen Dora, Catalina und Beatriz. Sie versucht zu verstehen, was in den Fünfzigerjahren geschah.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

In ihrem Debütroman „Im Dezember der Wind“ porträtiert die kolumbischen Autorin Marvel Moreno drei Frauen: Dora, Catalina und Beatriz. Sie beschäftigt sich mit der weiblichen Sexualität, die es in einer patriarchalen Gesellschaft bzw. dem von der katholischen Kirche unterstützten Machismo in der Elite Kolumbiens in den Fünfzigerjahren nicht geben darf. Der Preis für den Orgasmus einer Frau ist die Demütigung und Unterwerfung. Das kann nicht gut gehen. Implizit zeigt Marvel Morena mit „Im Dezember der Wind“, dass die freie Verfügbarkeit der Frau über ihren Körper die Grundvoraussetzung für eine bessere Gesellschaft sei.

Im Anfang war gar nicht das Wort […], denn vor dem Wort war die Tat, und vor der Tat das Begehren. In seinem Ursprung war das Begehren stets rein und würde es immer bleiben, ging es dem Wort voraus, blieb jeder moralischen Betrachtung unzugänglich. […] jedes Individuum war, je nach Vitalität, Begierde, Temperament oder Risikobereitschaft dazu gezwungen, ein immer wieder neues Gleichgewicht zu finden – zwischen den Ansprüchen seines Begehrens und den Forderungen der Wirklichkeit. Und genau hier wurde alles entschieden. Das aber war kaum jemandem klar.

Aus der Natur rührte die Kraft, die menschliche Spezies allem verheerenden Wahnsinn der Männer zum Trotz am Leben zu erhalten, aber auch die Schwäche, die sie zu den Sklavinnen der Männer gemacht hatte. Also musste der Weiblichkeit erst abgeschworen werden, um sie sich dann, nach Kampf und Triumph und unter Einsatz männlicher Mittel, zurückzugewinnen wie eine Belohnung, die aber eben nicht mehr mit Demütigung oder irgendeiner Knechtschaft einherging, sprich: Ein bei der Geburt erworbenes Gut wurde zu etwas, das zunächst absichtlich verloren ging und dann bei klarstem Verstand wieder zurückerobert wurde.

Die Männer stünden der Entwicklung allerdings entgegen, meint Marvel Moreno.

Sie waren zu anders: grob, muskulös, chaotisch; ihre nervliche Anspannung ließ sie unüberlegt handeln, ihre Adrenalinproduktion machte sie krankhaft aggressiv, und das Gleichmaß ihres Hormonspiegels verhinderte, dass sie die gesamte Palette der Empfindungen kennenlernten. Ob aus Maßlosigkeit oder aus Schwäche – sie entfernten sich von der Norm: der Frau: diesem Wesen, das Leben schenkte, bewahrte und es immer weiter bejahte, inmitten des unentwegten Chaos, das durch die bloße Existenz des Mannes entstand, der es trotz all der Frustration geschafft hatte, seine tatsächliche Bedeutungslosigkeit zu ignorieren und sich selbst als Schöpfung nach dem Abbild Gottes darzustellen (worüber sich das Universum hätte krummlachen müssen), und der sich unter Rückgriff auf seine physische Kraft an der weiblichen Fruchtbarkeit gerächt hatte – auf allen Stufen dessen, was sie als Kultur bezeichneten, wobei es sich letztendlich nur um unterschiedliche Ausführungen ein und derselben Barbarei handelte.

Die Geschichten um Dora, Catalina und Beatriz, ihrer Mütter, Väter, Brüder und Ehemänner werden von einer Erzählinstanz zusammengehalten, von Lina, dem Alter Ego der Autorin Marvel Moreno. Sie erzählt in „Im Dezember der Wind“ aus der Rückschau und versucht, die Zusammenhänge zu verstehen.

Marvel Moreno schreibt zornig und kraftvoll. Sie erzählt nicht chronologisch oder gar stringent, sondern assoziativ ausschweifend. Dieses Überbordende und die Fülle der Figuren erschweren bei der Lektüre den Überblick ebenso wie die von einer hypotaktischen Syntax und ungewöhnlich langen Absätzen geprägte wilde und zugleich anspruchsvolle Sprache.

Marvel Moreno wurde am 23. September 1939 in der kolumbianischen Hafenstadt Barranquilla als Tochter der wohlhabenden Familie von Berta Abello und Benjamín Jacobo Moreno geboren. Im Alter von 20 Jahren machte sie sich als Karnevalskönigin einen Namen. In den frühen Sechzigerjahren freundete sich Marvel Moreno mit Schriftstellern und Künstlern der „Gruppe von Barranquilla“ an, zu der auch Gabriel García Márquez gehörte, aber an den Gruppentreffen in einer Bar durfte sie als Frau nicht teilnehmen.

1969 begann sie in Paris zu schreiben, und 1971 ließ sie sich dort endgültig nieder. 1980 veröffentlichte sie einen Band mit Erzählungen, und 1987 erschien ihr erster Roman: „En diciembre llegaban las brisas“ / „Im Dezember der Wind“.

Sie starb am 5. Juni 1995 in Paris.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Amos Oz - Plötzlich tief im Wald
"Plötzlich tief im Wald" ist ein Märchen für Kinder und Erwachsene. In poetischer Form plädiert Amos Oz dafür, Neid und Schadenfreude zu überwinden und Außenseiter in die Gemeinschaft zurückzuholen.
Plötzlich tief im Wald