Zülfü Livaneli : Der Fischer und der Sohn

Der Fischer und der Sohn
Balıkçı ve Oğlu Verlag İnkılap Kitabevi, Istanbul 2021 Der Fischer und der Sohn Übersetzung: Johannes Neuner Klett-Cotta, Stuttgart 2023 ISBN 978-3-608-98692-1, 190 Seiten ISBN 978-3-608-12155-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der türkische Fischer Mustafa entdeckt in der Ägäis nicht nur die Leichen von zwei Flüchtlingen, sondern auch ein kleines Schlauchboot mit einem noch lebenden Säugling. Die Toten übergibt er der Küstenwacht; das gerettete Baby nimmt er heimlich mit nach Hause. Aber wie sollen Mustafa und Mesude unbemerkt ein Kind großziehen? Und dann erfahren sie, dass die Mutter des Säuglings den Schiffbruch überlebt hat ...
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Kritik

Zülfü Livaneli erzählt eindrucksvoll, gefühlvoll und warmherzig. "Der Fischer und der Sohn" trägt märchenhafte Züge. Die dramatische Handlung dreht sich um das Schicksal von Flüchtlingen, die von Schleppern übers Meer gebracht werden wollen. Der Roman ist zugleich ein eindringliches Plädoyer für Mitmenschlichkeit.
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Mesude und Mustafa

Der Fischer Mustafa Sılacı lebt mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau Mesude in einem türkischen Dorf in der Ägäis. Beide Familien wanderten vor mehreren Generationen aus Kreta ein, als Muslime von dort vertrieben wurden.

Mustafa muss zusehen, wie Hotels gebaut, Strände und Ferienkolonien angelegt werden. Unternehmen erwerben Schürfrechte und holzen Wälder ab. In den Buchten verseuchen Fischfarmen das Meerwasser.

Als Mustafas Vater noch lebte, gab es zwar reichlich Fisch, aber dafür zahlte niemand viel. Heute bieten Restaurants mehr dafür, aber die Fangerträge sind deutlich geringer geworden, nicht zuletzt wegen invasiver Fischarten, die einheimische Bestände dezimieren. Und deshalb kann Mustafa ebenso wie sein Vater oder andere Fischer kaum von seiner Arbeit eine Familie ernähren.

Notgedrungen fährt Mustafa zahlende Touristen aufs Meer hinaus und zeigt ihnen Delfine. Einer erzählt ihm vom Buch eines amerikanischen Schriftstellers über einen kubanischen Fischer. Santiago fängt einen Schwertfisch, der so groß ist, dass er ihn nicht ins Boot hieven kann, sondern an der Bordwand vertäuen muss – wo Haie den Fang zerfleischen, bevor der Fischer die Küste erreicht. Mustafa hört sich das an und meint dann, er hätte die Angelschnur durchgeschnitten, wenn er so einen Fisch gefangen hätte. Ein Prachtexemplar wie dieses würde er am Leben lassen.

Mesude und Mustafa hatten einen Sohn. Aber als Deniz sieben Jahre alt war und der Vater ihn zum Fischen mitnahm, kenterte das Boot im Sturm. Mustafa konnte sich retten, aber die Leiche des Jungen wurde nie gefunden. Seither redet der Eigenbrötler kaum noch ein Wort.

Tote Flüchtlinge

Mustafa entdeckt auf hoher See eine tote dunkelhäutige Frau im Wasser, und weil es kein Funknetz gibt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Leiche ins Boot zu ziehen. Kurz darauf treibt ein toter Mann in den Wellen. Für zwei Leichen ist das Boot zu klein. Mustafa kann den Toten nur mit einem Tau am Boot vertäuen.

Ein Delfin schwimmt auf das Fischerboot zu. Mit seiner Schnauze schiebt er ein rotes Spielzeug-Schlauchboot, und darin ist ein blau angelaufener Säugling festgebunden. Mustafa hebt das Baby ins Boot, lässt in einer von der Sonne heiß gewordenen Pfanne etwas von der Schokolade schmelzen, die ein Tourist nach einer Bootstour vergaß, und benetzt damit die Lippen des halbtoten Kindes.

In Sichtweite seines Dorfes verständigt Mustafa die Küstenwache. Nachdem er den Säugling versteckt hat, übergibt er die beiden ertrunkenen Flüchtlinge.

Um seine Zeugenaussage vor dem Staatsanwalt zu machen, fährt Mustafa mit dem Bus in die Stadt.

Er erfährt schließlich, dass die Küstenwache die Leichen weiterer Flüchtlinge geborgen hat. Zwei Männer und eine Frau konnten gerettet werden. Sie liegen im Krankenhaus. Einer der beiden Überlebenden gab zu Protokoll, dass das überfüllte Flüchtlingsboot gekentert sei. Er habe beobachtet, wie eine Frau ihr Baby gerade noch in ein kleines Schlauchboot legen konnte, bevor sie abtrieb.

Der Fischer und der Sohn

Mustafa nennt den Säugling, den er mit nach Hause gebracht hat, Deniz, aber er weiß ebenso wenig wie Mesude, wie es weitergehen soll. Der Fischer hat ein Kind gerettet, ja, aber dann versteckt und verheimlicht. Das ist gewiss strafbar.

Mesude vertraut sich ihrer Mutter Raziye Hanım an, die den kleinen Deniz sofort ins Herz schließt, aber auch keinen Rat weiß.

Raziye wurde im Alter von 18 Jahren mit dem von ihrem Vater geschätzten Sohn eines Autohaus-Inhabers verheiratet. Caner erwies sich als treuloser Herumtreiber, aber Raziyes Vater ließ eine Trennung nicht zu. Als sie schwanger war, kam Caner bei einer betrunken angetretenen Autofahrt von der Straße ab und starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Frau auf dem Beifahrersitz wurde schwer verletzt. Als Witwe konnte Raziye ins Elternhaus zurückkehren und dort ihre Tochter Mesude zur Welt bringen.

Angebliche Zwillinge

Endlich hat Mustafa eine Idee. Seine mit dem Bankangestellten Salim Kumbasar in der Stadt Nazilli verheiratete Schwester Filiz ist hochschwanger. Vielleicht ist sie bereit, die Geburt von Zwillingen vorzutäuschen. Dann könnten sie alle so tun, als habe Filiz einen der Zwillinge den kinderlosen Verwandten anvertraut.

Also fahren Mustafa und Mesude mit dem Baby nach Nazilli.

Mit Unterstützung von Melehat Hanım, der Mutter von Filiz und Mustafa, die schon seit einiger Zeit bei ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn wohnt, können Filiz und Salim zum Mitmachen überredet werden.

Einige Tage, nachdem Filiz im Krankenhaus mit einem Kaiserschnitt von einem Sohn entbunden wurde, machen sich Mesude und Mustafa mit dem aus dem Meer geretteten Säugling auf den Weg zurück in ihr Dorf.

Die Mutter

Im Dorf kursieren Gerüchte über einen Säugling bei Mesude und Mustafa.

Während Mustafa einer Vorladung des Staatsanwalts Folge leistet, fährt Mesude ostentativ mit dem Kinderwagen durchs Dorf und erzählt, ihre Schwägerin habe Zwillinge geboren und ihr einen der beiden anvertraut.

Der Staatsanwalt glaubt die Geschichte von den Zwillingen nicht und kündigt Mustafa an, dass er vom Krankenhaus in Nazilli Dokumente über Filiz Kumbasars Niederkunft anfordern werde.

Die gerettete Flüchtlingsfrau erwacht aus dem Koma. Sie heißt Zilha Sharif und kommt aus Afghanistan. Bei der Vernehmung behauptet sie, mit einem Baby geflohen zu sein. Den kleinen Sohn, Samir Sharif, habe sie nach dem Kentern des Flüchtlingsbootes in einem Spielzeug-Schlauchboot festgebunden.

Mesude gelingt es mit Hilfe ihrer als Putzfrau im Krankenhaus beschäftigten Freundin Kübra, Zilha zu besuchen. Die Flüchtlingsfrau leidet sichtbar  unter der Trennung von ihrem kleinen Sohn.

Als Mustafa hört, was seine Frau tat, gerät er außer sich. Der Streit ist so heftig, dass Mesude mit dem Baby zu ihrer Mutter zieht und über eine Scheidung nachdenkt.

Mesude denkt unaufhörlich an den Schmerz der afghanischen Mutter. Schließlich bringt sie Zilha das Kind und legt es ihr in die Arme. Mit großen Augen blickt Zilha sie an. Sie kann kaum glauben, was geschieht.

Aber der Vorgang bleibt selbstverständlich nicht verborgen und hat Folgen: Mesude und Mustafa werden festgenommen. Mesude muss zwar nicht ins Gefängnis, aber Mustafa wird inhaftiert. In der Zelle trifft er auf den Schlepper, der von der tödlich endenden Flucht berichtet. Das überfüllte Boot wurde von einer griechischen Patrouille entdeckt und in türkische Gewässer zurückgeschickt. Beim erneuten Versuch, eine rettende Insel zu erreichen, kenterte es im Sturm.

Mesude und Mustafa werden am Ende freigesprochen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Unerwartete Lösung

Andere Fischer überreden Mustafa, ihnen bei der Zerstörung von Fischfarmen zu helfen. Er taucht und schneidet Löcher in die Netze, mit denen die gezüchteten Fische zurückgehalten werden.

Bald darauf kommen Beamte von der Migrationsbehörde in Muğla zu Mesude, die noch immer bei ihrer Mutter wohnt. Weil Zilha Sharif mit ihrer Abschiebung nach Afghanistan rechnen muss, entschied sie, dass ihr Sohn bei Mesude und Mustafa aufwachsen soll – wenn die beiden einverstanden sind.

Daraufhin kehrt Mesude zu ihrem Mann zurück.

Der befürchtet nun, dass er wegen des Sabotageakts gegen eine Fischfarm als Adoptivvater eines Kindes ausgeschlossen werden könnte ‒ und beschwört die Mittäter, ihn nicht zu verraten.

Als Mesude und Mustafa in die Stadt fahren, um die Formalitäten für die offizielle Übernahme und spätere Adoption des Kindes zu erledigen, erfahren sie, dass Zilhas Eltern, die beiden Geschwister und den Ehemann von Taliban ermordet wurden. Nur durch einen Zufall entkam sie selbst mit dem Baby.

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In seinem Roman „Der Fischer und der Sohn“ erzählt Zülfü Livaneli von einem türkischen Fischer, dem ein Tourist von Ernest Hemingways Roman „Der alte Mann und das Meer“ vorschwärmt. An dieses Buch denkt man auch ohne diesen Hinweis, wenn man „Der Fischer und der Sohn“ liest.

Zülfü Livaneli erzählt eindrucksvoll, gefühlvoll und warmherzig. „Der Fischer und der Sohn“ trägt märchenhafte Züge, und dementsprechend wirkt auch nicht jedes Detail realistisch.

Die dramatische Handlung dreht sich um das Schicksal von Flüchtlingen, die von Schleppern übers Meer gebracht werden wollen. Außerdem thematisiert Zülfü Livaneli die Veränderung von Fischerdörfern durch den Tourismus und die Zerstörung der Landschaft durch den Kapitalismus. „Der Fischer und der Sohn“ ist zugleich ein eindringliches Plädoyer für Mitmenschlichkeit.

Zülfü Livaneli (*1946) ist ein türkischer Schriftsteller, Filmregisseur, Komponist und Sänger. Der politisch engagierte Kulturschaffende setzt sich beispielsweise für eine türkisch-griechische Verständigung ein.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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