J. M. Coetzee : Der Pole

Der Pole
El Polaco El Hilo de Ariadna, Buenos Aires 2022 The Pole and Other Stories Harvill Secker, London 2023 Der Pole Übersetzung: Reinhild Böhnke S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2023 ISBN 978-3-10-397501-7, 144 Seiten ISBN 978-3-10-491738-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Beatriz ist Katalanin und 24 Jahre jünger als der polnische Konzertpianist, den sie bei einem Auftritt in Barcelona kennenlernt. Er verliebt sich in sie, doch obwohl ihre Ehe inzwischen gefühlsarm geworden ist, lässt sich nur auf eine kurze Affäre mit dem Chopin-Interpreten ein. Dann bricht sie die Beziehung wieder ab und hört erst nach seinem Tod wieder von ihm.
mehr erfahren

Kritik

Zentrales Motiv von "Der Pole" ist neben der Liebesgeschichte die Schwierigkeit, sich mitzuteilen und einander zu verstehen. Der Name Beatriz, die Affäre bei Valldemossa: die Bezüge zu Dante und Chopin bzw. George Sand sind deutlich. J. M. Coetzee schreibt im Präsens aus der Perspektive der grübelnden weiblichen Hauptfigur.
mehr erfahren

Der Pole

Barcelona, 2015. Beatriz, die 48-jährige Ehefrau eines Bankiers, gehört dem Kuratorium des Sala Mompou an. Weil sich ihre eigentlich zuständige langjährige Freundin Margarita ausgerechnet an dem Tag krank meldet, an dem sie den polnischen Pianisten Witold Walczykiewicz für eines der vom Sala Mompou organisierten monatlichen Konzerte eingeladen hat, springt Beatriz für sie als Gastgeberin ein. Der 72-jährige Pole kommt mit dem Flugzeug aus Berlin. Die fließend Englisch und Französisch sprechende Spanierin verständigt sich mit dem Polen auf Englisch, das er leidlich kann.

Die Chopin-Interpretationen des polnischen Pianisten enttäuschen Beatriz; sie sind ihr zu gefühlsarm. Der Applaus ist denn auch nur höflich und alles andere als enthusiastisch.

Girona

Monate nach dem Konzert des Polen in Barcelona erhält Beatriz eine Mail von ihm. Er unterrichte Meisterklassen am Konservatorium Felip Pedrell in Girona, schreibt er. Sie wundert sich darüber und fragt: „Warum sind Sie hier, Witold?“ Daraufhin antwortet er: „Ich bin Ihretwegen hier.“

Zunächst zögert sie, aber dann fährt sie nach Girona und trifft sich mit dem Polen. Der schlägt ihr vor, ihn nach Brasilien zu begleiten, wo er drei Konzerte geben werde.

Beatriz und ihr Mann lernten sich während des Studiums kennen und heirateten früh. Inzwischen haben sie sich auseinandergelebt, schlafen in separaten Zimmern und waren seit Jahren nicht mehr miteinander im Bett. Die diskreten Affären ihres Mannes nimmt Beatriz hin. Sie selbst ist dabei, sich an ein Leben ohne Sex zu gewöhnen. Den Vorschlag, mit dem Polen nach Amerika zu fliegen, finden sie absurd.

Nach seinem Aufenthalt in Girona schickt der Pole ihr im Anhang einer Mail eine von ihm eingespielte Chopin-Sonate: „Auf Englisch kann ich nicht sagen, was in meinem Herzen ist, deshalb sage ich es in Musik.“ Beatriz spielt die Audio-Datei ab und lauscht nach einer persönlichen Botschaft, entdeckt jedoch nichts Besonderes.

Mallorca

Im Jahr darauf teilt ihr der Pole mit, dass er im Oktober zum Chopin-Festival in Valldemossa eingeladen sei.

Die Familie ihres Ehemanns besitzt ein Haus bei Sóller. Das ist nicht weit von Valldemossa entfernt. Beatriz schlägt ihrem Mann vor, im Oktober wieder einmal nach Mallorca zu reisen. Er geht darauf ein, wird sich aber nur eine Woche frei nehmen können, und ihr Sohn Tomás kann gar nicht, denn er und seine Frau Eva fänden es zu beschwerlich, mit ihrem Säugling zu verreisen.

Beatriz sagt ihrem Mann, dass sie einen beim Chopin-Festival in Valldemossa auftretenden Pianisten zum Essen eingeladen habe. Er könne jedoch erst in der zweiten Woche ihres Mallorca-Aufenthalts kommen, also nach der Rückreise ihres Mannes. Der unterstellt ihr zwar eine Affäre mit dem Musiker, nimmt das aber gelassen und amüsiert hin.

Der polnische Besucher wird nicht im Haupthaus untergebracht, sondern in einem Cottage auf dem Anwesen.

Als Beatriz mehr über den Polen erfahren möchte, berichtet er, dass er mit einer Lehrerin verheiratet war. Małgorzata („Gosia“) starb bereits 1978. Die Tochter Ewa lebt mit ihrem Mann in Berlin. Die beiden betreiben dort ein gut gehendes Restaurant.

Bevor sich Beatriz ins Schlafzimmer zurückzieht, weist sie den Polen darauf hin, dass sie die Hintertür nicht abschließen werde. Bald darauf hört sie ihn kommen. Wortlos entkleidet er sich und legt sich zu ihr. Nach dem unbeholfenen Liebesakt fragt Beatriz, ob er „endlich zufrieden“ sei, nachdem er sie „besessen“ habe. „Mein Herz ist voll“, antwortet er.

Zurück in Barcelona, löscht sie seine Mails, ohne sie gelesen zu haben.

Gedichte

Im Oktober 2019 erfährt Beatriz von Ewa Reichert am Telefon, dass deren Vater Witold Walczykiewicz am 19. Juli starb und in seiner Warschauer Wohnung etwas für sie hinterließ. Die Tochter, die in Berlin lebt, verweist sie an Pani Jablonska, eine mit ihm befreundete Nachbarin ihres Vaters in Warschau, fügt aber hinzu, dass die Polin kein Englisch spreche.

Nachdem Beatriz vergeblich versucht hat, mit Pani Jablonska in Kontakt zu kommen, erhält sie von Ewa Reichert die Telefonnummer des Maklerbüros, das die Wohnung verkaufen soll. Beatriz fliegt nach Warschau, und der Makler lässt sie in Witold Walczykiewicz‘ Wohnung. Sie übernachtet sogar dort.

Mit 84 Gedichten in polnischer Sprache kehrt sie nach Barcelona zurück. Sie kontaktiert Carla Weisz Urizza, deren Name als erster auf einer Liste der vom polnischen Konsulat akkreditierten Übersetzerinnen und Übersetzer steht. Für die Prosa-Übersetzung der Gedichte bezahlt sie 1500 Euro.

Immer deutlicher steht ihr das Bild vor Augen: der alte Mann an seiner Schreibmaschine in seiner hässlichen Wohnung, wie er seinen Traum von Liebe ins Leben zu zwingen versucht und dafür eine Kunst benutzt, die er nicht wirklich beherrscht.
Ich hätte ihn nie ermutigen dürfen, denkt sie. Ich hätte das Ganze im Keim ersticken sollen. Doch ich habe nicht gesehen, wohin das führte. Ich habe nicht gesehen, dass es so enden würde.
Sie legt die Übersetzungen zurück in ihre Mappe.

Nachdem Beatriz die Übersetzungen der Gedichte gelesen hat, schreibt sie zwei Briefe an den Toten.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

John M. Coetzee beginnt seinen kurzen Roman „Der Pole“ mit einem auktorialer Erzähler in der dritten Person, der sich mit den Figuren abplagt.

1.
Zuerst bereitet die Frau ihm Schwierigkeiten und bald darauf auch der Mann.
2.
Anfangs hat er eine völlig klare Vorstellung davon, wer die Frau ist. […]
3.
Der Mann bereitet mehr Schwierigkeiten. Die Vorstellung von ihm ist wieder völlig klar. Er ist Pole, ein siebzigjähriger Mann, ein robuster Siebzigjähriger, Konzertpianist, am bekanntesten als Chopin-Interpret […]: Sein Chopin ist überhaupt nicht romantisch, sondern im Gegenteil ein wenig asketisch, Chopin als Erbe von Bach. […]

Rasch wechselt J. M. Coetzee dann zur Perspektive der weiblichen Hauptfigur Beatriz, die ganz bestimmt nicht zufällig so heißt wie die in Dantes Jugendwerk „Vita nuova“ (Beatrice). Bei J. M. Coetzee ist es ein greiser, verschrobener polnischer Konzertpianist, der sie anbetet. Beatriz ist Spanierin, genauer Katalanin, und 24 Jahre jünger als „der Pole“. Auf Mallorca, nahe Valldemossa – wo sich George Sand und Frederic Chopin im Winter 1838/39 drei Monate lang aufhielten – lässt sie ihn drei oder vier Tage lang zu sich ins Bett. Aber dann bricht sie die Beziehung wieder ab und hört erst nach seinem Tod wieder von ihm.

Zentrales Motiv von „Der Pole“ ist neben der Liebesgeschichte die Schwierigkeit, sich mitzuteilen und einander zu verstehen. Beatriz kann sich außer in ihrer Muttersprache fließend in Englisch und Französisch ausdrücken, aber Polnisch kann sie nicht. Mit dem Polen kann sie nur in englischer Sprache kommunizieren, und die beherrscht er nur leidlich. Er versucht, sich im Klavierspiel mitzuteilen, aber Beatriz kann damit wenig anfangen. Erst nach seinem Tod erfährt sie von den Gedichten, die er über seine Liebe zu ihr geschrieben hat. Allerdings kann sie die Gedichte nicht im Original lesen, sondern muss sie sich erst vom Polnischen in Spanische Prosa übersetzen lassen.

J. M. Coetzee schreibt im Präsens und hat seinen Text in sechs Teile bzw. viele kurze, nummerierte Abschnitte gegliedert. Seine Sprache ist so reduziert wie die Chopin-Interpretationen des polnischen Pianisten. Geprägt ist sie vom Grübeln der weiblichen Hauptfigur.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

J. M. Coetzee (kurze Biografie / Bibliografie)

John M. Coetzee: Im Herzen des Landes (Verfilmung)
John M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K.
John M. Coetzee: Eiserne Zeit
John M. Coetzee: Der Junge. Eine afrikanische Kindheit
John M. Coetzee: Schande
John M. Coetzee: Die jungen Jahre
John M. Coetzee: Elizabeth Costello
John M. Coetzee: Die Kindheit Jesu

Helen Weinzweig - Von Hand zu Hand
Man kann den Roman "Von Hand zu Hand" als tragikomische Gesellschaftssatire lesen. Helen Weinzweig führt uns nicht durch eine Geschichte, sondern wirft uns scheinbar ungeordnet groteske Fragmente hin. Sie hat den poetischen Roman wie ein polyphones, polyrhythmisches Musikstück komponiert.
Von Hand zu Hand