Markus Werner : Zündels Abgang

Zündels Abgang
Zündels Abgang Originalausgabe: Residenz Verlag, Salzburg / Wien 1984 dtv, München 1988 ISBN 978-3-423-10917-8, 116 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die verfrühte Rückkehr Zündels aus seinem Urlaub löst eine Kettenreaktion aus. Seine Frau möchte die Ferien allein verbringen. Zündel zweifelt an ihrer Treue und begibt sich auf eine Reise, die der Besinnung dienen sollte. Aber Zündel findet sich nicht mehr zurecht ...
mehr erfahren

Kritik

Es gelingt Markus Werner in "Zündels Abgang" ausgezeichnet, den Leser spüren zu lassen, wie der Protagonist immer mehr im Elend versinkt und in den Strudel der Resignation gezogen wird. Das katastrophale Ende zeichnet sich in nachvollziehbaren Schritten ab.
mehr erfahren

Konrad und Magda Zündel haben vereinbart, ihren Urlaub diesmal nicht gemeinsam zu verbringen. Konrad will nach Griechenland. Kurz vor Abfahrt der Fähre von Ancona nach Patras fällt Zündel ein Schneidezahn aus. Mit einer Zahnlücke will er sich nicht drei Wochen lang sehen lassen. In Panik verlässt er das Schiff und steigt in den Zug nach Mailand. Von dort kündigt er Magda seine sofortige Rückkehr an. Begeisterungsstürme löst er damit bei ihr nicht aus.

Im Treppenhaus […] begann sich Zündel auf Magda einzustellen. Nach fünf Jahren Ehe noch Herzklopfen – das soll mir einer nachmachen! Am liebsten wäre mit jetzt ein Lauch-Auflauf, ein wenig enttäuschen würden mich Ravioli. (Seite 16)

Aber Magda ist nicht zu Hause. Er findet lediglich einen Zettel mit der Nachricht vor, sie sei bei ihrer Frauengruppe. Beim Frühstück erzählt er ihr von seinen „Schicksalsschlägen“ und Magda konfrontiert ihn mit ihrer Frustration, dass sie sich in ihrer persönlichen Entfaltung eingeschränkt fühle und ihre Selbstverwirklichung mit fortwährend schlechtem Gewissen bezahle. Außerdem wirft sie ihm vor, dass er dauernd wegen Kleinigkeiten an ihr herummäkle. Trotzdem gehen sie dann zusammen ins Bett.

Nach dem Besuch beim Zahnarzt, der ihm provisorisch den Zahn ersetzt, geht er nach Hause und findet statt eines Zettels diesmal zwei vollbeschriebene Blätter vor, auf denen Magda die von Konrad an ihr beanstandeten Verhaltensweisen auflistet. Das geht von „dass sie den Heißwasserhahn zu stark zudrehe“ über „dass sie gewisse Wörter auf der falschen Silbe betone“ bis zu „dass sie die Butter an der Oberseite abschabe, statt breitseits ein Stück abzuschneiden“ usw. Sie fahre jetzt für ein paar Tage zu ihrer Freundin Helen nach Bern.

Zündel ruft noch in der Nacht seinen Freund Viktor Busch an, ob er wohl so spät zu ihm kommen könne? Bei Pfarrer Busch kann er sich seine Kümmernisse von der Seele reden; er verlässt ihn erst gegen Morgen. Beim Frühstück geht ihm Magda schon nicht mehr ab. Nun muss er sich überlegen wie es weitergehen soll.

Vor ihm lagen fürs erste dreieinhalb Wochen Ferien, hinter ihm lag ein Leben, das er zu keiner Stunde restlos überzeugend gefunden hatte. Seine Ehe war – wie fast jede Ehe – wohl aus Liebe geschlossen worden, aber diese Liebe erwies sich – wie fast jede Liebe (in seinen Augen) – als ein Gemisch aus Einsamkeitsangst, Geschlechtstrieb und Ewigkeitsbedürfnis .(Seite 29)

Eine weitere Irritation entsteht, als Zündel im Treppenhaus vom Hausmeister gefragt wird, ob sein Schwager schon wieder abgereist sei. Der Bruder seiner Gemahlin sei doch übers Wochenende hier gewesen. Magda hat aber gar keinen Bruder. (Später kommt Zündel dahinter, dass der Hausmeister bösartig gelogen hat.)

Zündel entschließt sich, wegzufahren. Vorher gibt er bei einer Bekannten den Kater ab. Judith solle sich darum kümmern, bis Magda zurück kommt.

Genua ist Zündels Reiseziel. Warum diese „unwirtliche, unhelle Hafenstadt“? Er wurde hier vor dreiunddreißig Jahren gezeugt, und außerdem hofft er, auf reibungslose, also illegale Weise zu einer Waffe zu kommen.

Zündel hat seinen Vater Hans nie gesehen. Mit elf Monaten war Hans in den Kriegswirren über die Schweizer Grenze geraten. Dort wuchs er bei den Adoptiveltern Fischer auf, die es nicht leicht mit ihm hatten. Der begabte Querkopf schwängerte ein Mädchen, heiratete es und stieg ins Baugeschäft der Schwiegereltern ein. Seine Frau Elisabeth bekam ein zweites Kind; seine finanziellen Verhältnisse sicherten die Existenz. In dieser vielversprechenden Situation, in der er sich aber eingeengt fühlte, wollte er mit Elisabeth anderswo neu beginnen. Hans ging erst einmal allein. Nach einem halben Jahr meldete er sich aus Alexandria, wo er eine Stelle in einer Baumwoll-Expedition angenommen hatte. Er wollte, dass Elisabeth mit den Kindern zu ihm käme. Aber Elisabeth lehnte ab, und die Ehe wurde geschieden. Nach einer kurzen Ehe mit einem armenischen Freudenmädchen verließ Hans Fischer Ägypten auf dem Seeweg. In Genua kam er mit hohem Fieber an und wurde in ein Spital eingeliefert. Dort wurde er von Schwester Johanna, die jung und hübsch und auch noch Schweizerin ist, gesund gepflegt. Zwischen Hans und Johanna Zündel entflammte eine leidenschaftliche Liebe. Schon nach drei Wochen – am zweiten Mai, da feierte Hans seinen dreißigsten Geburtstag –versprachen sie sich Treue. Am dritten Mai sagte er, dass er weiter müsse. Johanna war fassungslos.

Hans sagt: Nähe wird durch Ferne möglich, und an der Gegenwart krepiert die Leidenschaft. Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns. Ich liebe dich, und es ist mir unvorstellbar, ohne dich leben zu müssen. (Seite 58)

Am vierten Mai war Hans Fischer mit unbekanntem Ziel verschwunden.

Johanna war verstört und schnitt sich die Pulsadern auf. Sie wurde gefunden und in eine Anstalt gesteckt, wo sie dann feststellte, dass sie schwanger war. Im Januar kam Konrad Zündel zur Welt. Johanna blieb ledig. Erst nach vier Jahren meldete sich Hans aus Nordschweden und ermunterte sie, zu ihm zu kommen. Er sei ihr treu. Darauf antwortete sie nicht, erst weitere drei Jahre später schrieb sie ihm und machte ihn darauf aufmerksam, dass Konrad seinen siebten Geburtstag habe. Er schickte „viel Geld, mit vielen Sätzen“, aber kein Wort von einem gewünschten Wiedersehen. Trotzdem besuchte Johanna ihn ohne Vorankündigung im nächsten Sommer. Von dieser Begegnung hatte sie Konrad nie etwas erzählt.

Nun lebt er [Hans] in Kanada, vorsätzlich einsam, berichtet fast nie.
Seine Schrift gleicht einer Schar aufgeregt flatternder Vögel.
Sein Deutsch ist kauzig.
Vielleicht war er ein Lump.
Einmal muss ich ihn sehn. (Seite 59)

Mit der Eisenbahn kommt Zündel in Genua an. Er mietet sich in der erstbesten Pension ein, die er finden kann. Ein ungemütliches, lausiges Albergo. In dieser tristen Umgebung muss er immer öfter an Magda denken. Es wird ihm bewusst, dass ihm die Liebe zu ihr Kraft gegeben hatte. In dieser ersten Genueser Nacht zerbricht wahrscheinlich etwas in Zündel, allerdings so, „wie ein rissiger, schon vielfach geflickter Tonkrug endlich zerbricht“. Am nächsten Morgen fühlt er sich etwas besser und schlendert durch die Stadt. Das macht er jetzt jeden Tag so. Zum Frühstück trinkt er zwei Schnäpse und nach der Siesta zieht er von einer Bar in die nächste, trinkt in jeder wieder etwas; dass er auch essen sollte, hat er vergessen. In jeder Bar – am 11. Juli sind es sieben – schreibt er ein Kapitel auf für sein sogenanntes „Neues Wörterbuch. Eine Handreichung für mich und andere Nachzügler“. Zum Beispiel:

Sereno Bar, 11.7. Des neuen Wörterbuches dritter Teil. – Einzuprägen: Die Angst vor dem Verlust der Geliebten heißt kapitalistisch verseuchtes Besitzdenken. Die Angst vor dem Verlust der Geliebten heißt spießig schofle Eifersucht. Die Angst vor dem Verlust der Geliebten heißt filziger Sexualneid. Die Angst vor dem Verlust der Geliebten heißt infantile Rockzipfelneurose.

In der Gramsci Bar lernt er einen österreichischen Matrosen kennen. Er verbringt mit Serafino gemeinsam den Abend und sie freunden sich schnell an. Die nächste Bar, die sie besuchen, wird von nordafrikanischen Rauschgifthändlern frequentiert. Als Konrad wegen seines reichlichen Alkoholkonsums dringend die Toilette aufsuchen will, beziehen Carabinieri Stellung vor dem Lokal. Ungeachtet der bevorstehenden Razzia rennt er aus dem Lokal, um sich in einem Hinterhof zu erleichtern. Dabei übersieht er eine Absperrungskette und stürzt ganz fürchterlich. Schlimmer als die Schmerzen ist die Scham, dass er sich die Hose nass gemacht hat und überdies muss er sich auch noch übergeben. Die Carabinieri kontrollieren zwar noch seine Papiere, aber sein elender und zudem alkoholisierter Zustand veranlasst sie nur zu einer mitleidvollen Geste. Verdreckt, bleich und hinkend wankt Konrad in seine Pension zurück. Nachdem er sich gewaschen und umgezogen hat, trinkt er mit Serafino einen Espresso. Sie müssen Abschied nehmen, denn das Schiff, auf dem sein Kumpan angeheuert hat, legt ab. Konrad kann sich in dem nach seiner versifften Kleidung und dem Erbrochenen stinkenden Zimmer nicht mehr aufhalten und siedelt ins Hotel Virginia um.

Eine Woche später rafft er sich auf und schreibt Magda eine Postkarte.

Sein Ausflug ans Meer stellt sich als Enttäuschung heraus. Außer einer sich streitenden deutschen Familie und den Tritt in einen Seeigel hat er nichts erlebt.

Konrad zieht nun ins Albergo Armonia um, wo er seine Eindrücke während der vergangenen zwei Wochen aufschreibt. Eine Passage lautet:

Die Wirklichkeit – seelenruhig fürchterlicher und unbeschreiblicher werdend von Tag zu Tag – zwingt entweder zu totalem Rückzug oder zum jaulenden Anarchismus – (Seite 65)

Aufhören ist feig. Weitermachen ist feig. Aufhören ist tapfer. Weitermachen ist tapfer. Und das Leben ist eine Frage der Wortwahl. – Ach Scheißdreck! (Seite 66)

Warum er mit der Prostituierten mitgeht, die ihn auf der Gasse anspricht, weiß Zündel nicht. Es ist das erste Mal, dass er sich auf derartige Eskapaden einlässt. Sie führt ihn über einen Hintereingang in einen schwach erleuchteten Korridor, wo er sogleich vom Portier mit „Benvenuto Signor Sündel“ begrüßt wird. Er ist im Armonia gelandet. Das heruntergekommene Zimmer und die abgetakelte Dirne sind nicht dazu geeignet, bei ihm die erforderlichen Reaktionen hervorzurufen. Er gibt ihr das Geld und sucht deprimiert sein Zimmer auf.

Inzwischen ist die letzte Ferienwoche angebrochen. An Magda denkt er wenig, sie entrückt ihm immer mehr. Zündels Elendsgefühle werden täglich stärker, er dämmert wie in einem lauen Tümpel vor sich hin. Der exzessive Alkoholkonsum und das Wenige, was er an Nahrung zu sich nimmt, potenzieren die Niedergeschlagenheit.

Er rafft sich dazu auf, einen Busausflug nach Portofino zu machen. Nietzsche war schließlich auch dort, erinnert sich Konrad. Er sitzt noch nicht lange in einem Café, als ihn eine junge Frau anspricht. Die kaprizierte Nounou lädt ihn zu sich zum Essen ein. Aber als er vor Überraschung nicht gleich zusagt, geht sie grußlos weg. Zwei Mandelschnäpse später kehrt sie zurück und führt ihn zu ihrer Wohnung in der Altstadt von Rapallo. Leider fehlt Zündel der Hunger, dafür macht ihn der Rotwein „gegenwartstauglich“. Nach angeregter Unterhaltung zieht sich Nounou aus und zeigt sich nackt, aber Konrad berührt sie nicht. Ins Bett legen sie sich wie Bruder und Schwester. Spät in der Nacht schleicht er sich davon und schreibt auf einen Zettel:

Nounou, ich muss weg. Morgen wären vielleicht schon hundert Messer nötig, um uns auseinanderzuschneiden, und übermorgen tausend. (Seite 76)

Jetzt will Konrad sein Vorhaben durchführen: eine Waffe besorgen. In den Gassen, in denen sich die Rauschgifthändler rumtreiben, trifft er auf einen Typ namens Carlo, der bereit ist, ihm in einem Waffengeschäft einen Revolver zu besorgen. Konrad sucht sich die Waffe im Schaufenster aus und beauftragt ihn mit dem Kauf. Provision für das Risiko wird noch extra berechnet. Eigentlich will Konrad erst bei Übergabe der Ware Carlo das Geld geben, aber dieser besteht auf sofortiger Bezahlung. Zu vereinbarten Zeit kommt Carlo mit einem verschnürten Paket. Konrad wagt nicht, vor den Augen des finsteren Kerls den Inhalt nachzuprüfen. Erst in seinem Hotelzimmer sieht er nach: in Holzwolle eingebettet findet er ein Stück Gips. Wütend ist er nicht nur wegen des Verlusts des Geldes, sondern er schämt sich auch wegen seiner Vertrauensseligkeit und Weltfremdheit.

Da die Ferien zu Ende sind, ist es Zeit, nach Hause zu fahren. Vorher lässt er sich noch die Haare schneiden, und zwar so kurz, dass sein Kopf aussieht wie „die Kreuzung zwischen einem gerupften Fasan und einer Strumpfkugel“, wie er in schonungsloser Selbstkritik bemerkt. Ihm ist übel und elend. Mit einer Flasche Cognac geht er in sein Hotelzimmer zurück und schreibt den ganzen Tag über bis Mitternacht.

Gegen neun Uhr abends ist Zündel daheim. Magda ist starr vor Schreck über Konrads Aussehen. Natürlich hatte sie sich Sorgen gemacht, als sie nach ihrer Rückkehr aus Bern die Wohnung leer vorfand. Sie hatte unter anderem Viktor Busch angerufen und von Konrads Besuch bei ihm erfahren. Dieser schilderte die Verfassung seines Freundes als „grimmig“. Wohingegen Judith, bei der er die Katze abgeliefert hatte, erzählte, dass er wie ein Gespenst ausgesehen und wie ein Irrer dahergeredet habe. Magda besuchte in ihrer Verzweiflung Johanna Zündel, obwohl sie mit ihrer Schwiegermutter sonst wenig Kontakt hat. Das Gespräch mit ihr und die später eintreffende Postkarte aus Genua beruhigten Magda ein wenig. Aber als Konrad gegen Schluss der Ferien immer noch nicht zurück war, sorgte sie sich wieder, denn in den Tagen vor Beginn des neuen Schuljahrs bereitete er sich immer auf den Unterricht vor.

Konrad ist wortkarg, erzählt nichts von seiner Reise. Magda kann ihn zu etwas Essen überrreden und nach einem Bad will sie ihn ins Bett stecken. Aber er packt noch Bücher in seine Mappe und lässt sich nicht davon abbringen, am nächsten Tag seinen Unterricht zu halten, obgleich Magda ihn krankmelden will.

Morgens um sechs hört Magda ein Poltern aus der Küche. Konrad ist schon angezogen und trinkt gerade Cognac. Sie führen eine erregte Auseinandersetzung wegen ihrer zurückliegenden gegenseitigen Vorwürfe. Magda beschwichtigt, aber Konrad ist unversöhnlich. In diesem Zustand geht Konrad trotz Magdas Protest in die Schule. Im Lehrerzimmer wundern sich die Kollegen über seinen Haarschnitt. Auch die Schüler in der Klasse, in der er die erste Stunde hält, kichern über sein Aussehen. Sein Vortrag ist völlig konfus und unverständlich. Danach provoziert Zündel mit schlüpfrigen Anzüglichkeiten die Lehrer, und als sein Freund Oswald Scholl ihn beruhigen will, rastet Zündel endgültig aus. Anstößige Beschimpfungen keifend, rennt er aus dem Zimmer. Er stürmt in eine Schulklasse, vor der er einen ebenfalls sinnleeren und wirren Sermon hält, der folgendermaßen endet:

Das Bestehende sehnt sich danach, von euch gefickt zu werden, und eure Erzieher sehnen sich danach, euch dabei zuzuschauen. Und je routinierter ihr euch anstellt, umso entspannter, umso wohlwollender, unso strahlender wird ihre Miene. – So ist das. So und nicht anders. – Und damit hat unsere Lektion ein natürliches Ende gefunden, und knechtisch wär’s, das Klingelzeichen abzuwarten! (Seite 106)

Dann will er das Zimmer verlassen, kann aber die Klinke nicht fassen, wankt zum Pult und schreibt ins Klasssenbuch: „alles okay“. Er muss sich übergeben und bricht dann zusammen.

In der Klinik ist er zwei Tage lang unansprechbar. Es besteht eine leichte Unterernährung, aber keine Alkoholvergiftung. Seine sonstigen Werte geben keinen Hinweis auf seinen Zustand. Zündel reagiert nicht auf Magda und auch nicht auf seine Mutter. Seinen Freund Viktor nimmt er ebenfalls nicht zur Kenntnis. Man verlegt ihn in eine psychiatrische Klinik. Auf Fragen der Ärzte antwortet er komplett sinnloses Zeug. Ein Befund lautet auf Schizophrenie, der andere auf depressiven Stupor; man einigt sich auf „abwartendes Beobachten“.

Der Pfarrer Viktor Busch ist sozusagen der Chronist dieser Geschichte; ihm haben wir die Kenntnis des genauen Ablaufs von Zündels Aufenthalt in Genua zu verdanken. Zündel hatte nämlich seinem Vater in Vancouver die Notizen und Aufzeichnungen, die er in Genua niederschrieb zusammen mit dem Stück Gips (das er statt des Revolvers bekommen hatte) geschickt und ihn aufgefordert, das alles zusammen dem Pfarrer Busch in Zürich zukommen zu lassen. Dieses Paket aus Kanada erhielt Viktor Busch zehn Wochen nach Konrads „Rückzug“.

Viktor muss Konrad sagen, dass Magda am Blinddarm operiert wurde und ihn nicht besuchen kann. Auf die Besuche des Schulleiters und seiner Mutter reagiert Zündel abweisend. Seine Antworten sind zynisch und verletzend.

Nach ein paar Tagen ist Zündel verschwunden. Zuletzt wurde er trotz der Hitze mit einer wollenen Zipfelmütze im Park gesehen. Magda hält es für möglich, dass er sich in das Haus seines Kollegen Oswald Scholl, für das er einen Schlüssel besitzt, zurückgezogen hat. Mit zwei Anstaltspflegern fährt Scholl dorthin. Sie hören Zündel durch ein offenes Fenster singen. Ein Pfleger schlägt gegen die Tür – und dann kracht auch schon ein Schuss. Zündel steht im Fenster, mit zitternder Hand hält er eine Pistole. Er lässt sich nicht beruhigen und schießt ein zweites Mal. Dann schließt er das Fenster. (Man hat nie herausgefunden, woher er die Pistole hatte.)

Magda wünscht weiterhin keine Polizei und will nicht, dass Gewalt angewendet wird. Sie bittet Viktor Busch, Konrad gut zuzureden. Schon von weitem hört er Zündel in dem Haus singen und sieht ihn auf der Eckbank mit der Zipfelmütze sitzen. Konrad greift nach der Pistole und richtet sie auf seinen Freund, obwohl der Pfarrer ihn zu besänftigen versucht: Wirst doch deinen Viktor noch kennen! „Gekannt wird niemand, zurück, ich habe Schießbefehl“, kontert Zündel. Er wolle seine Ruhe. Schließlich gelingt es Viktor, ihm die Waffe wegzunehmen. Konrad sieht zu, ohne sich zu wehren.

Anderntags ist Magda in der Lage, zu dem Häuschen hinauszufahren. Ihr Mann ist nicht da. In der Küche findet sie die Zipfelmütze und einen Fetzen Papier mit den Worten:“Bis auf weiteres abwesend.“ Sie wartet noch vier Tage, dann veranlasst sie im Radio die Durchsage einer Vermisstenmeldung und schaltet Interpol ein.

Die einzige Spur, die von Konrad bleibt, sind der Gipsklumpen und die Aufzeichnungen aus Genua, die der „abgängige Sohn“ seinem Vater nach Kanada geschickt hatte.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Wäre dem korrekten Lehrer Konrad Zündel nicht ein Zahn ausgefallen, wodurch er sich genötigt sah, seine Reise abzubrechen, hätte sein Leben einen anderen Verlauf genommen. Die verfrühte Rückkunft Konrads bringt die Pläne seiner Frau durcheinander. Magda, die sich in ihrer Ehe eingesperrt fühlt und sich zu emanzipieren versucht, ist über sein Erscheinen nicht begeistert. Wollten sie doch diesmal die Ferien getrennt verbringen. Konrad ist über den kühlen Empfang enttäuscht, und es kommt zu einer Auseinandersetzung, bei der sich beide gegenseitig ihre Unzulänglichkeiten vorwerfen. Als Konrad dann aufgrund einer verleumderischen Andeutung vermutet, seine Frau sei ihm nicht treu, fährt er noch einmal weg: nach Genua. Dort wurde er vor dreiunddreißig Jahren von einem ihm unbekannten Mann gezeugt. Das ist der Ort, wo er zu sich finden will, über seine Herkunft rätselt und die Beziehung zu Magda überdenkt. Der Gedanke, dass sie sich entfremdet haben, hat ihn verletzlich gemacht. Diese Tage in Genua, die er in billigen Hotelzimmern mit viel Alkohol und wenig Essen verbringt, sind überhaupt nicht hilfreich bei seiner Sinnsuche. Unerfreuliche Erlebnisse verschlechtern seine Stimmung. Auf eine engere Beziehung zu der jungen Frau, die ihn verführen will, lässt er sich nicht ein. So treibt ihn die Trostlosigkeit seines Zustands in immer größere Verzweiflung.

Es gelingt Markus Werner ausgezeichnet, den Leser spüren zu lassen, wie der Protagonist immer tiefer im Elend versinkt und in den Strudel der Resignation gezogen wird. Zündels grotesker Auftritt in der Schule spiegelt die Zerrissenheit der Person und lässt das katastrophale Ende ahnen. Tragikomisch schildert der Autor selbst die bitterernsten Situationen und das Absurde wird zum Faktum.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2007
Textauszüge: © Residenz Verlag

Markus Werner: Festland
Markus Werner: Am Hang

Salman Rushdie - Shalimar der Narr
In Allegorien und Arabesken, verschachtelten Sätzen und gedanklichen Abschweifungen entfaltet Salman Rushdie seine orientalische Fabulierkunst. "Shalimar der Narr" ist ein sarkastisches Plädoyer für mehr Respekt, Rücksicht und Toleranz im Umgang einzelner Menschen und in der Politik.
Shalimar der Narr