Nichts als die Wahrheit

Nichts als die Wahrheit

Nichts als die Wahrheit

Nichts als die Wahrheit - Originaltitel: After the Truth - Regie: Roland Suso Richter - Drehbuch: Johannes W. Betz, nach einer Vorlage von Christopher und Kathleen Riley - Kamera: Martin Langer - Schnitt: Peter Adam - Darsteller: Götz George, Kai Wiesinger, Karoline Eichhorn, Doris Schade, Peter Roggisch, Bastian Trost, Stephan Schwartz, Peter Rührig, Heinz Trixner, Michaela Rosen, Jockel Tschiersch, Detlef Bothe u.a. - 1999; 130 Minuten

Inhaltsangabe

Nicht der berüchtigte Auschwitz-Arzt Josef Mengele, sondern dessen Bruder Karl ist bei einem Badeunfall 1979 ums Leben gekommen. Zwanzig Jahre später kehrt der Achtundachtzigjährige nach Deutschland zurück, um vor Gericht seine Version über das damalige Geschehen publik machen zu können, und ein junger Anwalt übernimmt zögernd die Verteidigung ...

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Kritik

Roland Suso Richter ist es nicht gelungen, die gewählte Fiktion plausibel zu machen. "Nichts als die Wahrheit" wirkt konstruiert. Nur Götz George vermag v. a. mit seiner Sprechkunst der Hauptfigur Leben einzuhauchen, ihr einen Charakter zu geben, bei dem es dem Kinobesucher kalt über den Rücken läuft.
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Berlin 1999. Der Rechtsanwalt Peter Rohm (Kai Wiesinger) arbeitet seit acht Jahren an einem Buch über Dr. Josef Mengele, aber er kommt nicht voran, weil er vergeblich eine Antwort auf die Frage sucht, wie es ein Arzt fertigbrachte, Frauen und Kinder in Auschwitz für medizinische Experimente qualvoll umzubringen. An seinem Geburtstag erhält er ein Paket, in dem er überraschend eine SS-Uniform findet. Anhand der Registrierungsnummer am Ärmel stellt sich heraus, dass die Uniform Josef Mengele gehörte.

Noch am selben Abend wird Rohm im Auftrag des rechtsradikalen Verlegers Müller (Heinz Trixner) entführt und als angeblicher Komapatient in einem Flugzeug nach Buenes Aires gebracht. In einem einsamen Haus kommt er wieder zu sich – und hat Josef Mengele vor sich, der nach Deutschland zurückkehren möchte, um aus seiner Sicht darstellen zu können, was vor fast einem halben Jahrhundert geschah. Von Peter Rohm verlangt er, dass er ihn vor Gericht verteidigt. Das sei der Deal, erklärt der Achtundachtzigjährige: Er könne seine Version publik machen, und Rohm werde die Antworten auf seine Fragen erhalten.

Bei seiner Ankunft am Flughafen in Berlin behauptet der Passagier Baumgarten, der hinter Peter Rohm aus der Maschine steigt, er sei Dr. Josef Mengele. Er wird festgenommen, und es stellt sich heraus, dass es sich tatsächlich um den berüchtigten „Todesengel von Auschwitz“ handelt.

Peter Rohm ringt mit sich, ob er Josef Mengele verteidigen soll oder nicht. Die Selbstgerechtigkeit des zuständigen Oberstaatsanwalts Heribert Vogt (Peter Roggisch) gibt schließlich den Ausschlag: Er übernimmt das Mandat auf der Basis eines Pflichtverteidigers. Rohms schwangere Ehefrau Rebekka (Karoline Eichhorn) ist entsetzt, als sie es aus dem Fernsehen erfährt. Vor Rohms Haus wimmelt es von Journalisten – bis sie von Neonazis vertrieben werden, die von nun an das Anwesen bewachen. Rebekka Rohm zieht in ein Hotel und nimmt unter dem Namen Brandenburger ihre Arbeit beim „Tagesspiegel“ wieder auf.

Angewidert von dem unerbetenen Schutz beschließt Peter Rohm, das Mandat niederzulegen. Da konfrontiert Josef Mengele ihn mit der Behauptung, Rohms Mutter Hilde (Doris Schade) habe während des Krieges zwei Jahre als Krankenschwester in der Würzbach-Klinik gearbeitet und dort sei Euthanasie betrieben worden. Rohm verschafft sich Zugang zum Archiv der Klinik und findet heraus, dass seine Mutter dieses Beschäftigungsverhältnis in der Tat verschwiegen hat. Er stellt sie zur Rede, und sie gesteht, dass sie diese Zeit vergeblich aus ihrem Gedächtnis verdrängen wollte, denn sie habe sich unwissentlich schuldig gemacht. Eines Nachts zog einer der Ärzte zwei Spritzen auf, und ohne zu fragen, nahm die siebzehnjährige Schwesternschülerin Hilde die Injektionen bei zwei Patientinnen vor. Die lagen am nächsten Morgen tot in ihren Betten. Daraufhin lehnte sie zwar weitere Evipan-Injektionen ab, aber es starben immer mehr Patientinnen, weil andere Krankenschwestern die Anordnungen der Ärzte ausführten. Hilde kündigte und zog nach Stuttgart, aber ihr Gewissen quält sie bis heute.

Josef Mengele, der vor Gericht in einer Glaskabine sitzt, beantwortet bereitwillig die Fragen des Staatsanwalts und gibt freimütig zu, dass Auschwitz ein Vernichtungslager war und er selbst Hunderttausende für die Gaskammern selektierte. Das überrascht die Ehemaligen und die Neonazis, die Rohms Entführung und Mengeles Rückkehr nach Deutschland organisierten, weil sie glaubten, die Aussagen des KZ-Arztes würden ihre Propaganda stützen, derzufolge es den Holocaust gar nicht gegeben habe. Dr. Rüdiger Füglein (Peter Rührig) versucht, Josef Mengele mit einer Injektion im Gefängnis zu töten, doch als er die Nadel bereits in die Armvene eingeführt hat, weist der Häftling ihn darauf hin, dass er Beweismaterial gegen ihn und andere Hintermänner durch seinen Verteidiger bei einem Notar hinterlegen ließ. Da zieht Dr. Füglein die Injektionsnadel wieder heraus.

Rebekka ahnt, dass Dr. Füglein in die Angelegenheit verwickelt ist und passt den Arzt an seinem Auto ab, um ihm für Hintergrundinformationen 100 000 D-Mark und eine Reise an einen Ort seiner Wahl anzubieten. Füglein verabredet sich mit ihr, doch als er den Zündschlüssel dreht, explodiert sein Wagen. Rebekka kommt mit einigen Verbrennungen davon.

Vor Gericht wird deutlich, dass zwischen der in zunehmendem Maße verschwiegen praktizierten Sterbehilfe und der Euthanasie keine scharfen Trennlinien existieren. Wenn ein unheilbar an Knochenkrebs erkrankter Fünfundachtzigerjähriger die Schmerzen kaum noch erträgt und um eine höhere Morphium-Dosis bettelt, gibt der Arzt vielleicht nach, obwohl ihm bewusst ist, dass er damit die verbleibende Lebensdauer des Patienten verkürzt. Viele Menschen halten das für richtig. Aber was ist, wenn es sich um ein schwer krankes Kind handelt, dessen Eltern das Leiden nicht mehr mit ansehen können?

Obwohl Josef Mengele in seinen Aussagen die ihm zur Last gelegten Morde zugibt und auch gesteht, dass er die Augen von getöteten Häftlingen wie Trophäen an ein Brett genagelt hatte, leugnet er seine Schuld und behauptet, nur die Leiden der ohnehin todgeweihten Häftlinge verkürzt und damit zugleich der medizinischen Forschung gedient zu haben. „Ein guter Arzt muss töten.“

Peter Rohm sieht sich in einem Konflikt: „Verteidige ich Mengele erfolgreich, bin ich ein schlechter Mensch; andernfalls ein schlechter Anwalt.“ In seinem Schlussplädoyer erklärt er, dass er versuchte, die unfassbaren Taten des Angeklagten aus der damaligen Zeit heraus zu verstehen, aber er habe mit anhören müssen, wie Josef Mengele auch jetzt noch, ein halbes Jahrhundert danach, die bestialischen Morde durch pseudohumanitäre Motive zu entschuldigen versuchte. Er beantragt eine lebenslange Haftstrafe für Josef Mengele.

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Roland Suso Richter und der Drehbuchautor Johannes W. Betz stellen in „Nichts als die Wahrheit“ die Filmfigur Josef Mengele vor ein Tribunal, vor dem sich der wahre Josef Mengele nie verantworten musste. Um den „Todesengel von Auschwitz“ 1999 nach Berlin reisen lassen zu können, gehen sie in ihrer Fiktion davon aus, dass bei einem Badeunfall 1979 in Brasilien nicht Josef Mengele, sondern dessen Bruder Karl ums Leben kam.

Jeder Trick ist erlaubt! Jeder Trick, diese einzigartige deutsche Geschichte wieder ins Gedächtnis zu rufen, ist erlaubt. Es muss nur gut gemacht sein. […] Wir müssen etwas dafür tun, damit diese Zeit unserem Gedächtnis erhalten bleibt. Glauben Sie, dass Sie die Masse der Menschen mit der ewigen Diskussion über die Größe und das Aussehen des Holocaust-Mahnmals erreichen? Wenn wir uns nicht alle auf diesen Kohl-Unsinn von der „Gnade der späten Geburt“ berufen wollen, dann müssen wir kreativ sein in der Befassung mit dieser Vergangenheit. (Götz George in einem Interview mit Alexander Gorkow, Süddeutsche Zeitung vom 15. September 1999)

Die gewählte Fiktion erscheint mir durchaus akzeptabel, aber es ist Roland Suso Richter nicht gelungen, sie plausibel zu machen: „Nichts als die Wahrheit“ wirkt von der Entführung des Rechtsanwalts Peter Rohm bis zu den Schlussplädoyers vor Gericht konstruiert. Offenbar war das Projekt für die Filmemacher ein echtes Anliegen, denn die Darsteller verzichteten auf Gagen, und Götz George investierte darüber hinaus eigenes Geld, um das Vorhaben nicht an der Finanzierung scheitern zu lassen. Obwohl Josef Mengele mit krallenartigen Fingernägeln und einer Fratze dargestellt wird, soll vermutlich gezeigt werden, dass auch bestialische Massenmörder keine Dämonen sind und in jedem Menschen erschreckende Möglichkeiten stecken. Bei einer Podiumsdiskussion nach einer Vorführung des Films im September 1999 brachte Doris Dörrie es auf den Punkt, wenn sie erklärte, es gehe darum, „den eigenen Monsteranteil in jedem von uns zu erkennen. Nur dann können wir diesen Anteil auch bekämpfen.“ Aber der Film „Nichts als die Wahrheit“ wird diesem Anspruch nicht gerecht und erschreckt eher durch seine Harmlosigkeit, durch den leichtfertigen Umgang mit diesem Thema und der fehlenden Achtung vor den Opfern.

Auch stilistisch kann „Nichts als die Wahrheit“ nicht ganz überzeugen. Dass Josef Mengele vor Gericht in einem Glaskasten sitzt, soll wohl symbolisieren, dass er außerhalb der Gesellschaft steht, aber das Szenario erinnert auch – und im Zusammenhang mit dem ernsten Thema eher peinlich – an Hannibal Lector in „Das Schweigen der Lämmer“. Auf ambitionierte Weise springt der Film mehrmals zwischen den Schauplätzen in Berlin und Argentinien hin- und her, und die Gerichtsverhandlung wird von Einblendungen einer Straßenschlacht zwischen Polizisten und Neonazis hektisch zerstückelt.

Dauernd wird mächtig aufs Gas gedrückt – aber es wurde vergessen, den Gang einzulegen. (Michael Althen, Süddeutsche Zeitung vom 23. September 1999)

Eindrucksvoll ist allerdings Götz George, wie er in dem Glaskasten ins Mikrofon spricht und dabei mitunter die Hände wie ein Dirigent bewegt. Mit seiner großartigen Sprechkunst haucht er der Figur Leben ein, gibt ihr Tiefe und einen Charakter, bei dem es dem Kinobesucher kalt über den Rücken läuft. Besser spielte Götz George nur in „Der Totmacher“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004

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