Yann Martel : Schiffbruch mit Tiger

Schiffbruch mit Tiger
Originalausgabe: Life of Pi Alfred A. Knopf, 2001 Schiffbruch mit Tiger Übersetzung: Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2003 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN 3-596-15665-3, 382 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Pi, der 17-jährige Sohn eines indischen Zoodirektors, überlebt als einziger Mensch den Untergang eines Frachters, der ihn und seine Familie mit der Menagerie nach Kanada bringen sollte. Ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne und ein Tiger schaffen es ebenfalls auf das Rettungsboot, aber von ihnen bleibt nur der Tiger am Leben. 227 Tage lang treiben Pi und der Tiger in dem Boot über den Pazifik, bis sie die mexikanische Küste erreichen ...
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Kritik

Die Erlebnisse des Schiffbrüchigen auf dem Rettungsboot sind in "Schiffbruch mit Tiger" realistisch beschrieben. Das ist spannender und unterhaltsamer Lesestoff. Die naturalistische Darstellung lässt manchmal vergessen, dass man es mit einer Parabel und handfestem Seemannsgarn zu tun hat.
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Mr Santosh Patel, der früher ein großes Hotel in Madras hatte, ist nun Besitzer eines Zoos in Pondicherry. „Ein ganz natürlicher Schritt, könnte man denken, vom Hotelier zum Zooleiter.“ (Seite 29)

Seinen Sohn hat er Piscine Molitor genannt. Auf diesen doch sehr ungewöhnlichen Namen ist er durch einen befreundeten Geschäftspartner gekommen, der ihm von den komfortablen Schwimmbädern in Paris vorgeschwärmt hat, von denen das „Molitor“ aber am schönsten sei. Der Junge lässt sich Pi rufen. Dass Pi es einmal mit Wasser, mit sehr viel Wasser zu tun haben würde, konnte sein Vater nicht ahnen.

Als Pi etwa fünfzehn ist, findet Santosh Patel es an der Zeit, dem Heranwachsenden zu demonstrieren, wie gefährlich Tiger sind: Er führt in den Käfig neben dem Raubtier eine Ziege, macht die Zwischentür auf und …

„… ein schwarz-orangefarbener Blitz schoss von einen Käfig in den anderen“. (Seite 55)

Pi, der als Hindu erzogen wurde, überrascht seine Eltern mit seiner Entscheidung, dass er sich katholisch taufen lassen will, und außerdem benötigt er noch einen Gebetsteppich, weil er sich auch zum Islam hingezogen fühlt.

Weil Santosh Patel und seine Frau die Politik von Mrs Gandhi, wie sie die indische Regierungschefin nennen, nicht mehr aushalten, beschließen sie auszuwandern, und zwar nach Kanada. Es ist keine leichte Aufgabe, die Tiere an andere Zoos zu verkaufen. Einen Teil werden sie nicht los; den nehmen sie dann aber auf dem Frachtschiff mit.

Das schon recht ramponierte Schiff „Tsimtsum“ geht im Pazifischen Ozean unter.

Es gab einen Ton von sich wie ein riesiges metallisches Rülpsen. Sachen blubberten an der Oberfläche, dann verschwanden sie. Alles brüllte: der Wind, die See, mein Herz. (Seite 123)

Pi (als einziger seiner Familie und der Besatzung) kann in ein Rettungsboot springen, auf dem er eine Ratte, ein Orang-Utan-Weibchen, eine Tüpfelhyäne und ein Zebra mit gebrochenen Beinen vorfindet. Im Wasser sieht er den Königstiger „Richard Parker“ schwimmen.

„Jesus, Maria, Mohammed und Vishnu, was für ein Glück, dass du da bist, Richard Parker! Nicht aufgeben, bitte. Komm ins Rettungsboot. Hörst du die Trillerpfeife? … Ja, hier bin ich. Du musst nur schwimmen. Schwimmen!“ (Seite 123)

Pi hilft dem 450 kg schweren bengalischen Tiger ins Boot – und begreift erst dann, was er tut.

„Moment mal – wir sitzen beide im selben Boot? Bin ich denn noch bei Trost?“ (Seite 125)

Der Tiger, vorerst auch noch verstört, verkriecht sich auf einem Teil des Bootes unter einer Plane. Nach und nach versuchen Pi und jedes der Tiere mit den Gegebenheiten zurechtzukommen. Pi, dem es nicht geheuer ist, mit den wilden Tieren auf dem Boot zu sein, baut sich mit Hilfe von Schwimmwesten und Seilen, die er neben Wasser- und Lebensmittelvorräten in dem Rettungsboot vorfindet, ein Floß, auf dem er dann die meiste Zeit verbringt.

Unter den Tieren beginnt der Überlebenskampf. Die Hyäne frisst zuerst das verletzte Zebra und später den Orang-Utan. Schließlich fällt die Hyäne dem Tiger zum Opfer.

Als dann alle Fleisch- und Knochenreste gefressen sind. muss Pi dafür sorgen, dass das Raubtier nicht verhungert. Er gibt ihm von den Fischen und Schildkröten ab, die er auch für sich selbst fängt. Vorsichtig achtet er weiterhin darauf, dass er dem Tiger nicht zu nahe kommt. Er erinnert sich noch gut daran, wie ihm sein Vater das Verhalten des Tigers gegenüber der Ziege vorführte. Andererseits überlegt er sich, dass er sich eine Position als Autorität, sozusagen als Alpha-Tier, verschaffen muss. Mit Trillerpfeife und verschiedenen anderen Tricks baut er nach und nach wenn nicht eine Überlegenheit, so doch ein respektvolles Nebeneinander auf.

Regenfälle wechseln ab mit sengender Sonnenhitze. Gewitter mit Blitzeinschlägen auf dem Wasser, peitschende Stürme und Haie, die das Boot umkreisen sorgen immer wieder für Aufregungen. Der Verlust seiner Familie, quälende Einsamkeit, körperliche Beschwerden und die Ungewissheit einer Rettung belasten den Sechzehnjährigen bis zur Verzweiflung. Während eines nächtlichen Sturms wurde das von Pi gebaute Floß vom Boot abgerissen, sodass er sich jetzt das acht Meter lange Rettungsboot mit dem Tiger teilen muss.

So spielt Pi verschiedene Gedanken durch, wie er den Tiger, der ja immer noch eine Bedrohung darstellt, loswerden könnte.

Plan eins: Ich schubse ihn vom Rettungsboot.
Plan zwei: Ich bringe ihn mit den sechs [auf dem Boot vorgefundenen] Morphiumspritzen
um.
Plan drei: Ich greife ihn mit dem gesamten vorhandenen Arsenal [= die Notausrüstung des Bootes] an.
Plan vier: Ich erdrossele ihn.
Plan fünf: Ich vergifte, ich verbrenne ihn, setze ihn unter Strom.
Plan sechs: Ich führe einen Zermürbungskrieg.(Seite 194ff)

Natürlich ist keiner der Pläne durchführbar.

Mittlerweile ist Pi – nun schon etliche Wochen allein mit dem Tiger im Boot – am absoluten Tiefpunkt seiner seelischen Verfassung.

Jetzt nimmt die Angst sich den Körper vor, der längst weiß, dass da etwas nicht stimmt. Längst schon sind die Lungen fortgeflogen wie ein Vogel, die Eingeweide winden sich wie eine Schlange davon. Jetzt lässt sich die Zunge fallen wie ein Opossum, und das Kinn galoppiert dazu auf der Stelle. Die Ohren werden taub. Die Muskeln zittern, als hätte man Malaria, und die Knie schlackern, als wären sie auf dem Tanz. Das Herz zieht sich zusammmen, dafür weitet der Schließmuskel sich. Und immer so weiter, der ganze Körper. Jeder einzelne Teil versagt, jeder auf die Weise, auf die er es am besten kann. Nur die Augen bleiben aufmerksam. Sie registrieren jeden Schachzug der Angst genau. Nicht lange, und man macht Fehler. Man lässt seine letzten Verbündeten ziehen: Hoffnung und Vertrauen. (Seite 199)

Richard Parker, vor dem er sich anfangs so ängstigte, verhilft ihm paradoxerweise wieder zur Ruhe. Wenn er ihn betrachtet – „es ist alles so, nun, katzenhaft“ – und seinen Geräuschen, dem Schnauben und Prusten und Knurren und Fauchen zuhört, gelingt es Pi, sich von seiner Niedergeschlagenheit abzulenken.

Und so kam es denn also:
Plan sieben: Ich sorge dafür, dass er am Leben bleibt. (Seite 204)

Wegen unzureichender Ernährung werden sowohl Pi als auch der Tiger vorübergehend blind, und einmal halluziniert Pi, dass er sich auf dem Boot mit einem Franzosen über Kochrezepte unterhält, den der Tiger aber dann in Stücke reißt.

Eines Tages erblickt Pi eine kleine Insel, die er vorsichtig in Augenschein nimmt. Der Boden scheint nur aus Algen zu bestehen und die Bäume liefern nicht nur Schatten, sondern dienen auch als Schlafplatz für ihn und aberhunderte von Erdmännchen, die diese Insel bevölkern. Pi bleibt einige Zeit und erholt sich auch körperlich wieder etwas. Dass auf dieser vermeintlichen Oase eine tödliche Gefahr lauert, merkt er erst viel später. Richard Parker hat das wohl schon früher geahnt und deshalb nachts im Boot geschlafen. (Tiere sind halt immer klüger.)

Nach 227 Tagen erreicht das Boot Land. In Mexiko kriecht Pi Patel auf festen Boden. Der Tiger auch.

Auf seinem Weg … kam er direkt vor mir vorbei. Er beachtete mich gar nicht. … Er lief unter Mühen, stolperte über seine eigenen Beine. Mehrere Male stürzte er. Als er den Dschungel erreichte, blieb er stehen. Ich war mir sicher, dass er sich nun zu mir umdrehen würde. Er würde mich ansehen. Er würde die Ohren anlegen. Er würde knurren. Etwas in dieser Art würde er tun, zum Abschluss der Zeit, die wir miteinander verbracht hatten. Aber er dachte gar nicht daran. Sein Blick war starr auf den Dschungel gerichtet. Und dann verschwand Richard Parker, der Gefährte meiner langen Reise, der mächtige, angsteinflößende Tiger, der mich gerettet hatte, mit einem kleinen Sprung für immer aus meinem Leben. (Seite 343)

Pi Patel wird von Dorfbewohner gefunden und aufgenommen. Am nächsten Tag wird er ins Krankenhaus gebracht.

Zwei Herren vom japanischen Verkehrsministerium, Abteilung Schifffahrt, suchen ihn dort auf. Sie sind beauftragt, Genaueres über den Untergang des Frachtschiffes „Tsimtsum“ herauszufinden. Die Befragung verläuft nicht nur wegen der verschiedenen Sprachen wenig aufschlussreich, sondern auch deshalb, weil die Beamten die abenteuerliche Geschichte, die ihnen Pi Patel erzählt, nicht glauben.

Mr Okamoto: „Für unsere Untersuchung wüssten wir gern, wie es wirklich war.“
„Wie es wirklich war?“
„Ja.“
„Sie hätten gern eine andere Geschichte?“
„Ähm … nein. Wir wüssten gern, was wirklich geschehen ist.“
„Aber wenn man von etwas berichtet, wird es dann nicht immer eine Geschichte?“ (Seite 362)

Dann erzähle ich eben eine andere Geschichte, sagt Pi Patel. In der reichlich blutrünstigen Darstellung spielt hauptsächlich der bösartige Koch des Schiffes eine Rolle; ein verletzter taiwanesicher Seemann sowie Pis Mutter sind in dieser Version ebenfalls dabei. Patel fragt, ob es auch hier Passagen gibt, die unglaubwürdig sind und ob er etwas ändern solle. Den Ermittlern fällt auf, dass die beiden Fassungen mit der „Tier“-Geschichte übereinstimmen.

„Dann wäre also der taiwanesische Seemann das Zebra, seine Mutter der Orang-Utan, und der Koch … die Hyäne – und er selbst [Pi] ist der Tiger!“ (Seite 373)

Der Hergang des Schiffsunglücks kann nicht geklärt werden. Aber Pi Patel möchte noch wissen, welche von den beiden Geschichten den Herren besser gefallen hat.

„Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere Geschichte.“ (Seite 379)

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Im ersten Teil von „Schiffbruch mit Tiger“ erfahren wir viel über Tiere und ihre Verhaltensweise im Zoo und dass der Hindu Piscine Molitor Patel, genannt Pi (wie der griechische Buchstabe zur Bezeichnung der Konstante für die Kreisberechnung), sich dafür entscheidet, auch Christ und Moslem zu werden. Am 21. Juni 1977 verlässt die Familie Patel von Madras aus Indien, um in Kanada einen Neuanfang zu wagen. (Da sind wir dann schon auf Seite 118.)

Gleich am Anfang des zweiten Teils sinkt das Schiff. Die vielfältigen und schaurigen Erlebnisse des Schiffbrüchigen auf dem Rettungsboot, der Zustand des gepeinigten Körpers und die verzweifelte seelische Verfassung sowie der Umgang mit den wilden Tieren auf dem Boot, von dem am Ende nur der Tiger überbleibt, sind in realistischer und teilweise sehr drastischer Weise beschrieben. Das ist spannender und unterhaltsamer Lesestoff auf zweihundertdreißig Seiten. Die naturalistische Darstellung lässt manchmal vergessen, dass man es mit einer Parabel und handfestem Seemannsgarn zu tun hat.

Rund dreißig Seiten umfasst der dritte Teil, der sich mit der Befragung des Geretteten durch Ermittlungsbeamte der Schifffahrtsbehörde beschäftigt. Diese bezweifeln seine Geschichte, und so erzählt ihnen Pi Patel eine andere Version der Ereignisse auf dem Rettungsboot, bei der keine Tiere vorkommen.

Für Pi Patel zählt, dass er am 2. Juli 1977 mit der „Tsimtsum“ gesunken ist und als einziger menschlicher Überlebender dieses Schiffs am 14. Februar 1978 an der mexikanischen Küste anlangte. Über die 227 Tage auf See hat er den Beamten zwei unterschiedliche Geschichten erzählt.

„In beiden Geschichten geht das Schiff unter, meine gesamte Familie kommt um und ich habe viel zu leiden.“ …
„Dann sagen Sie mir doch – da es für Ihre Ermittlungen keinen Unterschied macht und da Sie nicht entscheiden können, ob die eine oder ob die andere Geschichte wahr ist – welche von beiden gefällt Ihnen besser?“
… „Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere Geschichte.“ (Seite 379)

Um die Schilderung der Abenteuer des Schiffbrüchigen authentischer erscheinen zu lassen, sind einzelne Kapitel eingefügt, in denen der Überlebende von dem Autor, der die Erinnerungen aufzeichnen soll, befragt wird und die momentanen Lebensumstände und Familienverhältnisse Pi Patels beschrieben werden.

Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er studierte Philosophie und wohnt derzeit in Kanada. Mit seinem zweiten Roman „Schiffbruch mit Tiger“ gewann er den Booker Prize 2002.

Ang Lee verfilmte den Roman: „Life of Pi. Schiffbruch mit Tiger“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2005 / 2013
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Ang Lee: Life of Pi. Schiffbruch mit Tiger

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