Margarete Steiff
Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte Margarete Steiff an Kinderlähmung und wurde gehunfähig. Eine höhere Schulbildung blieb ihr wie fast allen anderen Mädchen dieser Zeit verwehrt; als Behinderte konnte sie keinen Beruf erlernen, und wie hätte sie einen Ehemann finden sollen? Es war zu befürchten, dass sie zeitlebens von ihren Eltern und anderen Verwandten abhängig blieb. Doch im Alter von dreißig Jahren eröffnete Margarete Steiff in ihrem Elternhaus ein Konfektionsgeschäft, aus dem sie im Lauf der Jahre ein rasch expandierendes Stofftier-Unternehmen machte.
Margarete Steiff:
Im Leiterwagen in die Schule
Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: WageMutige Frauen. 16 Porträts aus drei Jahrhunderten
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2004 / Piper Taschenbuch, München 2008 (5. Auflage: 2011)
Kurz nach der Geburt des Bruders erkrankt Margarete an einem Fieber. Allmählich erholt sie sich wieder, doch sie kann ihre Beine nicht mehr bewegen, und der rechte Arm bleibt in seiner Belastbarkeit eingeschränkt. Verzweifelt fährt die Mutter mit ihr nach Ulm zu einem Spezialisten, der Kinderlähmung diagnostiziert und keine Möglichkeit für eine Heilung sieht. Das gehunfähige Mädchen muss in einem Leiterwagen herumgezogen werden. Gretle kann allenfalls zusehen, wie ihre Schwestern mit Nachbarkindern im Freien herumtoben, und wenn Marie und Pauline ihre Freundinnen besuchen, denken sie nicht immer daran, ihre jüngere Schwester mitzunehmen.
Als sie acht Jahre alt ist, richtet Friedrich Steiff ein Gesuch an die Stadt Giengen. Tatsächlich übernimmt der zuständige Stiftungsrat die Kosten für eine sechswöchige Behandlung des Mädchens durch den renommierten Facharzt August Hermann Werner in dessen Kinderheilanstalt in Ludwigsburg. Voller Hoffnungen macht Maria Steiff sich im Mai 1856 mit ihrer Tochter auf den Weg: Morgens um 2 Uhr bringt ein Fuhrwerk sie nach Heidenheim; von dort geht es mit dem Pferdeomnibus über Böhmenkirch zur Bahnstation in Süßen. Gegen Mittag treffen sie mit dem Zug in Ludwigsburg ein. 110 Kilometer, so weit sind bis dahin nur wenige aus Giengen gekommen!
Die kleine Patientin wird im Privathaus des Arztes untergebracht. Er durchtrennt Sehnen am linken Bein, richtet es gerade und gipst es ein. Aber als er nach einiger Zeit den Gipsverband entfernt, muss er feststellen, dass die Operation vergeblich war. Seine Frau begleitet einige der behinderten Kinder – darunter Margarete – in das zur Kinderheilanstalt gehörende Haus »Herrenhilfe« in Bad Wildbad im Schwarzwald. Fünfzehn Stunden dauert die siebzig Kilometer weite Fahrt. Unterwegs flickt die Arztfrau Margaretes zerschlissenen Rock, weil das kräftig gebaute Kind häufig auf Knien über den Boden rutscht. Bald darauf schickt Maria Steiff ein gebrauchtes Kleid ihrer Nichte Christine, damit Margarete wieder etwas Ordentliches zum Anziehen hat. Heimweh kann sie dem Mädchen nicht ersparen.
Dr. Werner, der regelmäßig zur Visite nach Bad Wildbad reist, teilt der Stadt Giengen im Juni 1856 schriftlich mit, Margarete müsse mindestens weitere drei Monate in seiner Obhut bleiben. Fünf Tage später beschließt der Stiftungsrat, auch dafür die Kosten zu tragen, denn die Eltern sind nicht dazu in der Lage. So kommt es, dass Maria Steiff ihre Tochter nicht nach sechs Wochen, sondern erst nach knapp einem halben Jahr in Ludwigsburg abholt. Trotz der verlängerten Behandlungsdauer haben sich die Lähmungen nicht gebessert. Deshalb wird Margarete im Jahr darauf, kurz vor ihrem zehnten Geburtstag, von ihrer Tante Apollonia noch einmal nach Ludwigsburg gebracht. Weil der Frau das Kind zu schwer ist, lässt sie es ungeachtet der Proteste Gretles zwischendurch von einem Dienstmann tragen. Für die Kosten der dreimonatigen Unterbringung bei dem inzwischen zum Medizinalrat ernannten Facharzt kommt wieder der Stiftungsrat der Stadt Giengen auf. Doch alle Mühen sind umsonst: Das Mädchen bleibt gehunfähig.
Margarete ist zwar unglücklich, weil sie nicht wie die anderen Kinder herumlaufen kann, doch über die weiteren Folgen ihrer Behinderung denkt die Zehnjährige naturgemäß nicht viel nach. Die Eltern dagegen, die sich ausmalen, wie schwer es ihre Tochter im Leben haben wird, sind sehr bekümmert.
Nach längerer Unterbrechung besucht Margarete vom Winter 1857/58 an wieder die evangelische Schule am Kirchplatz in Giengen. Eines der Geschwister oder ein Nachbarkind zieht sie im rumpelnden Leiterwagen übers Kopfsteinpflaster bis vor den Eingang des Schulgebäudes. Dort muss das Mädchen bei jedem Wetter ausharren, bis es um kurz vor acht von einer in der Nähe wohnenden Frau über die Treppe hinauf ins Klassenzimmer getragen wird. Wenn es zwischen den Unterrichtsstunden erforderlich ist, schleppt ein Lehrer oder eine kräftige Mitschülerin Margarete in einen anderen Raum. Auf dem Stundenplan stehen Lesen, Schreiben und Sprachlehre, Rechnen, das Auswendiglernen von Katechismus-Stellen und Kirchenliedern, Singen und Zeichnen. Nach der letzten Stunde, die um 14 Uhr endet, wird Margarete zur Nähschule im selben Gebäude gebracht. Obwohl der rechte Arm bei jeder Betätigung schmerzt und in der Feinmotorik eingeschränkt ist, lernt sie mit Nadel und Faden umzugehen. Um 17 Uhr muss sie dann warten, bis jemand sie zu ihrem Leiterwagen trägt und sie nach Hause zieht.
Quelle: Dieter Wunderlich, WageMutige Frauen. 16 Porträts aus drei Jahrhunderten
© Pustet Verlag, Regensburg 2004
Als Piper-Taschenbuch überall im Buchhandel
Xaver Schwarzenberger: Margarete Steiff