Andreï Makine : Die Frau vom Weißen Meer

Die Frau vom Weißen Meer
Originalausgabe: La femme qui attendait Éditions de Seuil, Paris 2004 Die Frau vom Weißen Meer Übersetzung: Holger Fock, Sabine Müller Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007 ISBN 9783455051483, 190 Seiten Taschenbuch: Diana Verlag, München 2009 ISBN 978-3-35268-1, 190 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein russischer Schriftsteller erinnert sich nach langer Zeit an seine Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau in einem Dorf am Weißen Meer. Natürlich ist er inzwischen nicht nur älter, sondern auch klüger geworden. Damals war er 26 und das sexuell freizügige Leben unter Dissidenten in Leningrad gewohnt. In Mirnoje dagegen, wo er alte Sitten und Gebräuche studieren wollte, wartete eine 47-jährige Lehrerin seit 30 Jahren auf ihren Verlobten, der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingezogen worden war und nicht zurückkehrte ...
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Kritik

Andreï Makine evoziert in dieser scheinbar schlichten Liebesgeschichte eine dichte, rätselhafte und erotisch aufgeladene Atmosphäre. "Die Frau vom Weißen Meer" ist ein sehr poetischer Roman und gehört zur großen Literatur.

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Mit einer Verspätung von sechs oder sieben Jahren kommt der Mai 1968 auch nach Russland. Mitte der Siebzigerjahre haben dissidierende Künstler in einem Speicher am Stadtrand von Leningrad ein Untergrundatelier eingerichtet. Dort feiern sie wilde Partys. Auch der sechsundzwanzig Jahre alte Ich-Erzähler nimmt daran teil. Eigentlich ist er gekommen, um von seiner Reise nach Tallinn zu berichten, aber es dreht sich alles um einen Journalisten aus den USA. Der Erzähler hört die Frau, die er noch vor einer Woche selbst in den Armen hielt, hinter einer Wand aus Gemälden mit einem Künstler stöhnen. Kurz darauf kommt sie aus der Kulisse, und der Mann wischt sich den Penis mit einem nach Terpentin riechenden Lappen ab.

Ohne das Recht auf Eifersucht. Sexuelles Eigentum, das war der Gipfel kleinbürgerlicher Lächerlichkeit! (Seite 27)

Während jemand ein regimekritisches Gedicht vorträgt, amüsiert sich eine Betrunkene über zwei Männer, die sich im Nebenraum lieben.

[…] die Freiheit jener Nächte blieb nicht immer straffrei. Viele Jahre später erfuhr ich, dass der Autor des Kreml-Zoo sein Gedicht mit fünf Jahren Lagerhaft bezahlte und dass einer der Homosexuellen in der Haft von Zellengenossen totgeschlagen worden war (Homosexualität wurde gesetzlich verfolgt). (Seite 30f)

Als die Frau erneut hinter den Bildern verschwindet, diesmal mit dem Amerikaner, verlässt der Erzähler die Party mit dem Maler Arkadij Gorin, der eigentlich über seine bevorstehenden Reise nach Israel reden wollte, aber auch nicht zum Zug kam. Beim Abschiednehmen schlägt Arkadij seinem Begleiter vor, einen Auftrag zu übernehmen, den er in der kurzen Zeit bis zu seiner Abreise nicht mehr durchführen kann: Er soll in der Gegend von Archangelsk am Weißen Meer eine Reihe von Texten über die dortigen Sitten und Gebräuche schreiben.

„Weißt du, in der Provinz brauchen sie immer einen Dozenten aus Moskau oder Leningrad. Für ihr Erinnerungsalbum. Zum Jubiläum ihrer Stadt, für irgendein Volksfest, oder was weiß ich. Fahr hin und sammle ein paar Märchen über ihre Waldschrate, vor allem aber wirst du dort jede Menge Material für deine antisowjetische Satire finden …“ (Seite 41)

So kommt der Erzähler im August 1975 nach Mirnoje, ein kleines Dorf am Weißen Meer.

Bei einem Spaziergang am nahen Seeufer hört er ein Keuchen.

Zuerst dachte ich, ich hätte ein Liebespaar überrascht. Im Gestrüpp, das am Seeufer wucherte, blitzte eine blendend weiße Hüfte auf, ich sah einen unter der Anstrengung gewölbten Oberkörper, ich hörte ein schweres Keuchen. Der Abend war klar geblieben, aber die tiefstehende und lohrote Sonne schraffierte den Anblick mit Schatten und Feuer, entflammte das Laub der Weiden. In diesem Schillern erschien plötzlich das Gesicht einer Frau, die mit dem Kinn beinahe den lehmigen Boden streifte, und mit einem Ruck warf sie ihren Kopf in den Nacken, dass ihr volles Haar nur so flog. Die Luft war warm, feucht …“ (Seite 12)

Das ist seine erste Begegnung mit Vera. Die Siebenundvierzigjährige zieht ein gefülltes Fischernetz aus dem See.

Otar, ein etwa vierzig Jahre alter LKW-Fahrer, der ihn des Öfteren von einem Dorf zum nächsten mitnimmt, erzählt ihm, was es mit der geheimnisvollen Frau auf sich hat. Kurz vor Kriegsende, im April 1945 – damals war sie sechzehn –, wurde ihr zwei Jahre älterer Verlobter eingezogen und zur Schlacht um Berlin abkommandiert. Er kehrte nie zurück. Seit dreißig Jahren wartet Vera auf ihn.

„Verdammte Vera! Sie wartet und wartet! Immer und ewig … Hat ihr ganzes Leben weggeschmissen wegen dieser Warterei! Ist doch einerlei, ob er gefallen ist oder vermisst wird. Man weint, na klar, meinetwegen kippt man einige Wodkas, man trägt Trauer, schön und gut, so ist es Brauch, aber danach beginnt man wieder zu leben. Das Leben geht weiter, Himmel, Arsch und Zwirn!“ (Seite 18)

Weil Otar in Moskau heimlich mit Fellen und Pelzen gehandelt hatte, nennt er sich ironisch „die erste Schwalbe des Kapitalismus“. Seine Geliebte denunzierte ihn, und er wurde verhaftet. Inzwischen hat er sechs Jahre Lagerhaft verbüßt und muss nun seine vierjährige Bewährungszeit in dieser Einöde am Weißen Meer verbringen.

Im September begegnet der Erzähler Vera zum zweiten Mal, wieder am Seeufer. Sie trägt einen alten Kavalleriemantel und versucht, ihr Boot ins Wasser zu schieben. Er hilft ihr dabei. Als er eines der beiden Ruder aufnimmt und zu ihr ins Boot steigen will, bittet sie ihn, sich lieber das auf der hinteren Bank liegende, in einen groben Wollstoff eingeschlagene Bündel auf den Schoß zu legen.

„Das ist Anna“, erklärte sie mir. „Sie ist vor drei Tagen gestorben.“ (Seite 44)

Vera rudert zur Insel im See, auf der sich der Friedhof befindet. Dort bestattet sie die Verstorbene.

Vera ist Lehrerin. Sie unterrichtet acht Kinder aus der Umgebung. Da sich die Schule im zehn Kilometer entfernten Dorf Nachod befindet, muss Vera jeden Tag um den See herumlaufen oder bei Hochwasser mit dem Kahn über den See rudern. Außerdem kümmert sie sich um die alten Frauen in Mirnoje. Wegen ihrer Aufopferung und ihres ausdauernden Wartens wird sie wie eine Dorfheilige verehrt. Der Erzähler will sich davon nicht beeinflussen lassen. Nüchtern nimmt er an, dass Vera das Dorf nicht zu verlassen versucht, weil sie die erforderliche Genehmigung für einen Umzug nicht bekäme.

Mehr aus Angst um die Wahrheit denn aus jugendlichem Zynismus wollte ich ihr jede Aufopferungsbereitschaft, jede Emphase nehmen. Vera hatte nie wirklich die Wahl gehabt. Die Sachzwänge, dieses Verhängnis der Armen, hatten für sie entschieden. Zuerst hat es an heiratsfähigen Männern gemangelt, dann, als das Dorf sich neu belebte und man wieder Hochzeiten zu feiern begann, wurde sie schon als eine Art alte Jungfer betrachtet. Eine neue Generation war da, richtige Jugendliche, die sich um die Schatten des Krieges nicht kümmerten und sich beeilten, ihren Anteil am Glück zu ergattern, die sich in Acht nahmen vor dieser alleinstehenden Frau, halb Witwe, halb Verlobte, die immer einen langen Kavalleriemantel trug. (Seite 78)

Trotz seiner Skepsis bleibt der Erzähler in Mirnoje, um das Geheimnis der rätselhaften Frau zu ergründen.

Nach einigen Wochen begriff ich, dass ich meine Suche nach den örtlichen Gebräuchen und Legenden auch sehr gut in der Bibliothek von Archangelsk hätte durchführen können. Das ganze Brauchtum der Hochzeits- oder Begräbniszeremonien war seit langem in Büchern festgehalten. Vor Ort hingegen, in den nahezu entvölkerten Dörfern, ging das Wissen um die Traditionen immer mehr verloren, da es an niemanden mehr weitergegeben werden konnte. (Seite 45f)

Ich konnte einen ganz typischen Alkoholiker ausfindig machen, dessen Persönlichkeit für den Humor der Dissidentenprosa einiges hergegeben hätte. Ein Haus, das von seinen Trinkschulden leergeräumt war, seine noch junge Frau, die zwanzig Jahre älter aussah, als sie war, und die eine Maske ewiger Verbitterung trug, vier Kinder, die sich schweigend damit abgefunden hatten, mit diesem Mann zu leben, der auf dem Boden herumkroch, sich erbrach, schluchzte und den man „Papa“ nennen musste …
Ich war gerade so weit, die erste Seite dieser Erzählung zu beenden, als ich erfuhr, dass sich der Säufer erhängt hatte [Suizid]. (Seite 48)

In der Bezirkshauptstadt schließt der Erzähler sich einem Dissidentenkreis an, der vom stellvertretenden Direktor des Kulturhauses, der Leiterin der städtischen Bibliothek, einem Chirurgen des Krankenhauses, einer Krankenschwester, zwei Lehrerinnen und einem Zeitungsreporter gebildet wird.

Als er einmal im Dunkeln die Tür des kleinen Badehauses in Mirnoje hört und vermutet, dass Vera hineingegangen ist, pirscht er sich an das Gebäude heran.

Ich konnte mich dem kleinen Fenster nähern, der Frau heimlich zusehen, die sich vielleicht gerade einseifte, oder vielleicht einfach die Tür aufstoßen, zu ihr gehen, ihren glitschigen, unnahbaren Körper in die Arme schließen, mich mit ihr auf die nassen Dielen fallen lassen, sie nehmen …
Die Erinnerung daran, was für eine Frau sie war, setzte meinem Delirium ein Ende. Mir fiel wieder der Tag ein, an dem der Wind das Boot auf den See getrieben hatte, die Eisscherben, durch die wir den Himmel betrachteten, Veras Gesicht, das hinter den Bruchstellen im Raureif schillerte, ihr zaghaftes Lächeln, ihr Blick, der durch den zwischen ihren Fingern schmelzenden Eiskragen meinem begegnete. Diese Frau stand über allem Begehren. Die Frau, die auf den Mann wartete, den sie liebte.
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Die Frau, die herauskam, war nackt: Sie verließ den Brutofen, trat auf die kleine hölzerne Freitreppe hinaus und sog nun die frische Seeluft ein. Das blasse Mondlicht verwandelte sie in eine bläuliche Statue aus Glas, offenbarte reliefartig die Schlüsselbeine, die Wölbung der Brüste, wohlgerundete Hüften, an denen einige Wassertropfen glitzerten. Sie sah mich nicht, denn ein Stapel Brennholz verbarg mich in seinem Schatten. Außerdem hatte sie die Augen fast geschlossen, als ob sie alles nur mit dem Geruchssinn, einem tierischen Instinkt wahrnehmen wollte. Sie atmete gierig ein, setzte ihren Körper dem Mond aus, bot ihn der Nacht dar, der schwarzen Fläche des Sees. (Seite 66f)

Unter dem Vorwand, ihm sei das Brot ausgegangen, klopft der Erzähler am nächsten Abend an Veras Tür. Auch an den nächsten beiden Abenden besucht er sie unangemeldet. Und als sie zur Friedhofsinsel hinüberrudert, um einen Kranz auf Annas Grab zu legen, begleitet er sie.

Er staunt, als Vera ihm erzählt, sie habe in Leningrad Linguistik studiert, aber ihre Dissertation kurz vor der Disputation zurückgezogen. Das Großstadtleben behagte ihr nicht, sie fühlte sich gespalten, und das politische Tauwetter nach Stalins Tod empfand sie als scheinheilig. Dann starb ihre Mutter, und Vera reiste in ihr Heimatdorf Mirnoje, zunächst nur für neun Tage, aber sie blieb für immer.

„Ich begriff, dass mein Platz hier ist, das war alles. Oder vielmehr, ich dachte nicht einmal mehr an etwas anderes. Ich begann wieder zu leben.“ (Seite 104)

Vera leiht dem Erzähler ein Buch des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure, aber statt es zu lesen, lässt er es liegen.

Ein Schüler weist Vera darauf hin, dass in dem verlassenen Weiler Gostewo mitten im Wald noch eine alte Frau als einzige Bewohnerin lebe. Vera holt den Erzähler ab, und sie gehen zusammen nach Gostewo. Die Greisin wohnt in einem winzigen Verschlag, den sie inmitten der Ruine eines gewöhnlichen Hauses an den Ofen angebaut hat. Dem Erzähler fällt auf, wie sauber es in der notdürftigen Behausung ist. Katerina Iwanowas Ehemann Iwan Nekiforowitsch Glebow war im August 1942 gefallen. Vera überredet sie, mit nach Mirnoje zu kommen.

„Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft …“ Unwillkürlich reizte mich das Wesen dieser Frau noch immer zu Formulierungen, mit denen ich es zu erfassen versuchte. Aber vor der fast gedankenlosen Einfachheit, mit der Vera handelte, liefen sie ins Leere. (Seite 108)

Eine Woche später beobachtet der Erzähler, wie Vera zu der Abzweigung geht, bei der man als Anhalter auf einen Lastwagen warten kann, der in die Bezirkshauptstadt fährt. Weil sie statt des Soldatenmantels einen eleganten Regenmantel trägt, unterstellt ihr der Erzähler, dass sie sich mit einem Liebhaber verabredet hat.

Nichts verletzt einen so sehr wie das banale Liebesleben einer Frau, die man idealisiert hat. Das Leben, das ich mir für Vera ausgemalt hatte, war eine hübsche Lüge. Die Wahrheit lag im Körper dieser Frau verborgen, einer Frau, die ganz vernünftig einmal in der Woche (oder öfter?) mit einem Mann schlief, mit ihrem Liebhaber (war er verheiratet? oder Witwer?), nach Mirnoje zurückkehrte und wieder ihre Aufgabe bei den Alten erfüllte … (Seite 117)

Aufgewühlt folgt er ihr und sieht gerade noch die Rücklichter des Lastwagens, der sie vermutlich mitgenommen hat. Zufällig kommt in diesem Augenblick der stellvertretende Leiter des Hauses der Kultur vorbei und nimmt ihn auf seinem Motorrad mit. Sie folgen dem LKW bis zum Stadtrand. Vera steigt dort aus, und der Erzähler geht ihr bis zum Bahnhof nach. Als der Zug aus Moskau einfährt, verliert er Vera in der Menge auf dem Bahnsteig aus den Augen.

Der stellvertretende Leiter des Hauses der Kultur lud ihn während der Motorradfahrt zu einem Fest an diesem Abend ein. Er geht hin und hört, was eine Geschichtslehrerin über Vera sagt:

„Klar, eine Eremitin, eine Heilige. So ein Quatsch! Sie bumst doch mal hier und mal da. Was fragst du, ‚mit wem‘? Na, mit dem Bahnhofsvorsteher.“ (Seite 122)

Wegen eines Stromausfalls brennen Kerzen. Eine davon fällt vom Fensterbrett, rollt unter den Vorhang und setzt ihn in Brand. Verschlungene Paare und Frauen, die bereits ihre Röcke ausgezogen haben, schrecken hoch, aber das Feuer kann rasch gelöscht werden.

Auf der Freitreppe des Gebäudes trifft der Erzähler auf Otar. Sie gehen zusammen los. Otars Bewährungszeit ist zu Ende; in zwei Stunden wird er mit dem Zug nach Moskau fahren. Den Lastwagen gab er im Tausch gegen seine wiedergewonnene Freiheit zurück. Zum Abschied drückt Otar seinem Begleiter einen Brief für Vera in die Hand.

An einem der nächsten Abende erzählt Vera, sie habe am Bahnhof auf den Zug aus Moskau gewartet, um den Mann, auf den sie seit dreißig Jahren warte, nicht zu verfehlen. Das tue sie des Öfteren, obwohl sie sich der Unsinnigkeit bewusst sei.

Eine Frau wie sie, das unerschütterliche, von der Zeit ungebeugte und dem Schicksal gegenüber gleichgültige Idol, konnte also auch das sein: eine von zwei Gläsern Likör weichgestimmte Frau, deren Wangen rot glühten wie bei einem jungen Mädchen und die mit der Gefühlsseligkeit einer alten Provinzjungfer rückhaltlos ihr Herz ausschüttete. (Seite 134)

Er glaubt, ihr näher zu kommen.

Nichts trennte mehr unsere Körper, nur ihre weiße Seidenbluse, die von einem harmlosen Schnitt und völlig außer Mode war, und diese Schattengestalten, die sich langsam aus ihrem Blick zurückzogen. (Seite 136)

Plötzlich klopft eine Alte ans Fenster: Katerina geht es schlecht.

Am nächsten Tag lädt der Erzähler Vera nochmals ein. Sie vertraut ihm an, Otar habe ihr in dem Brief angeboten, zu ihr zurückzukehren, mit ihr in Mirnoje zu leben und zu verschwinden, falls der andere heimkehren würde. Vera hat den Vorschlag bereits abgelehnt.

Nach dem nächsten gemeinsamen Abendessen findet der Erzähler sich mit Vera in ihrem Schlafzimmer wieder. Sie entkleidet sich kichernd und führt ihn zu ihrem Bett.

Sie gab sich mit einer Besessenheit hin, als ob sie einen Mann um Verzeihung bitten oder ihn verhöhnen wollte. (Seite 166)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Eine Tageszeitung aus Archangelsk berichtet über einen Ingenieur, der aus einem Dorf am Weißen Meer stammt. Auf dem dazugehörigen Foto sieht man Boris Koptew mit zwei Enkelkindern. An seinem Jackett hängen schwere Orden. 1945 wurde er im Umland von Berlin verwundet. Seine Mutter, die einzige Angehörige, starb 1946 bei einer Hungersnot. Seine Verlobte erhielt irrtümlich die Nachricht, er sei vermisst. Boris Koptew erholte sich im Lazarett, und als er es verließ, fühlte er sich wie neugeboren. In Moskau feierte man ihn als Helden. Frauen umschwärmten ihn. Daraufhin wollte der Sohn eines Kolchosbauern aus der Provinz von seiner Herkunft nichts mehr wissen. Inzwischen ist er Sekretär des Parteikomitees einer großen Moskauer Fabrik, für die er Raumfähren entwirft. Zoja, eine Greisin, die dem Erzähler die Zeitung brachte, bestätigt dessen Verdacht, dass es sich bei Boris Koptew um den Mann handelt, auf den Vera seit dreißig Jahren wartet.

Aufgrund der Neuigkeit befürchtet er, „von einer Frau mit verheultem Gesicht Besuch zu bekommen und von ihren Tränen, ihrem Schicksal, der unmenschlichen und von nun an hoffnungslos absurden Bürde ihres Lebens angesteckt zu werden“. (Seite 178) Und als er sieht, wie sie mit einer Taschenlampe in der Hand ihr Haus verlässt, versteckt er sich.

Gleich wird sie an die Tür klopfen, sich setzen, Platz nehmen zu einem endlosen Gespräch, unterbrochen von Schluchzern, Umarmungen, denen mich zu entziehen mir der Mut fehlt, abgenötigten Versprechungen. Alles wird himmelschreiend falsch und völlig wahr sein, voller unvollständiger und reiner Wahrheiten über ihr zuschanden gemachtes Leben. Sie braucht tausendmal mehr Hilfe als die alten, die sie pflegt. (Seite 177)

Vera geht zwar an seinem Haus vorbei, aber er rechnet damit, dass sie auf dem Rückweg bei ihm klopft.

Sie wird dich auf dem Rückweg besuchen, sich zu dir setzen, wahrscheinlich wortlos, als Frau auftreten, die nicht an deinem Edelmut zweifelt. Du sitzt in der Klemme. Sie wird dich in Leningrad besuchen. Sie wird dir nicht mehr von den Fersen weichen. Die Liebe alternder Frauen. Und dann noch einer solchen Frau! Du wirst für sie den anderen ersetzen. Du bist schon der andere, auf den sie vergeblich gewartet hat … (Seite 177)

Am nächsten Morgen will er mit seinem Koffer heimlich verdrücken. Doch am Seeufer trifft er überraschend auf Vera. Sie versucht, das festgefrorene Boot ins Wasser zu stoßen. Er stellt seinen Koffer ins Boot, hilft ihr und steigt unversehens mit ein. Schweigend rudert Vera zur Insel. Sie hat ein Grabkreuz für Anna dabei. Nachdem sie von der Insel abgelegt haben, nimmt der Erzähler sich vor, am Ufer sofort seinen Koffer zu nehmen und loszulaufen. Doch als er hochblickt, merkt er verwundert, dass Vera ihn nicht nach Mirnoje zurückgerudert hat, sondern zu einer Anlegestelle auf der gegenüberliegenden Seite des Sees.

Sie sieht mir in die Augen, lächelt mir zu, dann küsst sie mich auf die Wange und steigt wieder ins Boot. Mit dem ersten Ruderschlag richtet sie das Wort an mich: „Jetzt haben Sie es nicht mehr weit in die Stadt und können noch den Elf-Uhr-Zug erreichen … Gott sei mit Ihnen.“ (Seite 189)

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In seinem Roman „Die Frau vom Weißen Meer“ erzählt Andreï Makine eine schlichte, ruhige und melancholische Liebesgeschichte. Er legt sie einem namenlosen Ich in den Mund, einem Schriftsteller, der sich nach langer Zeit an seine Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau in einem Dorf am Weißen Meer erinnert. Natürlich ist er inzwischen nicht nur älter, sondern auch klüger geworden. Deshalb kommentiert er die von ihm zitierten bruchstückhaften Aufzeichnungen von damals kritisch. Aber die Darstellung in der Ich-Form bleibt immer subjektiv.

Im Alter von sechsundzwanzig Jahren kam der Ich-Erzähler, der das sexuell freizügige Leben unter Dissidenten in Leningrad gewohnt war, nach Mirnoje am Weißen Meer, wo eine siebenundvierzigjährige Frau seit dreißig Jahren auf ihren Verlobten wartete, der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingezogen worden war und nicht zurückkehrte.

Andreï Makine schreibt nicht nur vom Gegensatz Großstadt – Provinzdorf, sondern auch vom Widerspruch zwischen Ideal und Realität. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Traum und Wunschdenken verschwimmen in „Die Frau vom Weißen Meer“.

Dieser ungewöhnliche, von einem Russen in französischer Sprache verfasste Roman, der in seiner bewussten Schlichtheit ohne jede Effekthascherei auskommt, evoziert eine dichte, rätselhafte und erotisch aufgeladene Atmosphäre. „Die Frau vom Weißen Meer“ ist ein sehr poetischer Roman und gehört zur großen Literatur.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

Andreï Makine (Kurzbiografie / Bibliografie)
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"Vor dem Fest" ist ein tragikomischer, aus zahlreichen skurrilen Miniaturen gewebter Dorfroman. Saša Stanišić entwickelt keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern ein Kaleidoskop mit Fragmenten von Geschichten aus der Nacht vor dem Fest und früheren Jahrhunderten.
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