Sibylle Lewitscharoff : Apostoloff

Apostoloff
Apostoloff Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-42061-4, 249 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2010 ISBN: 978-3-518-46180-8, 249 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Ich-Erzählerin aus Stuttgart und ihre Schwester lassen sich von einem Mann namens Rumen Apostoloff durch Bulgarien chauffieren. Dabei geschieht nicht viel, aber die geschwätzige Erzählerin, deren Vater aus Bulgarien stammte, giftet nicht nur gegen so gut wie alles, was sie auf der Reise sieht, sondern erinnert sich auch an Einzelheiten der Familiengeschichte und einen skurrilen Trauerzug, mit dem sie und ihre Schwester nach Sofia kamen.
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Kritik

"Apostoloff" ist eine Mischung aus Reisebericht, Familiengeschichte und Groteske. Sibylle Lewitscharoff schreibt auf hohem sprachlichen Niveau, aber die Figuren und Szenen bleiben blass.
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Die Erzählerin reist mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester und einem Mann namens Rumen Apostoloff am Steuer eines klapprigen Kleinwagens einige Tage durch Bulgarien. Apostoloff ist stolz auf sein Land und möchte es den beiden Besucherinnen aus Deutschland zeigen. Die ältere der beiden, die mit einem Schönheitschirurgen aus dem Iran verheiratet ist und zwei Kinder hat, lässt sich gern darauf ein und verliebt sich auch ein bisschen in Apostoloff, aber ihre Schwester, die im Fond sitzt, findet alles nur schäbig und hässlich. Mit einem riesigen Besen müsse man das alles auskehren, meint sie.

Wir haben Bulgarien schon satt, bevor wir es richtig kennengelernt haben. Traurig, aber wahr, die bulgarische Sprache dünkt uns die abscheulichste von der Welt. (Seite 14)

Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur, sofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen! (Seite 13)

Vaterhass und Landhass sind verquickt und werden auf vertrotzte Weise am Köcheln gehalten. Bulgarien? Vater? Ein Schnappmechanismus. (Seite 13)

Sie glaubt, die „kommunistische Amtsmaschine“ habe „alle Menschen gleichermaßen für blindes Geziefer“ (Seite 117) gehalten und wirft den Bulgaren vor, die Entwicklungen seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgeblendet zu haben.

Es fehlen die deutsche Wehrmacht und die SS.
Es fehlt: die russische Armee.
Es fehlt: die Zerstörung des Landes, der Städte und der Dörfer durch das Sowjetsystem. (Seite 134)

Vielleicht haben die Sowjetleute so grässlich versagt, weil sie Hilfe aus dem Reich der extramundanen Beamten verschmähten, Kirchen abrissen, Glocken einschmolzen, Priester erschossen. Hinter jedem natürlichen Beamten muss ein Engelhelfer stehen, sonst entartet der Staat, denke ich, habe aber keine Argumente auf Lager, wie diese These im Ernstfall zu verteidigen wäre. Ich glaube, ohne die heimlich geleistete Hilfe eines Engels wird kein Fisch gar und kein Schnitzel gut. Und zugleich, vielleicht mit dem leisen Erschauern ihrer Flügel, lehren sie uns die geheime Melancholie aller Lebewesen achten; es nützt nichts, jemanden umzubringen, lehren die Engel, denn keiner ist glücklich. (Seite 217)

Unterwegs kommen sie an einem Lastwagen vorbei, den die Polizei gestoppt hat. Später erfahren sie, dass er zwanzig Jahre altes Fleisch geladen hatte. Die Erzählerin fühlt sich dadurch in ihrer Kritik an Bulgarien bestärkt, aber Apostoloff behauptet, die Ladung sei für Rumänien bestimmt gewesen.

Ihr bulgarischer Vater Kristo kam angeblich 1943 nach Tübingen, um einen Kommilitonen zu besuchen. Weil es überraschend warm war, gab er seinen schweren Mantel am Bahnhof ab. Als er zurückkam, hatte die Frau des Bahnhofsvorstehers einen fehlenden Knopf angenäht und einen Riss geflickt. Das gefiel Kristo so gut, dass er in Tübingen blieb und dort sein Medizinstudium abschloss. Er wurde Gynäkologe und ließ sich in Stuttgart-Degerloch nieder. Dass er eine ältere Frau heiratete, galt in Bulgarien als Schande, obwohl der Altersunterschied nur zwei Monate betrug.

Im Alter von dreiundvierzig Jahren erhängte sich Kristo. Die Erzählerin, die damals neun Jahre alt war, kam daraufhin zum ersten Mal nach Bulgarien zu ihren Großeltern Nadja und Lubomir. Die Großmutter hatte sie bereits zwei Jahre zuvor kennengelernt, als Nadja zu Besuch in Stuttgart gewesen war. Lieselotte („Lilo“) Amalie Tabakoff, eine Freundin der Familie, fuhr mit der Neunjährigen und ihrer drei Jahre jüngeren eigenen Tochter nach Bulgarien und setzte die Halbwaise bei ihren Großeltern in Sofia ab.

Der Großvater war damals vierundsechzig. Angeblich hatte er Nadja, die jüngste der vier Töchter eines reichen Kaufmanns in Plovdiv, entführt und gegen den Willen der beiden Familien geheiratet. Anfangs war er mittellos. Er arbeitete im Straßenbau, wurde Prokurist, schließlich Direktor einer Genossenschaftsbank und zweiter Bürgermeister in seinem Heimatort Pasardschik. Mit der Machtübernahme der Kommunisten endete seine Karriere jäh. Er verbüßte eine Haftstrafe und musste einige Zeit in einem Steinbruch arbeiten. Danach wies man ihm eine Buchhalterstelle zu.

Lubomirs Vater hatte in Leipzig und Wien einige Semester Philosophie studiert. Aber seine Frau gab den Ton an. Sie tyrannisierte ihre Schwiegertochter Nadja, bis sie mit einhundertneun Jahren starb.

Inzwischen sind auch die Großeltern der beiden von Apostoloff durch Bulgarien chauffierten Schwestern tot: Nadja starb mit fünfundneunzig, Lubomir mit achtundneunzig. Die Mutter verschied 2001.

Der Vater hatte zu zwanzig Bulgaren gehört, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Stuttgart gekommen waren.

Die Männer schnappten sich die erstbeste Blondine, deren sie habhaft werden konnten, und setzten sich fest. Ihre sozialen Herkünfte, politischen Motive, die Kriegserlebnisse waren grundverschieden, verschieden auch der Grad an Faszination oder Widerwille, den sie gegenüber den deutschen Mordbrüdern an den Tag gelegt hatten. Immerhin, man war ja während zweier Weltkriege mit den Deutschen verbündet gewesen, und zum Dank hatten die Deutschen sich Mühe gegeben, bei den Bulgaren nicht auf ein slawisches Mindervolk zu erkennen, sondern in ihnen ein höheres, arisch versetztes Hybridvolk zu sehen, den Russen weit überlegen. Was sie aber nicht davon abhielt, bei unserem Vater Schädelvermessungen vorzunehmen, als er in Tübingen Medizin studierte. (Seite 27)

Die wenigsten der Bulgaren blieben in Schwaben. Der Reichste aus der Gruppe und letzte Überlebende heißt Alexander Iwailo Tabakoff. Er hatte Lieselotte („Lilo“) Wehrle geheiratet. Ihr Sohn starb im Alter von sechs Jahren an einer Hirnhautentzündung. Später gebar Lilo noch eine Tochter. Sie starb 1981 mit sechzig. Der Witwer zog verbittert nach Florida. Vor eineinhalb Jahren kehrte er jedoch in sein Haus in Stuttgart-Sillenbuch zurück, und zwar in der Absicht, die sterblichen Überreste der neunzehn Verstorbenen nach Sofia zu überführen.

Ein Bekannter von ihm, Blagowest Kondow, arbeitet für eine schwedische Bestattungsfirma, die ein kryotechnisches Verfahren entwickelte, mit dem sich Leichen ebenso wie im Krematorium in ein Häufchen winziger Partikel verwandeln lassen. Die Leichen werden zunächst bei minus 18 Grad Celsius eingefroren, dann in flüssigen Stickstoff getaucht und schließlich auf einer Vibrationsfläche so lange gerüttelt, bis sie zerfallen sind.

Mit den Urnen und den Trauergästen setzte sich schließlich ein aus dreizehn Limousinen bestehender Korso in Bewegung, von Stuttgart nach Zürich, dann über Mailand nach Ancona, von dort mit der Fähre nach Igoumenitsa und weiter nach Sofia. Die Schwestern saßen zunächst mit den eineiigen, aber grundverschiedenen Zwillingen Marco und Wolfi Zankoff zusammen in einem Wagen. Später wechselte die Aufteilung.

Nach der Trauermesse in der Kirche Sveta Nedelja und der Bestattung der Urnen auf dem Zentralfriedhof in Sofia beschlossen die Erzählerin und ihre Schwester, noch ein paar Tage in Bulgarien zu bleiben, und Rumen Apostoloff erklärte sich bereit, ihnen sein Land zu zeigen.

In Veliko Tarnovo besichtigen sie die Zarenburg.

Burgbesichtigungen zählen nicht zu unseren liebsten Beschäftigungen. Ungute Erinnerungen legen sich auf jeden ruinösen Stein, den wir heute anschauen. Fahrten nach den schwäbischen Burgen der Umgebung gehörten zu den gottlob seltenen Sonntagsausflügen, die wir gezwungen waren, mit unseren Eltern zu unternehmen. (Seite 41)

Vier Kilometer nordöstlich davon liegt das Dorf Arbanassi. In Schumen gehört das 1981 errichtete Denkmal „1300 Jahre Bulgarien“ zu den Sehenswürdigkeiten.

Dreck. Zwingdreck. Kraftdreck. Volkdreck. Was so an Worten beifällt, taugt nicht. Roh, brutal, monströs – ja, das passt, aber es passt auf die meisten Denkmale der letzten hundert Jahre, Ost wie West. (Seite 118)

In Varna kommt Rumen Apostoloff nicht umhin, einem alten Bekannten seine Aufwartung zu machen, der hier als König der Unterwelt gilt: Saschko Trendafilow. Verheiratet ist der Mittvierziger mit der deutlich älteren Witwe seines früheren Bosses, den er angeblich eigenhändig ermordete.

Ans Schwarze Meer gelangt die Gruppe im Fischerdorf Nessebar bei Burgas.

Noch nie habe ich einen so hässlichen Strand gesehen. Überall Drecksbuden mit dröhnender Musik, die Art von Musik, mit der man einen Bürgerkrieg anfängt. (Seite 182)

Über Plovdiv fahren sie zurück nach Sofia.

Alles Weitere bleibt geheim. (Seite 235)

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„Apostoloff“ ist eine Mischung aus Reisebericht und Familiengeschichte mit autobiografischen Elementen. Eine Ich-Erzählerin aus Stuttgart schildert ihre Reiseeindrücke, während sie und ihre Schwester – deren Namen wir auch nicht erfahren – von einem Mann namens Rumen Apostoloff mehrere Tage lang durch Bulgarien chauffiert werden. Dabei geschieht nicht viel, der Plot ist simpel, aber die geschwätzige Erzählerin, deren Vater aus Bulgarien stammte, giftet nicht nur gegen so gut wie alles, was sie auf der Reise sieht, sondern erinnert sich auch an Einzelheiten der Familiengeschichte und einen skurrilen Trauerzug, mit dem sie und ihre Schwester nach Sofia kamen. Darüber hinaus geht es um die Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrem toten Vater und die Frage, woraus ein Ich besteht.

Eine Dame mittleren Alters, der Autorin zum Verwechseln ähnlich, sitzt auf dem Rücksitz eines Automobils und hält fest, was sie sieht und worüber sie nachdenkt, was sie reizt und woran sie sich erinnert. Manchmal träumt sie auch nur, versucht der vergessenen Stimme des Vaters hinterherzulauschen, spielt mit Wörtern, lässt die Roten reden […] Das Handeln haben andere ihr abgenommen, der Fahrer vor allem, aber auch die „Kopilotin“ auf dem Beifahrersitz. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2009)

Sibylle Lewitscharoff macht in „Apostoloff“ aus einer nicht besonders glücklichen Familiengeschichte – der Vater der Protagonistin erhängte sich, als sie neun Jahre alt war – eine Groteske. Fast alle Kritiker loben die Komik, den Witz und die Ironie des Romans „Apostoloff“, aber meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Figuren wie Rumen Apostoloff – dessen Name immerhin für den Buchtitel verwendet wurde – bleiben schemenhaft, und einigen Szenen fehlt es an Farbe. Sibylle Lewitscharoff schreibt zwar auf hohem sprachlichen Niveau, aber nicht alle Abweichungen von der gewohnten Wortbildung klingen überzeugend.

Allerdings hat das Feuerwerk an sprachlicher Bravour, Schwarze-Komödien-Effekten und geistreichen Keckheiten seinen Preis. Dem Grundproblem eines jeden Exzellenzstils, der mit allem, was er präsentiert, wenigstens ein bisschen Furore machen will, entkommt auch Lewitscharoff nicht. Der Stoff, von dem sie handelt, wird dabei doch ziemlich gezaust und verschlissen, zerplaudert und verjuxt, seine Substanz löst sich auf, sein Gewicht zerbröselt. Zartere, wackligere Empfindungen haben da keine Chance. Kaum etwas bleibt, was die Erzählerinneninstanz mit ihrer rasiermesserscharfen Zunge nicht in maulfertige Häppchen zersäbelt. Literaturästhetisch betrachtet, erscheint das schön und schrecklich, bewundernswert und nervtötend zugleich. Ganz abgesehen davon, dass die erzählerische Opulenz gedanklich doch etwas mager ausfällt und die virtuose Rhetorik zuweilen ein wenig hohl tönt. (Eberhard Falcke, Die Zeit, 26. Februar 2009)

Den Roman „Apostoloff“ von Sibylle Lewitscharoff gibt es auch als Hörbuch, in einer gekürzten Fassung von Regina Carstensen, gelesen von Sibylle Lewitscharoff (München 2009, 4 CDs, ISBN: 978-3-86717-502-9).

Sibylle Lewitscharoff wurde am 16. April 1954 in Stuttgart als Tochter einer Deutschen und eines Bulgaren geboren. Nach dem Abitur (1972) studierte sie an der Freien Universität Berlin Religionswissenschaften. In dieser Zeit verbrachte sie jeweils ein Jahr in Buenos Aires und in Paris. Dann arbeitete Sibylle Lewitscharoff in der Buchhaltung der Werbeagentur ihres Bruders in Berlin, bis sie 1998 mit dem Roman „Pong“ ihren Durchbruch als Schriftstellerin schaffte und mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Für „Apostoloff“, ihren vierten Roman, erhielt sie 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse. 2010 wurde Sibylle Lewitscharoff Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Mit einer Rede am 2. März 2014 in Dresden sorgte Sibylle Lewitscharoff für einen Eklat, denn sie bekannte sich zu der Neigung, durch künstliche Befruchtung gezeugte Kinder („auf abartigen Wegen entstanden“) als „Halbwesen“ bzw. „zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“ zu betrachten. In diesem Zusammenhang verharmloste sie die „Kopulationsheime“ der Nationalsozialisten und hielt das biblische Onanieverbot für weise.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg

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