Natsume Sōseki : Der Bergmann

Der Bergmann
Originalausgabe: Kōfu, Tokio 1908 Der Bergmann Übersetzung: Franz Hintereder-Emde be.bra Verlag, Berlin 2016 ISBN: 978-3-86124-920-7, 239 Seiten Taschenbuch: DuMont Buchverlag, Köln 2018 ISBN: 978-3-8321-6446-1, 240 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der namenlose 19-jährige Ich-Erzähler berichtet im Nachhinein, wie er aus seinem Elternhaus in Tokio ausriss, sich von einem Schlepper für ein Kupferbergwerk anwerben ließ und fünf Monate dort verbrachte. Anfangs ist er ziellos und desorientiert. Willenlos folgt er dem Schlepper. Die Begegnung mit den Bergarbeitern – die er als "Wilde" erlebt –, der strapaziöse Abstieg in die finsteren Tiefen des Bergwerks – in eine Hölle – und der noch anstrengendere Rückweg zum Licht verändern ihn ...
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Kritik

Obwohl es um eine innere Reise geht, passt "Der Bergmann" nicht in die Schublade Bildungsroman. Natsume Sōseki tut so, als handele es sich um einen wirk­lich­keits­getreuen Bericht des Ich-Erzählers und entwickelt die Geschichte konsequent aus dessen subjektiver Perspektive.
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Flucht

Der 19-jährige Sohn einer hochgestellten japanischen Familie erträgt es nicht länger im Elternhaus in Tokio, denn er ist seit seiner Geburt einem Mädchen namens Tsuyako versprochen, hat sich jedoch inzwischen von Sumie verführen lassen und sich in sie verliebt. Deshalb machen ihm nicht nur Tsuyakos Eltern, sondern auch seine eigenen Verwandten Vorwürfe. Er reißt aus und bricht zu Fuß nach Norden auf, ziel- und orientierungslos, voller Weltschmerz und Lebens­überdruss. Zum Suizid kann er sich nicht durchringen. Er will nur noch weg von den Menschen und ins Dunkle.

Anwerbung

In einem Kiefernhain kommt er an einer schäbigen Teebude vorbei. Obwohl er durstig ist, geht er weiter, denn alles ist völlig verdreckt. Aber der Betreiber ruft ihm nach und holt ihn zurück. Chōzō, so heißt er, fragt ihn, ob er Arbeit suche. Er könne ihm eine als Bergmann in einer Kupfermine vermitteln. Dem jungen Mann, der noch nie gearbeitet hat, ist alles recht. Er trinkt nun doch Tee und isst von den Manjū, die Chōzōs Frau anbietet, obwohl sich ein Fliegenschwarm darüber hergemacht hat.

Willenlos lässt der Ausreißer sich von Chōzō zum Bahnhof bringen. Dort übergibt er dem Schlepper seinen Geldbeutel, der mehr wert ist als die paar Münzen darin. Chōzō kauft Fahrkarten und steigt schließlich mit dem Jungen aus Tokio in einen Zug.

Den verlassen sie in einer bestimmten Stadt, die sie auf einer schnurgeraden, auf einen Berg zuführenden Straße durchqueren. Beim letzten Imbiss, an dem sie vorbeikommen, fordert Chōzō einen Bauerntölpel auf, sich ihnen anzuschließen. Und etwas außerhalb der Stadt überredet er auch noch einen 13- oder 14-jährigen Jungen, der vom Berg herabkommt, mit zur Kupfermine zu gehen. Während der Zugfahrt dachte der Mann aus Tokio noch, Chōzō halte ihn für besonders qualifiziert und setze sich aus Mitgefühl für ihn ein. Jetzt begreift er, dass es sich um einen Schlepper handelt, der jeden, den er kriegen kann, zum Bergwerk bringt, um dafür eine Prämie zu kassieren.

Hätte ich mich damals nicht aus dem Staub gemacht, sondern wäre als braves Söhnchen brav zum Erwachsenen geworden – nie hätte ich gewusst, dass sich mein Gefühl verändert, sondern stets nur besorgt gedacht, da bewegt sich nichts, da darf sich nichts bewegen, und wenn sich was ändert, ist es um mich geschehen, ja es ist geradezu eine Sünde, und ich wäre einfach nur älter geworden –, hätte einfach nur irgendein Metier betrieben, mein Gehalt kassiert, mich mit einer friedlichen Familie und mittelmäßigen Freunden begnügt, wäre nicht vor die Notwendigkeit der Selbstbetrachtung gestellt worden; ja, hätte mich dieser Umschwung der Gemütsstimmung erst gar nicht heimgesucht, dass man so etwas wie Selbstbetrachtung betreiben konnte, hätte ich alle diese Qualen, diese Not, dieses Herumziehen, dieses Nomadenleben, diese Erschöpfung und diese Angst, dieses Gewinnen und Verlieren, und mehr als alle Vor- und Nachteile, hätte ich diese Erfahrungen nicht gemacht, und hätte ich diese zu guter Letzt nicht in aller Offenheit sezieren und über jeden einzelnen Schritt dieser Analyse kritisch hinausgehen können, hätte ich dazu nicht die Fähigkeit gehabt – zum Glück hatte ich dieses übergroße Geschenk –, wäre das alles nicht gewesen, würde ich keineswegs etwas derart Verwegenes behaupten.

Nach einem anstrengenden Aufstieg übernachten die vier Männer in der verfallenen Hütte eines Alten, den Chōzō augenscheinlich schon länger kennt.

Ankunft

Am nächsten Tag erreichen sie eine Stadt, in der alles neu ist. In der Nähe befindet sich das Bergwerk. Chōzō bringt den jungen Mann aus Tokio zu einem der Kantinenchefs und geht dann mit den beiden anderen Arbeitswilligen weiter. Hara Komakichi, der Chef dieser Kantine – so nennt man hier die Arbeits­gruppen –, redet dem Neuankömmling wohlmeinend zu, gleich wieder umzukehren und bietet ihm sogar das Geld für die Reise an. Er glaubt nämlich nicht, dass der verwöhnte Sohn einer hochgestellten Familie aus der Metropole mit dem harten Leben im Bergwerk zurechtkommen würde. Außerdem erklärt er ihm, dass es von den 10 000 hier beschäftigten Männern nur wenige zum Bergmann gebracht haben. Das ist alles andere als ein Einstiegsjob. Anfänger können allenfalls Schlepper, Klauber oder Hauer werden.

Im riesigen Schlafraum wird der Neuankömmling von den anderen Männern verspottet und verhöhnt. Den Nanjing-Reis, den es zu essen gibt, findet er zwar ekelhaft, aber er würgt ihn hinunter. Als ein Leichenzug das Gebäude passiert, schleifen die „Wilden“ – wie der Tokioter sie für sich nennt – einen Todkranken namens Kin unbarmherzig ans Fenster und zeigen ihm, was mit ihm in Kürze geschehen wird. Beiläufig erfährt der Neuankömmling, dass Kin seine Frau als Pfand einem anderen Mann überlassen musste, weil er das für Medikamente geborgte Geld nicht zurückzahlen konnte.

Nachts wird der 19-Jährige von Wanzen wachgehalten.

Im Bergwerk

Am nächsten Morgen führt ihn ein Arbeiter namens Hatsu durchs Bergwerk. Je tiefer sie kommen, desto schwerer fällt das Atmen. Manche Stollen sind so niedrig, dass sie kriechen müssen, in anderen steht das Wasser hüfthoch. Die beiden mit Rapsöl betriebenen Grubenlampen geben nur wenig Licht. Zwischendurch erschüttert eine Sprengung das Bergwerk. Der Neue, der nur Strohsandalen trägt, ist bald erschöpft. Beim Hochklettern an einer Leiter muss er innehalten. Hatsu über ihm ist nicht mehr zu sehen. Der junge Mann verspürt den Wunsch, die glitschige Sprosse loszulassen und nach hinten in die Tiefe zu stürzen. Aber wenn er sich schon das Leben nimmt, dann soll es mit Effet geschehen. Also beschließt er, mit letzter Kraft weiterzuklettern und sich später in den Kegon-Wasserfall zu werfen.

Weil Hatsu fort ist, irrt er herum, bis er auf einen Bergmann stößt, der ihm freundlich Hilfe anbietet, aber erst noch einige Zeit Kupfererz aus einer Wand brechen muss. Yasu, so heißt er, redet ähnlich wie der Kantinenchef mit ihm und drängt ihn, sein Vorhaben aufzugeben. Er soll zu seinen Eltern nach Tokio zurückkehren. Yasu wäre wie Hara Komakichi bereit, die Reisekosten zu über­nehmen. Mit wenigen Worten berichtet er, dass er sein Studium wegen eines für eine Frau begangenen Vergehens hatte aufgeben müssen. Vor sechs Jahren tauchte er in dieser Kupfermine unter. Der junge Mann aus Tokio solle nicht so enden wie er, meint Yasu. Dann führt er ihn ans Licht.

Draußen wartet Hatsu und bringt den Neuen zu Hara Komakichi.


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Entscheidung

Weil der junge Mann trotz allem bleiben möchte, soll er sich am nächsten Morgen zur Einstellungsuntersuchung melden. Der Arzt diagnostiziert bei ihm Bronchitis. Damit darf er nicht im Bergwerk arbeiten.

Hara Komakichi beschäftigt ihn stattdessen im Laden der Gruppe: Der 19-Jährige schreibt auf, was die Arbeiter kaufen – etwa Strohschuhe, Bohnen oder Seetang –, und der Kantinenchef zieht die Beträge am Monatsende vom Lohn ab.

Jeden Tag bringen Schlepper Neue ins Bergwerk.

Nach fünf Monaten kehrt der junge Mann zu seinen Eltern nach Tokio zurück.

Das waren meine ganzen Erfahrungen als Bergmann. Und alles entspricht der Wahrheit. Das kann man schon daran erkennen, dass das hier kein Roman geworden ist.

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Der namenlose 19-jährige Ich-Erzähler berichtet im Nachhinein, wie er aus seinem Elternhaus in Tokio ausriss, sich von einem Schlepper für ein Kupferbergwerk anwerben ließ und fünf Monate dort verbrachte. Anfangs ist er ziellos und desorientiert. Ohne sich zu widersetzen folgt er dem Schlepper. Die Begegnung mit den Bergarbeitern – die er als „Wilde“ erlebt –, der strapaziöse Abstieg in die finsteren Tiefen des Bergwerks – in eine Hölle – und der noch anstrengendere Rückweg zum Licht verändern ihn. Nach dieser Reise zu sich selbst trifft er eigene Entscheidungen, statt auf den Rat anderer zu hören, sogar wenn dieser wohlgemeint ist.

Das klingt nach Bildungsroman bzw. Coming-of-Age-Story, aber in diese Schublade passt „Der Bergmann“ nicht. Natsume Sōseki tut so, als handele es sich bei dem in 96 kurze Kapitel gegliederten Text um einen nüchtern-sachlichen Bericht des Protagonisten.

An mir ist bestimmt keine Romanfigur verlorengegangen […]

Daraus wird nie und nimmer ein Roman.

[…] ich versuche meine Darstellung möglichst der Wirklichkeit anzunähern, daher passt es am besten, es auf diese Weise aufzuschreiben. Es handelt sich somit keineswegs um die üblichen Schilderungen, mit denen Romanschriftsteller herumspielen und von denen siebzig Prozent aus der Luft gegriffen sind.

Es geht nur darum, eine unabgeschlossene Realität als bloße Realität darzustellen. Weil sie nicht als Roman aufbereitet ist, ist sie auch nicht so interessant wie ein solcher. Stattdessen ist sie wesentlich geheimnisvoller.

Das waren meine ganzen Erfahrungen als Bergmann. Und alles entspricht der Wahrheit. Das kann man schon daran erkennen, dass das hier kein Roman geworden ist.

Die stringente Darstellung entwickelt sich chronologisch und konsequent aus der subjektiven Perspektive des nachdenklichen, in sich hineinhorchenden Ich-Erzählers. Die anderen Figuren bleiben schemenhaft, und bis auf den Bergmann Yasu und den Kantinenboss Hara Komakichi hält der Protagonist sie für „Wilde“. Er glaubt zugleich, dass es etwas wie einen Charakter gar nicht gebe:

Also mal ehrlich, etwas in sich klar Definiertes wie ein Charakter existiert schlichtweg nicht. Das, was da wirklich ist, das kann kein Schriftsteller niederschreiben, und wenn doch, kann man sich drauf verlassen, dass daraus kein Roman wird.

Das Bergwerk böte gewiss viel Stoff für Gesellschaftskritik, aber darauf lässt sich Natsume Sōseki nicht ein. Er vermeidet in „Der Bergmann“ Schnörkel, Ausschweifungen und jegliche Effekthascherei. Die Darstellung verbindet naturalistische mit metaphorischen Elementen. Trotz des Anspruchs, ein wirklichkeitsgetreuer Bericht zu sein, wirkt einiges unrealistisch. Wohlmeinende und mitfühlende Menschen wie Yasu und Hara Komakichi kann man sich in dieser Hölle kaum vorstellen. Und wird in diesem inhumanen Betrieb mit 10 000 Beschäftigten, dem Schlepper jeden Tag weiteren Nachschub an Arbeitskraft beschaffen, ein Neuankömmling tatsächlich herumgeführt und einer medizinischen Einstellungsuntersuchung unterzogen?

Natsume Sōseki soll nie ein Kupferbergwerk besichtigt haben. Seine Kenntnisse stammten von einem jungen Mann namens Arai, der auf einen Schlepper hereingefallen war und einige Zeit in der Ashio-Kupfermine in der Präfektur Tochigi nordöstlich von Tokio gearbeitet hatte.

Die seit 1600 oder noch länger ausgebeutete Kupfermine war 1800 geschlossen worden. 1871 kam sie in Privatbesitz, und daraufhin wurde der Betrieb nicht nur wieder aufgenommen, sondern forciert. 1885 betrug die Menge des in Ashio gewonnenen Kupfers 39 Prozent der japanischen Gesamtproduktion. Die Abwässer verseuchten die Flüsse Watarase und Tone. Das führte zu einem großen Fischsterben und raubte 3000 Fischern die Lebensgrundlage. Überschwemmungen in den Neunzigerjahren vernichteten stromabwärts gelegene Reisfelder. Deshalb kam es zu Aufständen, zum Beispiel im Februar 1907.

Arai war vor diesem Aufstand in Ashio gewesen, berichtete aber erst Ende November 1907 dem Schriftsteller Natsume Sōseki darüber. Der hatte im März 1907 seine Professur an der Universität Tokio aufgegeben und war Vertragsautor einer Zeitung geworden. Als nun ein anderer Autor ausfiel, musste Natsume Sōseki einspringen. Bereits am 1. Januar 1908 erschien die erste Folge des Fortsetzungsromans „Der Bergmann“.

Haruki Murakami meint in seinem Vorwort „Nonchalant durch die Hölle“, die Entstehungsgeschichte erkläre den experimentellen Aufbau des Romans, dem es an einer Kartharsis fehle. Dennoch schätzt er „Der Bergmann“, und er verehrt Natsume Sōseki (1867 – 1916) als „Dreh- und Angelpunkt in der modernen japanischen Literatur“.

Haruki Murakamis Vorwort aus dem Jahr 2015 wurde von Ursula Gräfe übersetzt.

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