Georges Simenon : Die Ferien des Monsieur Mahé

Die Ferien des Monsieur Mahé
Originalausgabe: Le cercle des Mahé Gallimar, Paris 1946 Die Ferien des Monsieur Mahé Übersetzung: Günter Seib Diogenes Verlag, Zürich 1993 Neuausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 2008 ISBN: 978-3-257-22609-6, 169 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Alter von 32 Jahren verbringt der in Saint-Hilaire als Landarzt praktizierende François Mahé die Ferien erstmals mit seiner Familie auf Porquerolles. Vier Tage nach der Ankunft wird er zu einer Kranken gerufen, doch als er hinkommt, ist sie bereits tot. In dem verwahrlosten Sterbezimmer bleibt sein Blick an einem mageren, etwa zwölf Jahre alten Mädchen in einem roten Baumwollkleid hängen, dem ältesten der drei Kinder der Toten, deren Vater sich gerade wieder einmal auf einer Sauftour befindet ...
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Kritik

Der Roman "Die Ferien des Monsieur Mahé" von Georges Simenon besticht durch einen außergewöhnlichen Plot, eine dichte Atmosphäre, sorgfältig herausgearbeitete Charaktere sowie eine stringente und realistische, fantasievolle und facettenreiche Darstellung.
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François Mahé arbeitet als Landarzt in Saint-Hilaire, und in seiner Freizeit angelt er. Als er drei Jahre alt war, starb sein Vater Isidore, ein Pferdehändler, bei dem Versuch, zu beweisen, dass er ein Pferd tragen könne. Die Witwe führte den Pferdehandel und den dazu gehörenden Ausschank weiter, ließ ihren Sohn studieren, kaufte ihm die Praxis von Doktor Riou, der in den Ruhestand ging, und verheiratete ihn mit einer Frau namens Hélène, die ihrer Schwiegermutter seither tüchtig im Haushalt hilft. Das Ehepaar bekam zwei Kinder: Jeanne und Michel.

Als Mahé zweiunddreißig Jahre alt ist, lässt er sich von einem Bekannten überreden, die Sommerferien mit seiner Familie auf Porquerolles statt am gewohnten Urlaubsort zu verbringen. Auf der Mittelmeerinsel gefällt es jedoch weder ihm noch Hélène.

Vier Tage nach der Ankunft auf Porquerolles wird Monsieur Mahé zu einer Lungenkranken gerufen, doch als er hinkommt, ist sie bereits tot. Anna Kayaerts – so lautete ihr Mädchenname – wurde nur sechsunddreißig Jahre alt. Mit ihrem Ehemann Frans Klamm, der kleinen Tochter Elisabeth und deren jüngerem Bruder Georges war sie vor sechs Jahren hergekommen. Ohne fremde Hilfe gebar sie auf Porquerolles noch ein Mädchen, das auf den Namen Madeleine getauft wurde.

Frans Klamm war vierzehn Jahre lang bei der Fremdenlegion gewesen. Er arbeitet nur, wenn er Lust hat und hilft dann beispielsweise den Fischern beim Netzeflicken. Sobald er genügend Geld hat, verlässt er die Insel und besäuft sich tagelang. Auch jetzt, wo seine Frau gestorben ist, erwarten ihn die Kinder erst in ein paar Tagen zurück.

In dem schmutzigen, verwahrlosten Sterbezimmer bleibt Mahés Blick an einem magerem, etwa zwölf Jahre alten Mädchen in einem roten Baumwollkleid hängen. Es ist Elisabeth.

Gustave, der einen Lebensmittelladen betreibt und als Bürgermeister fungiert, will die drei verwaisten Kinder im leer stehenden Gefängnis unterbringen, aber Elisabeth weigert sich, mit ihren jüngeren Geschwistern das Haus zu verlassen.

Als die Familie Mahé wieder zu Hause in Saint-Hilaire ist, wagt niemand mehr, von den missglückten Ferien auf Porquerolles zu sprechen. Um so größer ist die Überraschung, als François Mahé im Jahr darauf beschließt, doch wieder hinzufahren. Hélène verschwindet einige Zeit in einem Nebenzimmer, und als sie zurückkommt, merkt ihr Mann, dass sie geweint hat, aber sie widersetzt sich seinem Urlaubsplan nicht.

Zu ihren dritten Ferien auf Porquerolles nehmen François und Hélène Mahé einen halbwüchsigen Neffen mit: Alfred will dort malen, und sein Onkel animiert ihn, seine Motive in der Nähe des von Frans Klamm und dessen Kindern bewohnten Hauses zu suchen.

Während Georges seit einiger Zeit in Hyères Geigenunterricht nimmt, bringt Elisabeth die Kleinste jeden Tag ins Kloster und kümmert sich dann um den Haushalt. Wenn ihr Vater am Hafen herumlungert, geht sie zu ihm und nimmt ihm das Geld ab, bevor er es ganz vertrinkt. Das hätte er sich von seiner Frau nicht gefallen lassen. Bei Elisabeth widersetzt er sich nicht, sondern versucht nur – meist vergeblich – ein bisschen Geld in der anderen Hosentasche zu verstecken.

Mahé macht Alfred auf Elisabeth aufmerksam und gibt keine Ruhe, bis der Junge ihm eines Tages stolz anvertraut, er habe das Mädchen defloriert. Das ist es, was sein Onkel angestrebt hatte: Elisabeth sollte beschmutzt werden, damit er von ihr loskam. Dabei weiß Mahé, dass er nicht einmal verliebt ist. Das Mädchen, mit dem er nie ein Wort gesprochen hat, beherrscht nur seine Gedanken. Die Nachricht, von der er sich Erleichterung versprach, wühlt ihn auf, und er betrinkt sich, bevor er in die Pension zurückkehrt.

Warum, ja, warum hatte er … Ach! Jetzt, wo er getrunken hatte, begriff er. Es war sehr kompliziert, aber er begriff. Er hatte wohl gehofft, sie würde es sich nicht gefallen lassen.
Nein! Das stimmte nicht. Im Gegenteil, er war ganz sicher gewesen … Übrigens, hätte sie es sich nicht gefallen lassen, wozu dann das Ganze?
Was er gehofft, was er gewollt hatte, war gewesen, sie zu beschmutzen, sie zu zerbrechen …
Damit er ein für alle Mal davon loskam, denn so ging es nicht mehr weiter.
Er war nicht einmal verliebt. Wäre er verliebt gewesen, wäre nun alles gewiss viel einfacher.
Es war eine Heimsuchung, genau das war es. Und das hatte schon am ersten Tag angefangen, nur sachte, heimtückisch wie eine von diesen unheilbaren Krankheiten, die man erst feststellt, wenn es zu spät ist, was dagegen zu machen. (Seite 87)

Am anderen Morgen bekommt er einen Brief seines langjährigen Freundes Armand Péchade, der in Bressuire, 15 km von Saint-Hilaire entfernt, als Arzt praktiziert. Péchade teilt Mahé mit, dessen Mutter habe ihm anvertraut, seit Jahren einen Knoten in ihrer rechten Brust zu spüren. Widerstrebend habe sie sich von ihm abtasten lassen, und er halte eine Untersuchung durch einen Facharzt für dringend erforderlich.

Am anderen Morgen reist Monsieur Mahé nach Hause. Gegen seinen Willen begleiten ihn Hélène, die Kinder und der Neffe. Eine Untersuchung bei Dr. Charbonneau in Poitiers bestätigt die Befürchtung: Es handelt sich um ein Karzinom im weit fortgeschrittenen Zustand. Drei Wochen später wird Mahés Mutter von einem eigens aus Paris angereisten Chirurgen operiert, aber ihr Körper ist bereits so geschwächt, dass sie den Eingriff nicht überlebt.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Während der Fahrt zur Klinik hatte die Todkranke prophezeit, sie werde nicht mehr nach Hause kommen. Als Mahé im nächsten Jahr erneut mit seiner Familie in die Ferien reist, ahnt auch er, dass er nicht mehr von Porquerolles zurückkehren wird.

Elisabeth wohnt inzwischen mit Georges und Madeleine in Hyères. Den Lebensunterhalt verdient sie als Näherin. Mahé fährt zu ihr, trifft jedoch nur ihre zehnjährige Schwester an, denn Elisabeth liefert gerade fertige Näharbeiten aus. Statt auf sie zu warten, geht Mahé wieder. Noch drei Mal fährt er nach Hyères; einmal glaubt er, Elisabeth auf der Straße zu sehen, ist sich jedoch nicht sicher, und zu ihrer Wohnung wagt er sich nicht mehr.

Zwei Tage vor dem geplanten Ende der Ferien auf Porquerolles sucht Mahé den Arzt Dr. Lepage auf, der ihm vor Jahren erzählte, er wolle seine schlecht gehende Praxis aufgeben und zu seiner Schwester in die Voralpen ziehen. Mahé fragt seinen Kollegen, ob er dessen Praxis auf Porquerolles übernehmen könne. Lepage, der mit der Anfrage bereits rechnete, verlangt einen unverschämten Preis für Praxis, Haus und Einrichtung. Obwohl Mahé merkt, dass er über den Tisch gezogen werden soll, bringt er nicht den Mut auf, sich dagegen zu wehren und unterschreibt einen Vorvertrag.

Am anderen Morgen fährt Monsieur Mahé mit einem Boot aufs Meer hinaus, so als wolle er zum Angeln. Bei den Rochers des Mèdes ertränkt er sich.

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Die Handlung des Romans „Die Ferien des Monsieur Mahé“ von Georges Simenon bewegt sich zwischen den Polen Liebe und Tod. Es geht um einen Arzt, der den Anblick eines pubertierenden Mädchens im roten Kleid nicht vergessen kann. Obwohl es keine Liebe ist und er nie ein Wort mit Elisabeth wechselt, beherrscht die Heranwachsene seine Gedanken, und er geht an der Obsession zugrunde.

Das Buch „Die Ferien des Monsieur Mahé“ besticht nicht nur durch einen außergewöhnlichen Plot und eine dichte Atmosphäre, sondern auch durch sorgfältig herausgearbeitete Charaktere und die psychologisch nachvollziehbare Obsession des Protagonisten. Georges Simenon erzählt realistisch und eindrucksvoll, spannend und schnörkellos. Obwohl bekannt ist, dass er für einen Roman oft nicht länger als acht oder zehn Tage benötigte, wirkt nichts plump oder gar hingeschludert; im Gegenteil: die Darstellung ist fantasievoll, facettenreich und durchdacht. Auch wenn man „Die Ferien des Monsieur Mahé“ leicht in ein paar Stunden am Strand lesen kann, handelt es sich um anspruchsvolle Literatur.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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