Schatten der Engel

Schatten der Engel

Schatten der Engel

Originaltitel: Schatten der Engel - Regie: Daniel Schmid - Drehbuch: Daniel Schmid und Rainer Werner Fassbinder, nach Rainer Werner Fassbinders Bühnenstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" - Kamera: Renato Berta - Schnitt: Ila von Hasperg - Musik: Peer Raben und Gottfried Hungsberg - Darsteller: Ingrid Caven, Rainer Werner Fassbinder, Klaus Löwitsch, Annemarie Düringer, Adrian Hoven, Boy Gobert, Ulli Lommel, Jean-Claude Dreyfus, Irm Hermann, Debria Kalpataru, Hans Gratzer, Peter Chatel, Ila von Hasperg, Gail Curtis, Christine Jirk u.a. - 1975; 100 Minuten

Inhaltsangabe

Die Handlung spielt im Rotlichtmilieu einer fiktiven Stadt. In dieser kalten, inhumanen Gesellschaft, in der es nur um Kaufen und Verkaufen geht, ist Sexualität eine Ware, und die korrupte Stadtverwaltung arbeitet mit skrupellosen Immobilienhaien zusammen. In diesem Kontext wird zugleich der Antisemitismus in der Bundesrepublik in den Sechziger- und Siebzigerjahren thematisiert.
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Kritik

"Schatten der Engel" ist die Verfilmung des Theaterstücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder. Der karge, düstere Film besteht aus einer Abfolge einzelner Szenen, in denen es auf die Dialoge ankommt.
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Die Hure Lily Brest (Ingrid Caven) ist hübsch, zerbrechlich und vom vielen Herumstehen in der Kälte lungenkrank. Die Freier bevorzugen Huren wie Emma (Irm Hermann) und Marie-Antoinette (Debria Kalpataru). In ihrer Verzweiflung streichelt Lily ein streunendes Kätzchen und bricht ihm dann das Genick. Als sie mit dem Kadaver aber ohne Geld zu ihrem mittellosen Zuhälter Raoul (Rainer Werner Fassbinder) in die schäbige Unterkunft kommt, schickt dieser sie noch einmal auf die Straße, denn es ist Samstag, er will zum Pferderennen, und dafür benötigt er Geld. Sie bittet ihn um Verzeihung, aber damit kann er nichts anfangen, dafür kann er sich nichts kaufen. „Gib mir Freiheit. Geld ist Freiheit.“

Wieder sind alle anderen Huren bereits mit ihren Freiern weggegangen; nur Lily steht noch auf der Straße. Da fährt eine große schwarze Limousine vor. Der „reiche Jude“ (Klaus Löwitsch) und seine beiden ständigen Begleiter – der zynische, zwei Meter große „Zwerg“ (Jean-Claude Dreyfus) und der ehrgeizige „kleine Prinz“ (Ulli Lommel) – steigen aus. Der „reiche Jude“ lässt alte Häuser abreißen und neue bauen, die er teuer verkauft. Er ist zwar nicht glücklich, aber Skrupel hat er keine, wenn er im Zuge der Stadtsanierung Bedürftige aus ihren gerade noch erschwinglichen Wohnungen verdrängt. Die Stadt benötigt einen rücksichtslosen Geschäftsmann wie ihn, denn er ermöglicht die gewünschten Veränderungen. Der „reiche Jude“ isst mit dem Bürgermeister, versteht sich mit den Stadtverordneten, und zählt den Polizeipräsidenten (Boy Gobert) zu seinen Freunden.

Der „reiche Jude“ schickt seine beiden Begleiter zu anderen Huren und lässt sich und Lily von seinem Chauffeur eine Stunde lang durch die Stadt fahren. Sie braucht ihm nur stumm zuzuhören. Dafür bezahlt er 1000 Mark.

Freudig eilt sie nach Hause und gibt Raoul den Geldschein. Der ist überrascht, fragt misstrauisch, welche Perversitäten der Freier dafür verlangte und erkundigt sich lüstern nach Einzelheiten des Geschlechtsverkehrs, von dem Lily ihm vorlügt, weil er es nicht verstehen könnte, dass sie das Geld nur fürs Zuhören bekam. – Den Tausender verspielt er noch am selben Nachmittag bei Pferdewetten.

Als andere Männer erfahren, dass der „reiche Jude“ sich mit Lily abgibt, beginnt ihr Aufstieg zum „Mülleimer“ der Stadt. Sie braucht ihren Freiern nur noch zuzuhören und wird dabei reich. Damit wird Raoul, der sich inzwischen von dem „kleinen Prinzen“ zur Homosexualität verführen ließ, nicht mehr fertig: „Für den Luxus reicht mein Verstand nicht aus.“ Er verlässt Lily und zieht zu seinem neuen Freund. Bald darauf wird er wegen seiner Homosexualität von anderen Männern in einer Kneipe zusammengeschlagen und blutüberströmt in den Waschraum der Herrentoilette geworfen.

Hans von Gluck (Alexander Allerson), ein mit dem „reichen Juden“ konkurrierender Immobilienspekulant, gesteht Lily in der Stunde, für die er bezahlt hat, er fühle sich allein durch die Existenz des Juden schuldig und würde besser schlafen, wenn man auch ihn vergast hätte.

Einmal besucht der „reiche Jude“ mit Lily einen Nachtclub, in dem ihr Vater, Herr Müller (Adrian Hoven), als Transvestit und Sänger auftritt. – Auf Lilys Frage, warum der Jude sie nach oben gebracht habe, antwortet Herr Müller, damit habe er ihn erniedrigen wollen, denn der Jude mache ihn für den Tod seiner Eltern verantwortlich. Dabei habe er, Müller, sich gar nicht um die Einzelnen gekümmert. „Ich war kein Individualist. Ich war ein Technokrat.“ Und er versichert, es sei keine Last, Juden zu töten, wenn man eine entsprechende Überzeugung habe.

Lilys Mutter (Annemarie Düringer) sitzt (seit einem Selbstmordversuch?) im Rollstuhl. Obwohl sie ihren Mann nicht liebt, hält sie zu ihm.

Die anderen Huren beschweren sich, dass Lily sie inzwischen verachtet und keine Chancengleich mehr bestehe. „Immer stört einer das Gleichgewicht.“ Sie wenden sich von ihr ab, und Lily fühlt sich immer einsamer. „Ich habe schon lange keine Kraft mehr, um jeden zu verachten“, stöhnt sie.

Als der „reiche Jude“ sie wieder mit seiner schwarzen Limousine abholt, merkt er, dass sie verzweifelt ist und tadelt sie, weil man mit Verzweiflung keinen Handel treiben könne. „Die Ohnmacht ist meine Chance“, meint Lily und versichert, dass sie ihre Rolle nicht mehr weiterspielen wolle. Lily möchte sterben, ist aber zu schwach, um sich selbst umzubringen und bittet deshalb den Juden, es für sie zu tun. An einer abgelegenen Stelle steigen sie aus; er nimmt seine Krawatte ab und erdrosselt Lily. Der Chauffeur murmelt: „Er hat sich disqualifiziert, denn er hat sie geliebt.“ Ohne sich um den „reichen Juden“ oder die Leiche zu kümmern, fährt er los.

Der „kleine Prinz“, der merkte, dass der „reiche Jude“ wegen Lily seine Geschäfte vernachlässigte, will die Chance nutzen, ihn auszuschalten und selbst an seine Stelle zu treten. Er sucht Polizeipräsident Müller auf und zeigt den Juden als Lilys Mörder an. „Wieder einer, der die Gesetze der Stadt nicht kennt“, sagt der Polizeipräsident zu einem Mitarbeiter. Der schlägt den „kleinen Prinzen“ daraufhin nieder und wirft ihn aus dem Fenster. – Gleich darauf kommt der Jude mit dem „Zwerg“, der eifrig versichert, er könne das Alibi seines Arbeitgebers zur Tatzeit bezeugen. Als der Polizeipräsident sich anerkennend über den „braven Zwerg“ äußert, entgegnet der „reiche Jude“: „Wenn einer klein ist, hat er keine andere Wahl, als brav zu sein.“ – Der schrecklich zugerichtete und noch immer halb bewusstlose Raoul wird ins Büro des Polizeipräsidenten gezerrt und auf den Boden geworfen. Den wird der Polizeipräsident der Öffentlichkeit als Lilys Mörder präsentieren. „Der passt genau!“

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Der 1973 veröffentlichte Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ von Gerhard Zwerenz regte Rainer Werner Fassbinder an, 1975 das Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ zu schreiben. Darin geht es um das korrupte Zusammenspiel von Stadtverwaltungen und Immobilienhaien bei rücksichtslosen Stadtsanierungen, das er am Beispiel des Frankfurter Stadtteils Westend festmacht. Zugleich thematisiert Rainer Werner Fassbinder in diesem Kontext auch den Antisemitismus in der Bundesrepublik in den Sechziger- und Siebzigerjahren.

Dass Rainer Werner Fassbinder als skrupellosen Immobilienhai ausgerechnet einen Juden wählte, brachte ihm den Vorwurf ein, Antisemit bzw. Linksfaschist zu sein, und sein Theaterstück konnte wegen des öffentlichen Wirbels erst 1987 in New York uraufgeführt werden (ausführlicher Bericht über die Kontroverse).

Unter dem Titel „Schatten der Engel“ ließ Rainer Werner Fassbinder sein Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von seinem Schweizer Freund Daniel Schmid verfilmen.

Rainer Werner Fassbinder stellt Sexualität als käufliche Ware dar und prangert das Zusammenspiel von Stadtverwaltungen und Immobilienhaien an. In dieser kalten, inhumanen Gesellschaft geht es nur um Kaufen und Verkaufen. Die düstere, melancholische Großstadtszenerie ist so typisiert wie die Figuren, die keine individuellen Charaktere darstellen, sondern Typen wie den „reichen Juden“, den korrupten kommunalen Politiker, den alten Nazi, die Hure, den Zuhälter, die von ausgezeichneten Schauspielern wie Ingrid Caven und Klaus Löwitsch dargestellt werden. Dementsprechend besteht Daniel Schmids karger Film aus einer Abfolge einzelner Szenen, in denen es auf die von Rainer Werner Fassbinder geschriebenen Dialoge ankommt.

Rainer Werner Fassbinder und Ingrid Caven waren übrigens 1970 bis 1972 verheiratet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004

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Hoimar von Ditfurth - Der Geist fiel nicht vom Himmel
Hoimar von Ditfurth verstand es wie kaum ein anderer populärwissenschaftlicher Autor, auch "schwierige" Sachverhalte anschaulich und leicht lesbar darzustellen.
Der Geist fiel nicht vom Himmel