Christoph Ransmayr : Cox oder Der Lauf der Zeit

Cox oder Der Lauf der Zeit
Cox oder Der Lauf der Zeit Originalausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2016 ISBN: 978-3-10-082951-1, 303 Seiten ISBN: 978-3-10-402557-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der berühmte Londoner Uhrmacher und Automatenbauer Alister Cox wird Mitte des 18. Jahrhunderts nach China eingeladen. Dort stoßen er und seine drei Mitarbeiter auf eine Welt, die von einem abso­lu­tistischen, ebenso kultivierten wie grausamen Kaiser beherrscht wird. Das Verhalten der Untertanen folgt strengen Ritualen, und bei geringsten Verstößen ist damit zu rechnen, dass die Delinquenten zu Tode gefoltert werden ...
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Kritik

Christoph Ransmayr erzählt in "Cox oder Der Lauf der Zeit" eine außergewöhnliche Geschichte über Zeit und Maßlosigkeit. Die künstliche Welt des chinesischen Kaiserreichs wird von der erhaben gemeißelten Sprache des Romans gespiegelt.
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Der berühmte Chronometer- und Automatenbauer Alister Cox, der Mitte des 18. Jahrhunderts in England 900 Feinmechaniker, Juweliere, Gold- und Silberschmiede beschäftigt, wird von Quiánlóng, dem Kaiser von China, eingeladen. Um über den Tod seiner Tochter Abigail hinwegzukommen, die im Alter von fünf Jahren an Keuchhusten starb, kommt ihm der Ruf nach China gerade recht, zumal ihn auch der Anblick seiner mehr als 30 Jahre jüngeren Ehefrau Faye schmerzt, die seit dem Verlust Abigails vor zwei Jahren nicht mehr mit ihm spricht und sich auch nicht mehr von ihm berühren lässt.

In Southampton geht Alister Cox zusammen mit seinem befreundeten Geschäfts­partner Jacob Merlin, dem Silberschmied Aram Lockwood und dem Feinmechaniker Balder Bradshaw an Bord des Dreimasters „Sirius“. Sieben Monate dauert die Seereise nach Hangzhou. Erst seit der Kaiser den Qiantang-Fluss vertiefen ließ und gewissermaßen einen Fehler der Natur korrigierte, ist die Stadt für große Schiffe erreichbar. Ein noch gewaltigeres Bauwerk des Kaisers ist der 12 Meter tiefe, 40 Meter breite und 1800 Kilometer lange Kanal, der Dà yùn hé, auf dem die Gäste von Hangzhou nach Peking weiterreisen, und zwar mit dem ihnen zugewiesenen Dolmetscher Joseph Kiang.

Weil der 42-jährige Kaiser, der bereits über eine riesige Sammlung von Uhren und Automaten verfügt, nicht an den mitgebrachten Apparaten interessiert ist, fährt die „Sirius“ mit der Ladung weiter.

Der Allerhöchste habe Pläne mit seinen Gästen, hatte Kiang gesagt; größere Pläne. Er wolle weder kaufen noch tauschen und auch seinen künstlichen, mechanischen Zoo nicht mehr erweitern. […] Nein, der Kaiser wolle ihren Kopf.
Unseren Kopf?, hatte Cox entgeistert gefragt und gespürt, wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. […]
Ja, ihren Kopf, hatte Kiang wiederholt und sich vor dem englischen Gast verbeugt: Ihren Kopf. Ihre Erfindungsgabe, Ihr Vorstellungsvermögen, Ihre Kunst, Mühlen für den Lauf der Zeit zu schaffen.

Durchs Fenster seines Quartiers in Peking beobachtet Cox zufällig den Sturz eines zu Tode erschöpften Sänftenträgers. Sofort schließt Kiang die Jalousie.

In der Verbotenen Stadt, sagte Kiang, in der Stadt des Erhabenen, dürfe nur das zu sehen sein, ja nur das sichtbar werden, was die Gesetze des Hofes den Augen gnädig überließen. Aber alles Unerwartete, alles Unvorhergesehene müsse den Blicken eines Unbeteiligten, schon gar denen eines Fremden, solange entzogen bleiben, bis ihm die Sichtbarkeit von den entsprechenden Räten nach dem Willen des Allerhöchsten zugesprochen werde.
Und Vorsicht! Vorsicht! Es sei geschehen, dass verbotene Blicke noch am Tag des Frevels mit der Blendung bestraft worden seien […] mit einer dicht an den Pupillen vorübergezogenen weißglühenden Dolchklinge, die den Augapfel zum Kochen brachte. Oder mit einem Rinnsal geschmolzenen Bleis, das der Henker einem Gaffer in die Augenhöhlen goss.

Wochen vergehen, ohne dass die Engländer etwas vom Kaiser hören. Hat er inzwischen das Interesse an ihnen verloren? Dann wird Cox unvermittelt zu einer Audienz abgeholt. Der Kaiser spricht zu ihm, bleibt dabei allerdings hinter einem Wandschirm verborgen. Er beauftragt Cox, eine Uhr zu bauen, die darstellt wie ein Kind die Zeit erlebt.

Alister Cox konstruiert eine Uhr in Form eines Silberschiffchens, deren Lauf vom Spiel der Luftströmung im Segel abhängt. Aber bevor das Werk vollendet ist, will der Kaiser stattdessen eine Uhr haben, die zeigt, wie Todgeweihte das Vergehen der letzten Tage und Stunden empfinden.

Kurz zuvor wurden zwei Hofärzte beschuldigt, Gerüchte über eine Krankheit des Kaisers verbreitet zu haben. Ein Gericht verurteilt sie zum „kriechenden Tod“. Man bindet sie so an zwei Pfählen, dass sie einander gegenüber stehen. Auf diese Weise muss er eine Verurteilte mit ansehen, wie dem anderen eine Brustwarze abgeschnitten wird, bevor ihm das Gleiche widerfährt. Dieses Hin und Her der Verstümmelung zieht sich über Stunden hin. Die abgetrennten Köpfe der beiden Hingerichteten werden aufgespießt und 21 Tage lang zur Schau gestellt.

Für die neue Uhr wählt Cox einen Abschnitt der Chinesischen Mauer als Vorbild. Sie wird durch das Gewicht der Asche angetrieben, die beim Verbrennen verschiedener Substanzen anfällt.

Der Kaiser wird zwar ständig über den Fortschritt der Arbeiten unterrichtet, aber er taucht schließlich persönlich in der Werkstatt auf. Begleitet wird er von fünf seiner mehr als dreitausend Konkubinen, darunter eine Kindfrau, die Alister Cox sowohl an seine Frau als auch an seine Tochter erinnert. Sie heißt Ān.

[…] für jeden Mann, der nicht von sich sagen konnte, Kaiser von China zu sein, war Ān ein Lichtjahre entrückter Stern, der nach den Gesetzen einer unbegreiflichen Himmelsmechanik am Firmament erschien und wieder verschwand.

Obwohl es in zwei Provinzen zu Aufständen kommt, bereitet sich der Hof ein dreiviertel Jahr nach der Ankunft der Engländer auf den Umzug in die Sommerresidenz Jehol in den Bergen am Rand der Inneren Mongolei vor. Die Niederschlagung der Unruhen überlässt der Kaiser seinen Generälen.

4500 Menschen treten die siebentägige Reise an. Auch die Himmelsuhr wird mitgeführt, an deren Bau Alister Cox beteiligt war, als er seine Ausbildung in der Manufaktur von David Brookstone und Joshua Pommeroy machte, die er später selbst übernahm. Der komplizierte Apparat spiegelt die Himmelsmechanik.

Kurz vor dem Ziel geht Balder Bradshaws Pferd durch, wirft den Reiter ab und schleift ihn zu Tode.

In Jehol erhält Cox einen neuen Auftrag des Kaisers. Er soll eine Uhr bauen, die wartungsfrei und ewig läuft. Begeistert macht Cox sich an die Arbeit. Schon immer träumte er von einem Perpetuum mobile, aber in London hätten seine Mittel bei weitem nicht dafür ausgereicht. Hier sorgt der Kaiser dafür, dass alles beschafft wird, was Cox bestellt.


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überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Konstruktion wird über ein Barometer durch Veränderungen des Luftdrucks angetrieben. Es gibt also eine Energiezufuhr von außen, und die „zeitlose Uhr“ ist kein geschlossenes System, aber sie kommt einem Perpetuum mobile zumindest nahe, denn einmal in Gang gesetzt, soll sie einige Jahrhunderte wartungsfrei laufen, bis die ersten Teile verschlissen sind.

Damit Cox die Arbeit an der Uhr nicht unterbrechen muss, verschiebt der Kaiser die Rückkehr nach Peking und ordnet an, dass weiter Sommer ist. Heimlich breitet sich Unmut über die Langnasen aus, und die feindselige Stimmung verstärkt sich, als der erste Schnee fällt. Die meisten Pavillons in Jehol sind nicht beheizbar.

Kiang warnt Cox: Der Bau der „zeitlosen Uhr“ sei selbstmörderisch, meint er, denn der Kaiser gebiete nicht nur über die Zeit, er sei die Zeit, und eine ewig gehende Uhr würde ihn überragen. Das werde der „Herr der Zehntausend Jahre“ nicht dulden.

Unangemeldet und ohne Leibwächter, lediglich von Ān begleitet, besucht Quiánlóng die Werkstatt. Als Cox Ān so nahe kommt, glaubt er sie mit geschlossenen Augen zusammen mit Faye und Abigail in seinem Garten zu sehen.

Und dann ergriff etwas Besitz von ihm, eine Erschütterung, von der er vielleicht eine Ahnung erfahren hatte, als Abigail geboren worden war oder als er zum erstenmal in Fayes Armen lag. Er empfand, dass dieser eine Augenblick im Angesicht des Kaisers und seiner Geliebten keiner Zeit mehr angehörte, sondern ohne Anfang und ohne Ende war, um vieles kürzer als das Aufleuchten eines Meteoriten und doch von der Überfülle der Ewigkeit: von keiner Uhr zu messen, scheinbar ohne Ausdehnung wie ein Jahrmilliarden entfernter, glimmender Punkt am Firmament.

Weinend sinkt Alister Cox auf die Knie. Als er wieder zu sich kommt, erfährt er, dass der Kaiser den Pavillon verlassen hat, ohne die Uhr gesehen oder Fragen gestellt zu haben.

Aus Furcht, Kiang könne mit seiner Überlegung Recht haben, verzögert Cox die Fertigstellung der Uhr so wie Penelope in der griechischen Sage die Freier hinhielt, indem sie vorgab, ein Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes weben zu müssen. Als die Natur wieder zu grünen beginnt, hat Cox endlich eine Idee, wie sich das Dilemma lösen lässt: Er schickt dem Kaiser eine Schatulle aus Schlangenholz. Sie enthält fünf Schlüsseln und eine von Kiang gestaltete Kalligrafie mit Erläuterungen, wie sich die „zeitlose Uhr“ in Gang setzen lässt. Der „Herr der Zehntausend Jahre“ soll das selbst tun. Dann braucht er den Konstrukteur nicht zu töten.

Vier Tage nachdem Alister Cox, Jacob Merlin und Aram Lockwood mit einer schwerbewaffneten Eskorte aus Jehol abgereist sind, um in Qínhuángdăo an Bord der „Orion“ zu gehen, die sie nach Rotterdam bringen wird, verbrennt Quiánlóng die Anleitung, die er inzwischen auswendig kann. Allein setzt er sich zu der Uhr und nimmt den ersten Schlüssel in die Hand. Doch statt das Werk in Gang zu setzen, legt er den Schlüssel zurück in die Schatulle und schließt sie.

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Der erfolgreiche Londoner Uhrmacher und Juwelier James Cox (um 1723 – um 1800) erwarb 1769 mit der Chelsea Porcelain Factory eine der bedeutendsten englischen Porzellanmanufakturen.

Um 1760 hatte er mit seinem Geschäftspartner Jean-Joseph Merlin eine atmosphärische Uhr konstruiert, die über ein mit 68 Kilogramm Quecksilber gefülltes Barometer durch Veränderungen des Luftdrucks angetrieben wurde und als „The Perpetual Motion“ bezeichnet wurde. (Sie befindet sich heute in den Sammlungen des Victoria and Albert Museums in Kensington.)

Über die Britische Ostindien-Kompanie exportierte James Cox seine Erzeugnisse bis nach China – darunter auch mindestens zwei Automaten für die Sammlung des Kaisers Qiánlóng –, bis die britische Regierung 1772 den Export von Luxusgütern nach China verbot. Nicht zuletzt dadurch ging James Cox‘ Unternehmen 1778 in Konkurs. Sein Sohn John Henry Cox produzierte daraufhin einige Zeit in Guangzhou für den chinesischen Markt. (John Henry Cox starb dort 1791.)

Christoph Ransmayr macht in seinem Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ aus James Cox, der nie in China war, den China-Reisenden Alister Cox, und aus Jean-Joseph Merlin wird Jacob Merlin. Im Auftrag des chinesischen Kaisers Quiánlóng konstruieren sie eine atmosphärische Uhr.

Auch für diesen absolutistischen Herrscher gibt es ein historisches Vorbild: Qiánlóng (1711 – 1799) war der vierte Kaiser der Qing-Dynastie. Seine Regierungszeit gilt als goldenes Zeitalter der chinesischen Kulturgeschichte. Seine Bautätigkeit, seine Bibliothek und seine Kunstsammlung sind legendär. Er soll auch über 41 Ehefrauen und mehr als 3000 Konkubinen verfügt haben. 1795 dankte er zugunsten seines Sohnes Yongyan (Kaisername: Jiaqing) ab, überließ ihm jedoch nur zeremonielle bzw. repräsentativ Aufgaben und zog weiterhin die Fäden.

In „Cox oder Der Lauf der Zeit“ wird Qiánlóng als ebenso kultivierter wie grausamer Despot dargestellt. In seinem absolutistischen Staat lässt er unter gewaltigen Menschenopfern Wasserstraßen anlegen und glaubt, dabei die Natur zu korrigieren. Ebenso bestimmt er die Jahreszeit und ordnet trotz Schneefalls an, dass Sommer ist. Das Verhalten der Untertanen folgt strengen Ritualen, und bei geringsten Verstößen ist damit zu rechnen, dass die Delinquenten zu Tode gefoltert werden.

In der erhaben gemeißelten Sprache seines Romans „Cox der Der Lauf der Zeit“ spiegelt Christoph Ransmayr diese Künstlichkeit. Die Kapitel sind in chinesisch und deutsch überschrieben, von „1 Háng zhōu, die Ankunft“ bis „17 Dú Gōu Qíu Bài, der Unbesiegbare“.

Der Uhrmacher Alister Cox macht wie der Ingenieur Walter Faber durch den Tod der Tochter die Erfahrung, dass das Leben nicht berechenbar ist. Er begreift, dass der chinesische Kaiser von der Unsterblichkeit träumt und dessen Auftrag durch eine sehr menschliche Furcht vor dem Tod motiviert ist. Gegen Ende zu erlebt nicht der Kaiser, sondern der Uhrmacher einen zeitlosen Glücksmoment.

Den Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christoph Ransmayr (ISBN 978-3-8398-1507-6).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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