Sylvia Plath : Die Glasglocke

Die Glasglocke
Originaltitel: The Bell Jar, 1963 Die Glasglocke Deutsche Erstausgabe: 1968 Übersetzung: Reinhard Kaiser Suhrkamp Taschenbuch, 1998 (Neuauflage: 2003) 262 S., ISBN 3-518-39354-5
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 19-jährige Schülerin Esther Greenwood ist an Erfolge gewöhnt und hat ein Stipendium für eine der großen Universitäten an der Ostküste in Aussicht. Da fällt ihr auf, dass sie seit ihrem neunten Lebensjahr nicht mehr glücklich war. Schleichend verfällt sie einer Depression. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch wird sie in eine Nervenheilanstalt eingewiesen.
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Kritik

In ihrem einzigen Roman erforscht die amerikanische Lyrikerin Sylvia Plath nicht die Ursachen der Depression, unter der ihre Protagonistin zu leiden beginnt, sondern sie beschreibt den Krankheitsverlauf, und zwar auf eine außergewöhnlich anschauliche, beklemmende Weise.
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Preisträgerin

Die neunzehnjährige Musterschülerin Esther Greenwood aus Neuengland gewinnt 1953 zusammen mit elf anderen Mädchen beim Prosa- und Lyrik-Wettbewerb einer Modezeitschrift. Sie werden für einen Monat zu einem Volontariat bei der Zeitschrift in New York eingeladen und in dieser Zeit mit Geschenken, Gutscheinen, Eintrittskarten und Einladungen überhäuft. In den Wochen danach will sie bei einem berühmten Autor einen Schreibkurs absolvieren. Durch ein Stipendium der wohlhabenden Romanautorin Philomena Guinea wird sie an einer der großen Universitäten an der Ostküste studieren können.

Einige der anderen Preisträgerinnen stürzen sich unbeschwert in das Großstadtleben. Esther lässt sich von Doreen zum Mitmachen überreden, doch irgendwie gelingt es ihr nicht, Gefallen daran zu finden. Während Doreen rasch einen ebenso unbekümmerten Mann namens Lenny Shepherd kennen lernt, und mit ihm die Nächte verbringt, fühlt Esther sich hin und hergerissen zwischen ihrer Sehnsucht, durch die Defloration endlich erwachsen zu werden und ihrer Angst vor einer möglichen Schwangerschaft.

In ihrer Heimatstadt hatte sie sich in Buddy Willard, den Sohn einer Freundin ihrer Mutter, verliebt.

Fünf Jahre lang betete ich ihn aus der Ferne an, ehe er sich zum erstenmal nach mir umsah, und dann begann eine schöne Zeit, als ich ihn noch anbetete und er begann, mich anzusehen, aber gerade als er dann immer mehr von mir sehen wollte, entdeckte ich zufällig, was für ein schrecklicher Heuchler er war, und inzwischen wollte er, dass ich ihn heiratete, ich aber hasste ihn wie die Pest.

Für einen Heuchler hält sie den ein paar Jahre älteren Medizinstudenten, weil er bereits mit Mädchen geschlafen hatte, aber so tat, als sei er sexuell noch unerfahren. Obwohl er ihr einen Heiratsantrag machte, will sie sich nicht mehr von ihm deflorieren lassen, sondern lieber von einem anderen Mann, um mit ihm gleichzuziehen.

Als Buddy sie einmal fragte, ob sie auf dem Land oder in der Stadt leben wolle, antwortete sie: „Ich könnte niemals entweder auf dem Land oder in der Stadt leben.“ Das Leben kommt ihr vor wie ein verästelter Feigenbaum mit reifen Früchten. An einem Zweig winkt eine Zukunft als berühmte Schriftstellerin, am anderen die Karriere einer genialen Professorin; oder soll sie doch lieber eine treu sorgende Mutter werden? Esther fällt die Wahl schwer, denn sobald sie sich für eine der möglichen Zukunftsperspektiven entschieden hat, muss sie die anderen aufgeben – und das möchte sie nicht.

Uneingeschränkte Sicherheit war das letzte, was ich wollte […] Ich wollte Abwechslung und Aufregung und wollte selbst in alle möglichen Richtungen fliegen, wie die farbigen Pfeile bei einer Feuerwerksrakete am Vierten Juli.

Jay Cee, Esthers Chefin bei der Modezeitschrift in New York, fragt sie, ob die Arbeit sie überhaupt interessiere.

„Oh, doch, doch“, sagte ich. „Sie interessiert mich sehr.“ Am liebsten hätte ich die Worte laut gerufen, damit sie überzeugender klängen, aber ich hielt mich zurück.
Mein Leben lang hatte ich mir gesagt, Studieren und Lesen und Schreiben und Arbeiten wie verrückt sei genau das, was ich wollte, und so war es anscheinend auch gewesen, ich kam überall gut zurecht, hatte lauter A’s [beste Schulnote] und war nicht zu bremsen gewesen, als ich auf das College kam.
Ich war College-Korrespondentin für die örtliche Gazette und Chefredakteurin der Literaturzeitschrift und Sekretärin des Ehrenausschusses, der sich mit akademischen und gesellschaftlichen Verfehlungen und Strafen befasste – ein beliebter Posten, und es gab eine bekannte Lyrikerin und Professorin an der Fakultät, die sich dafür einsetzte, dass ich an einer der großen Universitäten im Osten studieren könnte, ich hatte Aussichten auf Stipendien für die gesamte Studienzeit und ging nun bei der besten Redakteurin aller intellektuellen Modezeitschriften in die Lehre – und was tat ich? Ich bockte und sträubte mich wie ein dummer Karrengaul.
„Ich bin sehr an allem interessiert.“ Die Wörter fielen matt und flach wie hölzerne Münzen auf Jay Cees Schreibtisch.
[…]
„Sie haben natürlich noch ein Jahr College vor sich“, fuhr Jay Cee etwas freundlicher fort. „Was haben Sie denn nach dem College vor?“
Ich hatte immer geglaubt, ich hätte vor, mir nach dem College ein ordentliches Stipendium für eine Universität oder für ein Studium in Europa zu besorgen, und dann wollte ich Professorin werden und Gedichtbände schreiben oder Gedichtbände schreiben und eine Art Lektorin oder Redakteurin werden. Normalerweise fiel es mir nicht schwer, von diesen Plänen zu sprechen.
„Ich weiß nicht“, hörte ich mich sagen. Ich war bestürzt, als ich mich das sagen hörte, denn in dem Augenblick, als ich es aussprach, wusste ich, dass es stimmte.

Constantin

Buddy Willards Mutter hatte einem bei der UNO beschäftigten Simultandolmetscher namens Constantin Esthers Telefonnummer in New York gegeben. Tatsächlich ruft er sie an, und sie gehen mehrmals zusammen essen.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, mit Constantin verheiratet zu sein.
Es würde bedeuten, um sieben aufzustehen und ihm Eier und Schinken und Toast und Kaffee herzurichten und, wenn er zur Arbeit gegangen war, im Morgenrock, mit Lockenwicklern im Haar herumzutrödeln, die schmutzigen Teller abzuspülen, das Bett zu machen, und wenn er dann nach einem abwechslungsreichen, faszinierenden Tag nach Hause kam, würde er ein ausgiebiges Abendessen erwarten, und ich würde den Rest des Abends noch mehr schmutzige Teller abspülen und zuletzt völlig erschöpft ins Bett fallen.
Für ein Mädchen, das fünfzehn Jahre lang immer nur glatte A’s nach Hause gebracht hatte, schien das ein trostloses Leben zu sein, aber ich wusste, so war es, wenn man heiratete, denn Kochen und Putzen und Waschen war genau das, was Buddy Willards Mutter von morgens bis abends tat, und sie war mit einem Universitätsprofessor verheiratet und war selbst Lehrerin an einer Privatschule gewesen.

Esthers Vater stammte „aus irgendeinem manisch-depressiven Dörfchen im tiefsten Preußen“. Er starb, als sie neun war. Seither unterrichtet ihre Mutter Stenografie und Maschineschreiben, um den Lebensunterhalt für sich, Esther und deren jüngeren Bruder zu verdienen. Dabei hasst sie den Beruf im Stillen, und sie hasst auch ihren verstorbenen Mann dafür, dass er kein Geld hinterlassen hatte. Als Esther einmal von Constantin ins UNO-Gebäude mitgenommen wird, fällt ihr unvermittelt auf, dass sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr glücklich war.

… fragte ich mich plötzlich, warum ich mir noch nie klar gemacht hatte, dass ich richtig glücklich eigentlich nur bis zu meinem neunten Lebensjahr gewesen war.
Nachher war ich – trotz der Pfadfinderinnengruppe und der Klavierstunden, trotz Aquarellkurs und Tanzunterricht und Segellager, die sich meine Mutter alle vom Mund absparte, und trotz des Colleges mit Rudern im Morgennebel vor dem Frühstück, mit Schokoladensahnetorte und den kleinen Ideenraketen, die jeden Tag hochgingen – nie mehr wirklich glücklich gewesen.
[…]
Im schalldichten Mittelpunkt des UNO-Gebäudes, zwischen Constantin, der Tennis spielen und simultandolmetschen konnte, und der Russin, die so viele Redewendungen kannte, kam ich mir zum erstenmal in meinem Leben furchtbar unzulänglich vor. Aber das schlimmste war, ich war schon immer unzulänglich gewesen, ich hatte nur nie darüber nachgedacht.

Therapieversuche

Nach ihrer Rückkehr aus den „Granitcanyons“ von Manhattan erfährt Esther, dass ihre Bewerbung für den Schreibkurs abgelehnt wurde. Dabei war sie fest davon ausgegangen, dass die Teilnahme die nächsten Wochen ausfüllen würde. Was soll sie nun tun? Sie kann nicht mehr schlafen. Als sie die Hausärztin Teresa um die Verschreibung stärkerer Schlaftabletten bittet, schickt diese sie zum Psychiater. Der kann ihr in den kostspieligen Therapiestunden auch nicht helfen. Schließlich will er es in einer Klinik mit Elektroschocks versuchen, aber nach der ersten grausamen Behandlung weigert Esther sich, ihn noch einmal aufzusuchen.

Teresa sorgt durch ihre Beziehungen dafür, dass Esther als Freiwillige im örtlichen Krankenhaus arbeiten darf, weil sie hofft, dass das Mädchen über die Depressionen hinwegkommt, wenn es anderen Menschen helfen kann, denen es schlechter geht. Am ersten Tag wird Esther in die Entbindungsstation geschickt und soll dort die über Nacht aus den Zimmern entfernten Blumen verteilen, also die richtigen Vasen neben die richtigen Betten in den richtigen Zimmern stellen. Noch vor der ersten Tür fällt ihr auf, dass einige der Blüten welk sind. Welke Blumen würden die Patientinnen deprimieren, glaubt Esther. Um das zu verhindern, sortiert sie die kaputten Blumen aus und stellt die Sträuße neu zusammen. Aber die Patientinnen beschweren sich, denn jede von ihnen will ihren eigenen Blumenstrauß zurück und nichts anderes. Da flieht Esther aus dem Krankenhaus.

Sie träumt davon, wie es wäre, nach Chicago zu gehen und ihren Namen in Elly Higginbottom zu ändern.

Dann würde niemand wissen, dass ich ein Stipendium an einem großen Frauencollege an der Ostküste geschmissen und einen Monat in New York vertan und den Heiratsantrag eines grundsoliden Medizinstudenten abgelehnt hatte, der eines Tages Mitglied des Amerikanischen Medizinerverbandes sein und jede Menge Geld verdienen würde.

Esther vermag nicht mehr klar zu denken.

… mein Verstand rutschte immer wieder aus der Schlinge des Gedankens und schwang sich wie ein Vogel hinauf in die leere Luft …

Sie malt sich aus, wie sie sich das Leben nimmt. Sie könnte sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufschneiden und im warmen Badewasser verbluten. Esther lässt schon einmal eine Rasierklinge auf ihr Fußgelenk fallen und beobachtet, wie das Blut aus dem kleinen Schnitt sickert. Aber dann fällt ihr ein, dass ihr nicht mehr genug Zeit verbleibt, bis die Mutter nach Hause kommt. Ein anderes Mal sucht sie in der Wohnung vergeblich nach einer Möglichkeit, sich aufzuhängen. Oder soll sie von einer Brücke springen?

Eines Tages legt sie ihrer Mutter einen Zettel hin: „Ich mache einen langen Spaziergang.“ Dann zieht sie sich mit einem Glas Wasser und fünfzig Schlaftabletten in den Keller zurück. Sie wird gerettet und wegen des Selbstmordversuchs in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Philomena Guinea sorgt dafür, dass sie in eine mondäne Privatklinik kommt.

Ich wusste, dass ich Mrs Guinea dankbar sein musste, und trotzdem empfand ich nichts. Hätte sie mir eine Fahrkarte nach Europa oder eine Kreuzfahrt rund um die Welt geschenkt, so hätte sich für mich nicht das geringste verändert, denn egal, wo ich saß – ob auf dem Deck eines Schiffes oder in einem Straßencafé in Paris oder Bangkok –, immer saß ich unter der gleichen Glasglocke in meinem eigenen sauren Dunst.

Nach fünf neuen, diesmal schonender durchgeführten Schockbehandlungen nimmt die behandelnde Ärztin Dr. Nolan an, dass es Esther besser geht, und sie darf die Klinik stundenweise verlassen.

Auf der Treppe vor der Widener-Bibliothek lernt sie Irwin kennen, einen sechsundzwanzigjährigen Professor. Von ihm lässt sie sich deflorieren, aber sie blutet so stark, dass sie in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht werden muss.

Der Roman endet, als Esther den Raum betritt, in dem eine Ärztekommission darüber entscheiden wird, ob sie aus der Nervenheilanstalt entlassen werden kann.

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Schleichend gerät das Empfinden, Wahrnehmen und Denken der neunzehnjährigen Esther Greenwood in den Bann einer schweren Depression. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch wird sie in eine Nervenheilanstalt eingewiesen.

In „Die Glasglocke“ erforscht Sylvia Plath nicht die Ursachen der Depression, sondern sie beschreibt den Krankheitsverlauf, und zwar auf eine außergewöhnlich anschauliche und beklemmende Weise, in einer eleganten Sprache mit zahlreichen gelungenen Vergleichen und Metaphern. Ungeachtet des bedrückenden Inhalts sind einige der Szenen komisch, aber das wirkt nicht humorvoll, sondern sarkastisch.

Mit diesem Roman beweist Sylvia Plath, dass sie nicht nur eine bedeutende Lyrikerin ist, sondern auch eine geniale Erzählerin. Bedauerlicherweise hat die amerikanische Schriftstellerin nur diesen einzigen Roman geschrieben.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Sylvia Plath (Kurzbiografie)

Carlos Ruiz Zafón - Der Schatten des Windes
Mit großer Fabulierlust und viel Liebe zu Besonderheiten präsentiert Carlos Ruiz Zafón nach und nach Bruchstücke einer spannenden Geschichte. Eigentlich sind es sogar zwei Geschichten, die er geschickt zusammenführt: "Der Schatten des Windes".
Der Schatten des Windes