Nele Neuhaus : Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben
Schneewittchen muss sterben Originalausgabe: List Taschenbuch Ullstein Buchverlage, Berlin 2010 ISBN: 978-3-548-60982-9, 537 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In dem Kriminalroman "Schneewittchen muss sterben" erzählt Nele Neuhaus, wie durch einen Justizirrtum und die Intoleranz von Dorfbewohnern das Leben eines jungen Mannes und seiner Eltern ruiniert wird. Aber auch die Familien der beiden vermissten Mädchen, deren Ermordung man ihm zur Last legt, haben schwer zu leiden. Zugleich geht es um einen skrupellosen Unternehmer und noch eine ganze Reihe weiterer Figuren, die alle farbig dargestellt und in die komplexen Vorgänge eingebunden werden.
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Kritik

Mit überbordender Fabulierlaune hat Nele Neuhaus sich Tausende von Einzelheiten ausgedacht, aus denen sie souverän eine ebenso komplexe wie spannende Geschichte entwickelt: "Schneewittchen muss sterben".
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Nach der Verbüßung von zehn Jahren Jugendhaft verlässt Tobias Sartorius am 6. November 2008 die Justizvollzugsanstalt Rockenberg in der Wetterau. Nathalie Unger, mit der er schon als Kind befreundet war, holt ihn ab. Sie hat es geschafft, aus dem zu Bad Soden gehörenden Heimatdorf Altenhain herauszukommen: Unter dem Künstlernamen Nadja von Bredow kennt man sie als erfolgreiche Filmschauspielerin. Sie bietet ihrem Jugendfreund an, er könne bei ihr in Frankfurt wohnen, bis er etwas Eigenes gefunden habe, aber der Einunddreißigjährige möchte erst einmal nach seinen Eltern sehen. Nadja meint zwar, es wäre besser, wenn Tobias nicht nach Altenhain zurückkehren würde, aber sie fährt ihn mit ihrem silbergrauen Porsche Carrera hin.

Verurteilt wurde Tobias wegen Doppelmordes. Die beiden siebzehnjährigen Mädchen Laura Wagner und Stefanie Schneeberger, die er ermordet haben soll, verschwanden in der Nacht vom 6./7. September 1997 während der Kerb (Kirmes) in Altenhain. Ihre Leichen wurden allerdings bis heute nicht gefunden. Das Gericht entschied aufgrund von Indizien, die den angeklagten Abiturienten belasteten, der zur Tatzeit so betrunken gewesen war, dass er sich an nichts erinnern kann.

Stefanie war ein halbes Jahr zuvor mit ihren Eltern nach Altenhain gezogen. Albert und Beate Schneeberger hatten ein Haus gemietet, das dem Altenhainer Unternehmer Claudius Terlinden gehörte, der Stefanies Vater als Prokurist beschäftigte. Bei den Nachbarn handelte es sich um die Familien Terlinden und Sartorius. Tobias‘ Vater Hartmut betrieb mit Hilfe seiner Frau Rita in der dritten Generation die Gaststätte „Zum goldenen Hahn“. Er kelterte nicht nur seinen eigenen Apfelwein, sondern schlachtete und kochte auch selbst.

Wegen Stefanie hatte Tobias kurz nach dem Abitur mit seiner Freundin Laura Schluss gemacht. Seit der damalige Deutschlehrer Gregor Lauterbach – der es inzwischen zum hessischen Kultusminister gebracht hat – Stefanie für die Hauptrolle in einer Märchenaufführung der Theater AG ausgesucht hatte, trug sie den Spitznamen „Schneewittchen“.

Während der Kerb am 6. September 1997 in Altenhain, die wegen der Trauerfeier für Prinzessin Diana ohne den traditionellen Umzug stattfand, arbeitete Tobias mit Nathalie zusammen am Getränkeausschank im Zelt, verließ das Fest jedoch vorzeitig. Im Kofferraum seines Autos stellte die Polizei Blutspuren von Laura sicher, und auf dem Hof seiner Eltern fand man nicht nur Lauras Halskette, sondern auch Stefanies Rucksack. Außerdem barg man aus der Jauchegrube des Hofes den Wagenheber, mit dem Laura erschlagen worden war. Am 16. September 1997 wurde Tobias verhaftet.

Eigentlich hätte Tobias Arzt werden wollen, aber dieser Lebensentwurf scheiterte aufgrund der Verurteilung. Im Gefängnis absolvierte er eine Schlosserlehre und studierte an der Fernuniversität Hagen Betriebswirtschaftslehre.

Tobias ist entsetzt, als er den Hof in Altenhain, auf dem er aufwuchs, nach elf Jahren erstmals wieder betritt. Die Gaststätte ist geschlossen. Überall steht Gerümpel herum, und auch das Wohnhaus ist verwahrlost. Hartmut Sartorius arbeitet in einer Küche in Eschborn als Koch, seit er die Gaststätte aufgeben musste, weil die Altenhainer sie seit der Verhaftung seines Sohnes mieden. Obwohl die Einnahmen ausblieben, mussten die hohen Anwaltskosten für Tobias‘ Verteidigung bezahlt werden. Aus finanziellen Gründen sah Hartmut Sartorius sich gezwungen, das Anwesen für einen Bruchteil des Wertes dem Nachbarn Claudius Terlinden zu verkaufen. Immerhin ließ ihn der reiche Unternehmer weiter hier wohnen. Ebenfalls zu einem Spottpreis überschrieb ihm Hartmut Sartorius den Schillingsacker, den seine Frau mit in die Ehe gebracht hatte. Claudius Terlinden errichtete darauf ein neues Verwaltungsgebäude seiner Firma. Vor vier Jahren ließen Tobias‘ Eltern sich scheiden. Rita ist aus Altenhain weggezogen und hat wieder ihren Mädchennamen Cramer angenommen.

Dass seine Eltern unter seiner Verurteilung büßen mussten, bedauert Tobias sehr. Schon am nächsten Tag beginnt er damit, den Hof aufzuräumen und das Gerümpel abtransportieren zu lassen.

Wer früher in den „Goldenen Hahn“ ging, sitzt jetzt im Gasthaus „Zum schwarzen Ross“. Es gehört Claudius Terlinden. Als Geschäftsführer fungiert Andreas Jagielski, der sich allerdings mehr um seine beiden Edelrestaurants in Frankfurt kümmert und im „Schwarzen Ross“ seine Ehefrau Jenny walten lässt.

Die siebzehnjährige Amelie Fröhlich arbeitet als Bedienung im „Schwarzen Ross“. Sie wuchs bei ihrer geschiedenen Mutter in Berlin auf, aber als diese sich durch die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Tochter überfordert fühlte, schickte sie Amelie vor einem halben Jahr zu ihrem Ex-Mann Arne Fröhlich nach Altenhain. Arne Fröhlich, der als Prokurist für Claudius Terlinden tätig ist, wohnt mit seiner zweiten Ehefrau Barbara sowie seinen Kindern Amelie, Tim und Jana in dem Haus, aus dem Albert und Beate Schneeberger nach Stefanies Verschwinden mit ihren beiden jüngeren Töchtern ausgezogen waren. Sie hatten es in Altenhain nicht mehr ausgehalten.

Als Kellnerin hört Amelie, wie die Leute über Tobias reden. Als sie ihm zum ersten Mal über den Weg läuft, weiß sie also, dass er zwei siebzehnjährige Mädchen ermordet haben soll. Trotzdem findet sie ihn sympathisch.

Fast jeden Tag steht eine neue Parole an der Wand der früheren Gaststätte „Zum goldenen Hahn“, so zum Beispiel: „HIER WOHNT EIN MÖRDERSCHWEIN“. Die Bürger von Altenhain verbergen ihre Feindseligkeit nicht, und an der Kasse des Supermarkts von Margot und Lutz Richter wird Tobias nur widerwillig abgefertigt.

Der Schüler Nico Bender beobachtet zufällig, wie ein Mann eine Frau über das Geländer der Fußgängerbrücke an der S-Bahn-Haltestelle Sulzbach-Nord auf die stark befahrene Limesspange wirft. Sieben Autos krachen ineinander. Der Fahrer des Wagens, gegen dessen Windschutzscheibe die Frau prallte, erliegt einem Herzinfarkt. Das Opfer wird mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Kreiskrankenhaus Bad Soden eingeliefert. Es dauert nicht lang, bis die Polizei herausfindet, dass es sich bei der im Koma liegenden Patientin um Tobias‘ Mutter Rita Cramer handelt.

Als Nadja ihren Jugendfreund zum ersten Mal mit in ihr Penthouse am Westhafen nimmt, staunt Tobias über die luxuriöse Einrichtung. Und er kann es zunächst kaum glauben, dass die mondäne Frau mit ihm schlafen möchte. Seit sie zusammen im Sandkasten spielten, war Nathalie zwar immer eine gute Freundin für ihn, aber er achtete gerade deshalb als Gymnasiast nicht auf ihre weiblichen Reize. Stattdessen fragte er sie um Rat, wenn er ein anderes Mädchen herumkriegen wollte. Mit der ersten gemeinsam im Bett verbrachten Nacht beginnt für sie beide eine stürmische Liebesbeziehung.

An dem Tag, an dem Tobias nach Altenhain zurückkam, stieß ein Baggerführer bei Abrissarbeiten auf dem ehemaligen Militärflugplatz bei Eschborn in einem leeren Treibstofftank auf ein menschliches Skelett. Die einundvierzigjährige Kriminaloberkommissarin Pia Kirchhoff vom Dezernat für Gewaltverbrechen bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim leitet die Ermittlungen. Die forensischen Untersuchungen ergeben, dass es sich um die sterblichen Überreste von Laura Wagner handelt. Pia fällt auf, dass Tobias die Leiche des Mädchens in dem aufgrund von Zeugenaussagen eingegrenzten Zeitfenster nicht von Altenhain nach Eschborn transportiert haben konnte. Weil sie an seiner Schuld zu zweifeln beginnt, lässt sie sich die Akten von damals kommen.

Sie übernimmt es selbst, den Eltern des toten Mädchens die Nachricht zu überbringen. Andrea Wagner ist verbittert. Während sich ihr Ehemann Manfred, der seine hübsche Tochter vergöttert hatte, seit deren Verschwinden jeden Tag bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt [Alkoholkrankheit] und seine Schreinerei vernachlässigt, hat sie sich seither um die Erziehung der beiden kleineren Schwestern von Laura gekümmert. Dass sie Laura 1997 beim Kopieren eines Flugblatts mit dem Text „SCHNEEWITTCHEN MUSS STERBEN“ ertappt hatte, verschweigt sie der Polizei nach wie vor. Als Pia nach dem kurzen Gespräch mit ihr die Werkstatt betritt, um auch Lauras Vater Bescheid zu sagen, erkennt sie in ihm den Mann auf dem Fahndungsfoto aus der Überwachungskamera an der S-Bahn-Haltestelle Sulzbach-Nord. Manfred Wagner leugnet nicht, sondern gesteht, Rita Cramer von der Brücke gestoßen zu haben. Aber es sei ein Unfall gewesen, beteuert er. Eigentlich habe er sie nur auffordern wollen, ihren Sohn aus Altenhain fortzuschicken, aber sie habe sich gewehrt und nach ihm geschlagen. Bei dem Handgemenge sei es passiert. – Manfred Wagner wird festgenommen.

Pia findet es bezeichnend, dass niemand in Altenhain den Mann auf dem Fahndungsfoto erkannt haben wollte. Die Dorfgemeinschaft hält zusammen.

Pias Chef, Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein, der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim, beteiligt sich an den Ermittlungen. Bei einer Dienstfahrt am 11. November in Frankfurt sieht er zufällig den Wagen seiner Frau Cosima vor sich. Als er sie anruft, sieht er, wie sie zum Handy greift, aber die Filmproduzentin behauptet, in Mainz am Schneidetisch zu stehen. Bodenstein begreift nicht, warum sie lügt. Dass sie ihn betrügt, kann er sich nicht vorstellen.

Oliver und Cosima von Bodenstein stammen beide aus vornehmen Familien. Vor zwei Tagen feierte Olivers Mutter Leonora Gräfin von Bodenstein ihren 70. Geburtstag. Bei diesem Familienfest sah er seinen jüngeren Bruder Quentin, der das Familiengut im Taunus weiterführt, seine Schwägerin Marie-Louise, die auf dem Anwesen ein Sterne-Restaurant betreibt und seine zwei Jahre ältere Schwester Theresa, die nach dem Tod ihres Mannes dessen heruntergewirtschaftete Kaffeerösterei in Hamburg sanierte, obwohl sie sich auch um ihre drei Kinder kümmern musste. Oliver und Cosima von Bodenstein sind seit zweieinhalb Jahrzehnten verheiratet. Sie haben einen Sohn namens Lorenz, der in Kürze seinen 25. Geburtstag und seine Verlobung mit Thordis, der Tochter der Tierärztin Inka Hansen, feiern wird. Ihre vier Jahre jüngere Tochter Rosalie macht gerade eine Lehre als Köchin bei Maître Jean-Yves St. Clair im Schlosshotel Kronberg. Im Dezember 2006, also vor knapp zwei Jahren, bekam Cosima von Bodenstein noch einmal ein Kind: Sophia Gabriela.

Claudius und Christine Terlinden haben zwei dreißigjährige Zwillingssöhne. Thies, einer der beiden, ist Autist und wohnt nach wie vor bei den Eltern. Claudius Terlinden ließ ihm in der zu einem Anwesen gehörenden Orangerie ein Atelier einrichten, denn Thies malt nicht nur gern, sondern auch mit großem Talent. Als Stefanie Schneeberger noch lebte, himmelte er sie an. Weil Amelie „Schneewittchen“ ähnlich sieht, ist es nicht verwunderlich, dass Thies ihre Nähe sucht. Die Siebzehnjährige mag ihn, verbringt viel Zeit mit ihm und gewinnt sein Vertrauen. Am 13. November bringt er ihr zusammengerollte Bilder. Amelie soll sie verstecken, niemandem etwas davon sagen und die Rolle auch selbst nicht öffnen. Er habe Schneewittchen nicht beschützen können, sagt er, werde aber auf sie besser aufpassen.

Amelie ist viel zu neugierig, um die Bilder unbesehen wegzuräumen. Es handelt sich um acht Gemälde in beinahe fotografischem Realismus, auf denen Thies offenbar festhielt, was er am 6. September 1997 auf dem Hof der Sartorius beobachtet hatte. Weil Amelie in Berlin schlechte Erfahrungen mit der Polizei sammelte, kommt es für sie nicht in Frage, sich an die nächste Polizeidienststelle zu wenden. Stattdessen will sie mit Tobias über die Bilder sprechen, die möglicherweise seine Unschuld beweisen.

Bevor sie dafür eine Gelegenheit findet, wird Tobias am Freitagabend (14. November) von drei Vermummten halb tot geschlagen. Als sein vor dem Fernsehgerät eingeschlafener Vater nach Mitternacht merkt, dass er noch nicht von den Aufräumarbeiten in der Scheune zurück ins Haus gekommen ist, schaut er nach und findet ihn. Noch in der Nacht versorgt die Nachbarin Dr. Daniela Lauterbach, die in Königstein eine gut gehende Arztpraxis hat, Tobias‘ Verletzungen. Die Polizei einzuschalten, halten sie alle für sinnlos.

Die achtundfünfzigjährige Ärztin ist mit dem zwanzig Jahre jüngeren hessischen Kultusminister Gregor Lauterbach verheiratet. Daniela finanzierte dem mittellosen Arbeitersohn das Studium, verschaffte ihm eine Stelle als Lehrer und ebnete durch ihre Beziehungen einen Weg in die Politik. Vor siebzehn Jahren ließ Daniela die Villa bauen, in der sie jetzt wohnen. Gregor hat ihr alles zu verdanken. Inzwischen schlafen sie schon lange nicht mehr miteinander. Stattdessen trifft Gregor Lauterbach sich dezent mit einer Geliebten in seiner Zweitwohnung in Idstein.

Am 14. November bekommt Gregor Lauterbach in seinem Büro einen anonymen Brief:

Wenn du weiter die Klappe hältst, wird nichts passieren. Wenn nicht, dann erfährt die Polizei, was du damals in der Scheune verloren hast, als du deine minderjährige Schülerin gevögelt hast. Liebe Grüße von Schneewittchen (Seite 173)

Beigefügt ist ein Foto des Schlüsselbundes, den er am 6. September 1997 in Hartmut Sartorius‘ Scheune verloren hatte. Offenbar gab es damals einen Zeugen oder eine Zeugin. Aber wer kann das sein? Die Angst des Ministers verstärkt sich, als in den nächsten Tagen weitere anonyme Botschaften eintreffen, unter anderem E-Mails von Schneewittchen1997@hotmail.com.

Am 15. November, einem Samstag, begegnen Amelie und Tobias sich am Waldrand. Die Siebzehnjährige erschrickt über seine Verletzungen, und nachdem er ihr von dem Überfall berichtet hat, weist sie ihn darauf hin, dass am Vorabend drei Männer zu spät zum Skatabend ins „Schwarzen Ross“ kamen: Felix Pietsch, der Sohn des Dachdeckermeisters Udo Pietsch und dessen Ehefrau Gerda, Michael Dombrowski, der Ehemann der Friseurin Inge Dombrowski und Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Altenhain, und der Automechaniker Jörg Richter, der Bruder der Wirtin Jenny Jagielski und Sohn der Ladenbesitzer Margot und Lutz Richter. Sind das die drei Männer, die Tobias zusammenschlugen? Amelie fängt gerade an, Tobias von den Bildern zu erzählen, die sie von Thies bekam, da taucht Nadja auf und funkelt Amelie eifersüchtig an. Die Siebzehnjährige nimmt ihren Rucksack und geht weiter. Tobias sagt seiner Geliebten, Amelie habe gerade etwas von Thies‘ Bildern und Kultusminister Gregor Lauterbach sagen wollen.

Etwas später an diesem Tag nimmt Thies Terlinden seine Vertraute mit in die Orangerie, öffnet eine Falltüre im Boden, steigt mit ihr hinab – und zeigt ihr dort die Mumie von Schneewittchen, auf die er seit elf Jahren aufpasst.

Während Nadja nach Hamburg fliegt, geht Tobias gegen 19 Uhr zu Jörg Richter, der ihn einlud, sich mit ihm, Felix Pietsch und einigen anderen Freunden von früher in der Garage seines Onkels zu treffen. Sie trinken Bier und Wodka mit Red Bull.

Am Sonntagmorgen wacht Tobias schwer verkatert auf. Daniela Lauterbach fand den Betrunkenen gegen halb zwei Uhr nachts, als sie von einem Noteinsatz zurückkam, an der Bushaltestelle bei der Kirche und brachte ihn nach Hause. Als Tobias erfährt, dass Amelie vermisst wird, kommt es ihm wie ein Déjà-vu vor: Wieder hat er einen Filmriss und weiß nicht, was er tat, während eine Siebzehnjährige verschwand.

Erneut fahren Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein nach Altenhain. Hartmut Sartorius behauptet, sein Sohn sei den ganzen Abend über mit ihm zusammen gewesen, aber Tobias bedankt sich für die gute Absicht, ihm ein Alibi zu verschaffen und sagt aus, er habe sich mit ein paar anderen Männern getroffen und sei schließlich so betrunken gewesen, dass er sich an nichts mehr erinnere. Außerdem erzählt er, dass Amelie Andeutungen über von Thies gemalte Bilder gemacht habe, auf denen offenbar Ereignisse vom 6. September 1997 dargestellt sind.

Als die Polizei später bei einer richterlich angeordneten Hausdurchsuchung Amelies Handy in einer Jeans von Tobias Sartorius findet, ist dieser nicht zu Hause. (Im Gegensatz zur Polizei wissen wir als Leser, dass er sich bei Nadja in Frankfurt aufhält.)

Seit dem Verschwinden Amelies ist Thies völlig verstört. Daniela Lauterbach veranlasst deshalb seine Einweisung in die psychiatrische Abteilung einer Klinik in Bad Soden.

Pia Kirchhoff ist inzwischen aufgefallen, dass in den Akten von 1997 die Vernehmungsprotokolle von Gregor Lauterbach fehlen. Vor ein paar Tagen waren sie noch da. Sie geht der Sache nach und findet schließlich heraus, dass ihr Kollege Andreas Hasse die Unterlagen wegnahm und vernichtete. Bei seiner Befragung gibt er an, er habe Gregor Lauterbach einen Gefallen tun wollen. Seine Ehefrau ist eine Cousine von Daniela Lauterbach.

Am 19. November erhält Barbara Fröhlich den Besuch einer Frau, die sich als Kriminaloberkommissarin Maren König von der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim ausweist und erklärt, die polizeilichen Ermittlungen hätten ergeben, dass Amelie Bilder von Thies Terlinden bekam, die möglicherweise bei der Suche nach ihr helfen können. Barbara Fröhlich führt die Besucherin in Amelies Zimmer, und tatsächlich findet sie die Bilder. – Bei der angeblichen Polizistin handelt es sich um Nadja. Zu Hause zerschneidet sie die Bilder und jagt die Schnipsel durch einen Reißwolf.

Im Zusammenhang mit dem Verschwinden Amelies wird auch Claudius Terlinden befragt, denn aufgrund von Zeugenaussagen weiß die Polizei, dass er das Mädchen mehrmals in seinem Auto mitnahm. Er habe am Samstagabend mit seiner Frau im Ebony Club in Frankfurt gegessen, behauptet er. Als Bodenstein das Alibi überprüfen will, entdeckt er an einem der Tische in dem Terlinden gehörenden Edelrestaurant seine Frau mit einem etwa zehn Jahre jüngeren Mann. Offensichtlich handelt es sich nicht um eine Geschäftsbesprechung. Ohne von den beiden bemerkt zu werden, verlässt Bodenstein die Gaststätte. Pia Kirchhoff hat im Auto gewartet, und weil ihr Chef völlig verstört ist, übernimmt sie die Befragung des Geschäftsführers Andreas Jagielski. Der bestätigt, dass das Ehepaar Terlinden am Samstagabend mit dem Ehepaar Lauterbach zusammen da war. Pia erkundigt sich auch gleich noch nach dem Namen von Cosima von Bodensteins Begleiter. Es handelt sich um den russischen Polarforscher und Bergsteiger Alexander Gavrilow.

Als Bodenstein am Abend seiner Frau berichtet, er habe sie im Club Ebony mit Alexander Gavrilow gesehen, gibt sie zu, seit einiger Zeit mit dem Forscher ein Verhältnis zu haben. Daraufhin verlässt Bodenstein das Haus in Kelkheim, das mit Cosimas Geld finanziert worden war, und sucht Zuflucht bei seinen Eltern. Für ihn ist eine Welt zusammengebrochen.

Am 21. November wird Thies Terlindens Zwillingsbruder Lars auf einem Waldparkplatz im Taunus tot aufgefunden. Offenbar hatte er sich mit den Auspuffgasen seines Ferrari vergiftet. Lars Terlinden – damals Tobias Sartorius‘ bester Freund – war nach dem Verschwinden von Laura Wagner und Stefanie Schneeberger im September 1997 von seinem Vater zum Studium nach Oxfordshire geschickt worden. Mit seinen Eltern wollte er seit damals nichts mehr zu tun haben. Vor zwei Jahren gab der Investment Banker seinen Job bei einer Bank in London auf und wechselte in eine noch höher bezahlte Stelle in der Frankfurter Niederlassung einer Schweizer Großbank. In seiner Villa in Glashütten hinterlässt der Dreißigjährige eine Frau und zwei Kinder.

Tobias erhält unerwartet einen Brief, den Lars Terlinden unmittelbar vor seinem Suizid geschrieben haben muss. Er habe es nicht länger ertragen, seinen besten Freund verraten zu haben, heißt es darin.

Ich habe auf meinen Vater gehört und geschwiegen, selbst dann noch, als klar war, dass man dich verurteilen würde. Ich bin damals in eine falsche Richtung abgebogen, die mich direkt in die Hölle geführt hat. Ich war seitdem nie mehr glücklich. Verzeih mir, Tobi, wenn du kannst. Ich kann mir nicht verzeihen. (Seite 360)

Während der Beisetzung der Gebeine von Laura Wagner am 21. November brennt die Orangerie mit Thies‘ Atelier auf dem Anwesen der Terlindens nieder. Die Feuerwehr stößt auf Brandverstärker. Während der Löscharbeiten entziffert Bodensteins Mitarbeiter Kai Ostermann in Amelies verschlüsselt geschriebenem Tagebuch eine Notiz über einen Keller unter der Orangerie. Bodenstein und Pia Kirchhoff, die das Schlimmste befürchten, stoßen in der Ruine auf eine Falltür. Im unterirdischen Bunker finden sie eine mumifizierte Leiche. „Schneewittchen“, vermutet Pia.

Nadja überredet Tobias, mit ihr in die Schweiz zu fahren. Sie besitzt eine Berghütte im Tessin. Dort verstecken sie sich vor der Polizei.

Felix Pietsch, Jörg Richter und Michael Dombroski werden mit Fotos konfrontiert, die Amelie mit ihrem Handy von Thies Bildern knipste. Außer sich selbst erkennen die drei Männer Laura Wagner und Stefanie Schneeberger, Nathalie Unger bzw. Nadja von Bredow, Lars Terlinden und Gregor Lauterbach.

Am frühen Morgen des 22. November fällt einer Krankenschwester auf, dass Thies Terlinden nicht mehr da ist. (Als Leser wissen wir, dass er in dasselbe Kellerloch gesperrt worden ist, in dem auch Amelie gefangen gehalten wird.)

An diesem Tag meldet sich Gregor Lauterbach, der vorübergehend abgetaucht war, bei der Polizei in Hofheim. Begleitet wird er von dem Prominenten-Anwalt Dr. Anders. Er habe sich am 6. September 1997 mit Stefanie Schneeberger in der Scheune des Hofes der Familie Sartorius nur getroffen, um seiner Schülerin klarzumachen, dass er sich nicht von ihr verführen lasse, behauptet er. Schließlich gibt er doch zu, sich an der Siebzehnjährigen vergangen zu haben. Im weiteren Verlauf der Vernehmung sagt er aus, er sei am Abend von Amelies Verschwinden nach dem Essen im Club Ebony mit Claudius Terlinden zu dessen Firma gefahren. Dort habe der Unternehmer brisante Unterlagen über Bestechungen und illegale Geschäfte zusammengesucht, weil er im Zusammenhang mit den polizeilichen Ermittlungen in den elf Jahre alten Mordfällen und im Fall der vermissten Amelie Fröhlich mit einer Durchsuchung rechnen musste. Noch in der Nacht brachten sie die Dokumente nach Idstein und versteckten sie in Lauterbachs Zweitwohnung.

Bodenstein fährt noch einmal nach Altenhain. Dort lernt er Christine Terlindens Schwester Heidi Brückner kennen. Sie vertraut ihm unter vier Augen an, sie habe ihren Schwager vor vierzehn Jahren mit der damals erst vierzehn Jahre alten Laura in flagranti ertappt. Lars sei zufällig dazugekommen. Dass Claudius Terlinden heimlich Sex mit Lauras Mutter Andrea hatte, die als Haushälterin angestellt war, wusste Heidi Brückner ohnehin. Als sie ihre Schwester über den Missbrauch des Kindes aufklären wollte, beschimpfte Christine sie als neidische Lügnerin. Seither sahen sie sich nicht mehr, bis Heidi Brückner nun aufgrund der jüngsten Vorfälle nach Altenhain kam. Sie zeigt Bodenstein außerdem ein von Daniela Lauterbach ausgestelltes Rezept, aus dem hervorgeht, dass Thies mit einer Vielzahl von Arzneimitteln vollgepumpt wird.

Am Institut für Rechtsmedizin in Frankfurt wird Bodensteins Verdacht bestätigt: Es handelt sich um Psychopharmaka mit teilweise bewusstseinsverändernden, amnestischen Wirkungen, die sich gegenseitig verstärken und im Fall eines Autismus kontraindiziert sind.

Albert Schneeberger berichtet Bodenstein bei einer Befragung am 22. November, Wilhelm Terlinden, der ältere Bruder von Claudius Terlinden, sei ein Kommilitone und langjähriger Geschäftspartner von ihm gewesen. Erst nach dem Tod Wilhelms habe er Claudius kennengelernt. Schneeberger hielt ihn bald für einen Freund und mietete ein Haus in Altenhain von ihm. Als er jedoch nach dem Verschwinden seiner Tochter Stefanie vor Verzweiflung nicht mehr klar denken konnte, nutzte Claudius Terlinden die Situation skrupellos aus, um ihm seine Firma abzujagen.

Am 23. November meldet ein auf Nadja von Bredows Wohnung in Frankfurt angesetztes Überwachungsteam die Rückkehr der Schauspielerin. Eigentlich will sie nur einen Koffer umpacken und gleich weiter nach Hamburg, aber Pia Kirchhoff verhaftet sie.

Als Kathrin Fachinger Jörg Richter im Haus seiner Eltern festnehmen will, schießt sich dessen Vater in den Kopf. Schwer verletzt wird Lutz Richter ins Krankenhaus gebracht.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Die Ermittlungen und Vernehmungen ergeben folgendes Bild: Nachdem Tobias Sartorius seine Freundin Laura Wagner wegen Stefanie Schneeberger sitzen ließ, war sie so wütend, dass sie bei der Kerb am 6. September 1997 mit allen Männern flirtete. Jörg Richter und Felix Pietsch, die Laura auch angemacht hatte, vergewaltigten sie spätabends in der Scheune des Hofes der Familie Sartorius. Als es ihr endlich gelang, davonzurennen, stieß sie mit Lars Terlinden zusammen, stürzte mit dem Kopf auf einen Stein und blieb leblos liegen. Nadja, die auch auf dem Hof war, riet den Vergewaltigern, die vermeintlich Tote fortzuschaffen. Während Lars weglief, zerrten die anderen jungen Männer den schlaffen Körper in den Kofferraum von Tobias‘ Auto. Der Schlüssel steckte. Sie fuhren zum ehemaligen Militärflugplatz bei Eschborn und warfen Laura in einen leeren Treibstofftank, obwohl sie wieder zu sich kam. Zu Hause ertrug Jörg Richter die Erinnerung an die um ihr Leben bettelnde Laura nicht. Er wollte sie retten, aber sein Vater hielt ihn davon ab, fuhr an seiner Stelle nach Eschborn, zog eine Platte über den Bodentank und schaufelte Erde darüber.

Nadja war auf dem Hof der Familie Sartorius allein zurückgeblieben. Gregor Lauterbach tauchte auf und trieb es mit Stefanie Schneeberger im Heu. Die beiden hatten schon seit einigen Monaten eine heimliche Affäre, von der Tobias nichts ahnte. Nach dem Orgasmus merkte Lauterbach, dass er seinen Schlüsselbund verloren hatte und begann fieberhaft danach zu suchen. Stefanie machte sich über seine Panik lustig, aber der Lehrer verstand in dieser Lage keinen Spaß: Der Streit eskalierte in Handgreiflichkeiten. Wütend packte Lauterbach einen herumliegenden Wagenheber und erschlug Stefanie damit. Dann rannte er nach Hause. Bevor Nadja den Hof ebenfalls verließ, hob sie den blutigen Wagenheber auf und warf ihn bei den Lauterbachs in die Mülltonne. Obwohl sie wusste, dass Tobias unschuldig war, ließ sie es zu, dass ihm der Prozess gemacht wurde. Sie war wütend auf ihn, weil er blind für ihre weiblichen Reize und ihre Gefühle für ihn war. – Nadja gibt auch zu, Lauterbach die anonymen Drohungen geschickt zu haben. Wo Tobias ist, verrät sie nicht.

Mit Nadjas Aussage konfrontiert, gesteht Gregor Lauterbach, Stefanie Schneeberger erschlagen zu haben. Den Wagenheber fand seine Frau in der Mülltonne. Statt auf sie zu hören und das Mordwerkzeug im Wald zu vergraben, warf er es in die Jauchegrube der Nachbarn.

Claudius Terlinden hat mit den Tötungsdelikten zwar nichts zu tun, und dass er die Lage verzweifelter Menschen skrupellos ausnutzte, um sich Vorteile zu verschaffen, ist nicht justiziabel, aber er wird sich aufgrund von Lauterbachs Aussage wegen mehrerer Wirtschaftsstrafsachen vor Gericht verantworten müssen.

Am nächsten Tag (24. November) meldet Tobias sich telefonisch bei seinem Vater. Er liegt vorübergehend in einem Schweizer Krankenhaus. Als er in der Berghütte nach dem Sex mit Nadja erwähnte, dass er sich Sorgen um Amelie mache, rastete sie völlig aus und schlug mit einem Schürhaken nach ihm. Kurz darauf fuhr sie mit dem Auto fort und ließ ihn allein zurück. Er trug nur Turnschuhe, kämpfte sich aber durch den Schnee zum nächsten Dorf im Tal.

Daniela Lauterbach ist verschwunden, und es sieht so aus, als habe sie Thies aus der Klinik entführt. Die für sie tätige Arzthelferin Waltraud Wiesmeier weiß auch nicht, wo ihre Chefin sein könnte, aber sie weist darauf hin, dass die Ärztin letzte Woche alle Besichtigungstermine für eine leer stehende Villa absagte, die sie eigentlich hatte verkaufen wollen.

Sofort fahren Bodenstein und Pia Kirchhoff hin. Es scheint niemand da zu sein, doch als sie sich im Gebäude umsehen, hören sie Wasser rauschen. Und im bereits beinahe bis zur Decke gefluteten Keller finden sie Amelie und Thies. Amelie ist bei Bewusstsein, aber der Autist, dessen Kopf das Mädchen die ganze Zeit über den Wasserspiegel gehalten hat, befindet sich aufgrund des abrupten Medikamentenentzugs in einem kritischen Zustand.

Als Bodenstein und Pia Kirchhoff abends zum Kreiskrankenhaus Bad Soden fahren, um nach Amelie und Thies zu sehen, treffen sie im Foyer unerwartet auf Hartmut und Tobias Sartorius und erfahren, dass Rita Cramer aus dem Koma erwacht ist. Die beiden Männer besuchten sie gerade. Während sie noch zusammenstehen, betreten die Ehepaare Fröhlich und Terlinden das Gebäude. Mit einem Wutschrei stürzt Hartmut Sartorius sich auf Claudius Terlinden. Der Unternehmer stößt ihn zurück. Der Angreifer stürzt mit dem Kopf so unglücklich gegen die Kante einer offenstehenden Feuerschutztüre, dass jede Hilfe für ihn zu spät kommt.

Tobias starrt nicht lange auf seinen toten Vater. Er läuft zu Amelie und verlässt mit ihr unbemerkt das Krankenhaus. Nach dem Tod seines Vaters ist er der Letzte, der das Geheimnis von Claudius Terlinden und Daniela Lauterbach kennt. Er war sieben Jahre alt, als er im Nebenraum des „Goldenen Hahn“ ein Gespräch Terlindens mit Dr. Herbert Fuchsberger belauschte, bei dem auch sein Vater anwesend war. Claudius Terlinden bot dem angetrunkenen greisen Notar 100 000 Mark für das Testament, das sein unlängst verstorbener Bruder Wilhelm wenige Tage vor seinem Tod hinterlegt hatte. Weil Fuchsberger nicht mit Terlinden zusammen gesehen werden wollte, nahm er den Wirt mit in seine Kanzlei und übergab ihm das Testament. Hartmut Sartorius sollte es vernichten, aber stattdessen hob er es auf. Wilhelm Terlinden, Daniela Lauterbachs erster Ehemann, hatte herausgefunden, dass er seit längerer Zeit von seiner Frau mit seinem jüngeren Bruder betrogen worden war. Deshalb hatte er die beiden in einem notariell beglaubigten Testament vom 25. April 1985 enterbt und als Alleinerbin Rita Cramer bestimmt, die Tochter seines Chauffeurs Kurt Cramer, die sein Bruder 1976 geschwängert und dann zur Abtreibung gezwungen hatte. Hartmut Sartorius wagte es nicht, mit dem Testament gegen den einflussreichen Unternehmer und die Ehefrau des hessischen Kultusministers vorzugehen, aber Tobias ist jetzt entschlossen, seiner Mutter zu ihrem Recht zu verhelfen.

Claudius Terlinden will nur noch ein paar Sachen aus dem Büro holen, als Tobias und Amelie ihn finden. Daniela Lauterbach ist bei ihm und drängt zum Aufbruch, weil zu befürchten ist, dass der starke Schneefall den Flugverkehr auf dem Rhein-Main-Airport über kurz oder lang unterbrechen wird. Sie wollen sich nach Neuseeland absetzen. An einem Telefon in der Buchhaltung wählt Tobias die Notrufnummer. Um das Verbrecherpaar aufzuhalten, bis die Polizei kommt, stellt er sich den beiden in den Weg und spricht sie auf das unterschlagene Testament an. Plötzlich packt Daniela Lauterbach die Waffe, die Terlinden bei sich hat, und schießt Tobias nieder.

Polizeifahrzeuge blockieren die Ausfahrt des Firmengeländes. Zunächst sieht es so aus, als befände sich Terlinden allein im Auto, aber dann sehen Bodenstein und Pia Kirchhoff, dass Daniela Lauterbach hinter ihm sitzt und ihm den Lauf der Pistole an den Kopf drückt. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Weg freizugeben. Terlinden rast Richtung Innenstadt Frankfurt. Die Zahl der ihn verfolgenden Polizeifahrzeuge vergrößert sich von Minute zu Minute, aber für kurze Zeit gelingt es ihm, seine Verfolger abzuschütteln. Erst als ihm auf der Isenburger Schneise ein Hinterreifen platzt, gibt er auf. Aber er ist allein! Die mit einer Pistole bewaffnete Ärztin habe ihn in ihre Gewalt gebracht und gezwungen, sie am Hauptbahnhof aussteigen zu lassen, behauptet er. Pia Kirchhoff durchschaut die Lüge, und schließlich gibt Terlinden an, Daniela Lauterbach sei auf dem Weg zum Flughafen und wolle sich nach São Paulo absetzen.

Während Terlinden festgenommen wird, eilt Bodenstein zum Airport. Im letzten Augenblick findet er Daniela Lauterbach, und zwar nicht am Gate einer Maschine nach Südamerika, sondern für einen Flug nach Australien.

Sein Sohn Thies habe gesehen, wie sein Idol „Schneewittchen“ von Gregor Lauterbach erschlagen wurde, gibt Claudius Terlinden zu Protokoll. Der damalige Lehrer lief zu seinem Haus, und nachdem Daniela erfahren hatte, was geschehen war, rief sie ihren Nachbarn und zeitweiligen Liebhaber Terlinden an. Sie trafen sich vor der Scheune. Thies hockte neben der Toten am Boden. Terlinden und Daniela Lauterbach zerrten die Leiche in den Bunker unter der Orangerie. Die Ärztin erklärte Thies, er müsse auf Schneewittchen aufpassen und dürfe mit niemandem darüber reden. Andernfalls werde er für den Rest seines Lebens in ein Heim gesperrt.

Claudius Terlinden war an dem Abend nicht entgangen, dass Nadja sich in der Scheune versteckt hatte. Über einen Freund verschaffte er ihr einen Kontakt zum Fernsehen, und sie versprach zu schweigen.

Tobias wird die Schussverletzung überleben.

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In dem Kriminalroman „Schneewittchen muss sterben“ erzählt Nele Neuhaus, wie durch einen Justizirrtum und die Intoleranz von Dorfbewohnern das Leben eines jungen Mannes und seiner Eltern ruiniert wird. Aber auch die Familien der beiden vermissten Mädchen, deren Ermordung man ihm zur Last legt, haben schwer zu leiden. Zugleich geht es um einen skrupellosen Unternehmer und noch eine ganze Reihe weiterer Figuren, die alle farbig dargestellt und in die komplexen Vorgänge eingebunden werden. An mehreren Stellen der Handlung knüpft Nele Neuhaus an ihre früheren Bücher an, ohne allerdings Vorkenntnisse vorauszusetzen. Dass sie sich auch für die Ermittler Geschichten ausgedacht hat, ist zwar nicht neu, aber Nele Neuhaus geht dabei weit über das Übliche hinaus. Die Hauptlast der Ermittlungen trägt diesmal nicht Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein, sondern seine Mitarbeiterin Pia Kirchhoff. Überhaupt sind die Frauen in „Schneewittchen muss sterben“ mit wenigen Ausnahmen deutlich stärker als die Männer.

Mit überbordender Fabulierlaune hat Nele Neuhaus sich Tausende von Einzelheiten ausgedacht, aus denen sie souverän eine komplexe Geschichte entwickelt. Als auktoriale Erzählerin springt sie alle paar Seiten von einem Schauplatz zum nächsten. Dabei greifen die Rädchen präzise wie bei einem Uhrwerk ineinander, auch wenn ein paar Einzelheiten unplausibel sind.

Die Kapitel sind in bewährter Manier mit Datumsangaben vom 6. bis 26. November 2008 überschrieben, aber diese chronologische Gliederung bezieht sich nur auf das aktuelle Geschehen; die entscheidenden Ereignisse werden Stück für Stück in Rückblenden dargestellt. Nele Neuhaus baut die Spannung von der ersten Seite an auf und hält sie bis zur letzten durch. Dazu tragen nicht nur Cliffhanger bei, sondern auch raffinierte Winkelzüge, etwa wenn die Autorin in mehreren Etappen schildert, wie die siebzehnjährige Amelie Fröhlich durch die Falltüre im Boden einer Orangerie in einen unterirdischen Raum hinuntersteigt, dann in einem Kellerloch gefangen gehalten wird und schließlich die Orangerie niederbrennt. In diesem Zusammenhang variiert Nele Neuhaus zweimal den ersten Satz des Romans und schafft ein ansprechendes Stilelement.

Die rostige Eisentreppe war schmal und führte steil nach unten. Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter […] (Seite 7)

Amelie betrat die schmale, rostige Eisentreppe, die steil nach unten ins Dunkel führte. Thies schloss die Luke über sich, Sekunden später flammte schwach eine Glühbirne auf. (Seite 209)

Die rostige Eisentreppe war schmal und führte steil nach unten. Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Sekunden später tauchte die 25-Watt-Birne den kleinen Raum in schummeriges Licht. (Seite 367)

Zu einem besonderen Lesevergnügen wird „Schneewittchen muss sterben“ auch, weil Nele Neuhaus die Auflösung nicht geballt am Ende präsentiert, sondern die Zusammenhänge Zug um Zug über die letzten hundertfünfzig Seiten hinweg aufdeckt, nicht ohne auch noch eine zusätzliche Wendung einzubauen.

Einige bei der Lektorierung übersehene Sprachschludrigkeiten, Denk- und Grammatikfehler beeinträchtigen den Lesespaß ein wenig. Da wird zum Beispiel ein Feuer angezündet (Seite 197), der Plural von Schott heißt hier „Schotts“ (statt Schotte bzw. Schotten, Seite 496), und es ist von „der anderen Hälfte der Erdhalbkugel“ die Rede (Seite 501). Auch der folgende Satz wäre in einem Schulaufsatz rot angestrichen worden:

Morgen um 15:30 Uhr hatte sie mit dem Bauamt der Stadt Frankfurt einen Ortstermin auf dem Birkenhof. (Seite 430)

Zwar fehlerfrei, aber stilistisch missglückt ist dieser Halbsatz:

[…] nachdem er wochenlang tief gekränkt und voller Selbstmitleid in einem Tal der Tränen herumgekrebst war. (Seite 473)

Den Kriminalroman „Schneewittchen muss sterben“ von Nele Neuhaus gibt es auch in einer gekürzten Version als Hörbuch, gelesen von Julia Nachtmann (Hamburg 2011, ISBN 978-3869090610).

Manfred Stelzer verfilmte den Roman von Nele Neuhaus fürs Fernsehen. Der Film „Schneewittchen muss sterben“ war am 25. Februar 2013 erstmals im ZDF zu sehen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 / 2013
Textauszüge: © Ullstein Buchverlage

Manfred Stelzer: Schneewittchen muss sterben

Nele Neuhaus: Eine unbeliebte Frau (Verfilmung)
Nele Neuhaus: Mordsfreunde
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Nele Neuhaus: Die Lebenden und die Toten
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Nele Neuhaus: In ewiger Freundschaft

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