B. S. Johnson : Albert Angelo

Albert Angelo
Originalausgabe: Albert Angelo Constable & Co, London 1964 Albert Angelo Übersetzung: Regina Rawlinson Nachwort: Cordelia Borchardt Argon Verlag, Berlin 2003 ISBN 3-87024-562-X, 232 Seiten Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN 978-3-596-15890-4
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 28-jährige Architekt Albert Angelo schlägt sich seit drei Jahren in London als Aushilfslehrer durch. Seine Geliebte Jenny verließ ihn vor 4½ Jahren wegen eines Krüppels. Vergeblich versucht er, den Schülerinnen und Schülern ein Minimum an Bildung zu vermitteln. In Schulaufsätzen mit zahlreichen Grammatik- und Orthografiefehlern reagieren sie ihren Hass auf ihn ab, und fünf Schüler in Springerstiefeln üben auf dem Pausenhof das Zähneeintreten ...
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Kritik

"Albert Angelo" ist eine originelle Satire von B. S. Johnson auf die Gesellschaft. Das Lesevergnügen resultiert hier nicht aus einer spannenden Geschichte, sondern aus der eigenwilligen Art der Darstellung, einer Art Collage.
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Albert Angelo – eigentlich heißt er Albert Albert – ist Architekt, doch weil sich niemand für seine ungewöhnlichen Ideen interessiert, schlägt er sich seit drei Jahren als Aushilfslehrer in London durch. Inzwischen ist er achtundzwanzig, und seine Mutter macht sich wegen seines beruflichen Misserfolges Sorgen.

Ich denke zumindest, dass sie meine Eltern sind, ja. Sie haben mir immer gesagt, dass sie meine Eltern sind, mein Vater und meine Mutter, keine Widersprüchlichkeiten ihrerseits. (Seite 21)

In diesem Haus, in meiner Eltern Haus, in meiner Eltern Heim, wird jedes Gefühl der Zuneigung über den Hund zum Ausdruck gebracht. Niemand ist zu einem anderen liebevoll, es sei denn durch den Hund. (Seite 25)

Jenny, die er zu Beginn seines Studiums an der Universität als neunzehnjährige Kommilitonin kennen gelernt hatte, verließ ihn vor viereinhalb Jahren wegen eines Krüppels, von dem sie annahm, dass er sie dringender als Albert Angelo benötigte. Der denkt noch immer jeden Tag an sie.

Etwa zu der Zeit, als Albert in den Londoner Stadtteil The Angel zog, wurde sein Freund Terry von seiner Ehefrau Janine verlassen; er wohnt jetzt wieder bei seinen Eltern in London-Clerkenwell.

Beim Anblick eines Wasserhahns in einer Kneipe kommt Albert Angelo ins Grübeln.

Ein Wasserhahn tropfte im Spülbecken hinter der Theke. Albert dachte mit Ehrfurcht an die gewaltigen Wassermassen hinter dem Hahn: Meilen von Rohren und Leitungen, Reservoirs, Flüsse, Regen. Er stellte sich vor, mit welchem Staunen ein afrikanischer Einwanderer die Wasserversorgung betrachten müsste: „Es kommt durch Rohre, du musst bloß so einen Hahn aufdrehen, Mann. Und das Wasser ist dasselbe, was die Königin trinkt. Wenn ich so einen Hahn aufdrehe, Mann, dann bin ich an dasselbe Wasser angeschlossen, das sie nimmt. Und die Abwasserkanäle, Mann, die sind auch miteinander verbunden, sie hat keine eigenen Abwasserkanäle, die sind alle verbunden, Seite an Seite kommen meine und ihre bei Barking Creek raus. So was nennt man eben Demokratie, Mann.“ (Seite 158f)

Einmal lädt Albert Angelo seine Kollegen von der Schule ein.

Sie [die Sportlehrerin Marlene Crossthwaite] ist doch wirklich eine alte Kuh, erst bleibt sie noch, als die anderen gehen, damit es so aussieht, als ob sie mit mir schläft, und dann läuft nichts. (Seite 124f)

Ich hasse diese Frauen, die mich nur zum Teil wollen. Da biete ich mich ihr zur Gänze an, und sie sagt, ja, ich nehme den Gesprächsteil und den Zusammenseinteil, aber nicht den Bettteil und noch nicht einmal den Händeaufmeinengroßentittenteil. Ich hasse Leute, die nur in Teilen leben. Ich bin ein Allesodernichtser. Was für gewöhnlich auf nichts hinausläuft. (Seite 126)

Vergeblich versucht Albert Angelo, seinen Schülerinnen und Schülern etwas beizubringen, sie beispielsweise zum Nachdenken über Gott anzuregen.

All diese Fragen drehen sich eigentlich darum, was für eine Art von Gott er wohl ist, wenn man wie wir davon ausgeht, dass es ihn wirklich gibt […] Gibt es einen Grund anzunehmen, dass er nicht zum Beispiel auch ein schlechter Gott sein kann, ein böser Gott, denn schließlich hat er doch alles Böse auf der Welt geschaffen? Meint ihr, er hat vielleicht bei der Erschaffung der Welt gepfuscht und die schlimmen Dinge sind Fehler, die er nicht mehr ausbügeln konnte? […] Was wäre, wenn er plötzlich erkannt hätte, dass ihm das Ganze über den Kopf gewachsen war, und er die Welt als Fehlschlag – oder als schlechten Witz – abgehakt und versucht hätte, es anderswo besser zu machen? (Seite 68)

In manchen Klassen sitzen so viele Zyprioten, „dass das Klassenbuch wie das Rollenverzeichnis einer griechischen Tragödie aussieht“ (Seite 162). Weil die ausländischen Kinder kaum englisch verstehen, geschweige denn sprechen, fällt es Albert Angelo nicht leicht, mit der Klasse zu kommunizieren.

Man sieht, dass das Kollegium aus Verlierern besteht. (Seite 157)

Eine Schülerin legt ihm kommentarlos einen Zeitungsausschnitt aufs Pult. Die Schlagzeile lautet: „Tätigkeit an Vandalenschule treibt Lehrer in den Selbstmord„. Es geht um den Lehrer, den Albert Angelo gerade vertritt, weil er den Gashahn aufdrehte und sich das Leben nahm. In einer der nächsten Unterrichtsstunden wird Albert eröffnet, dass die Schülerinnen und Schüler beschlossen haben, Geld zusammenzulegen und ihm einen Gasherd zu kaufen.

Sie wachsen dir allmählich über den Kopf. Du musst hart durchgreifen. Du schlägst einen von ihnen. Ausgerechnet den hättest du nicht schlagen sollen: Er hat etwas am Ohr, lassen dich die anderen im Chor wissen, und du hast ihn aufs Ohr geschlagen. (Seite 55)

Immer wieder bringt das Jugendamt irgendwo aufgegriffene Mädchen in die Schule zurück. Der Schüler Jackie Wool schwänzt ständig. Schließlich erwischt man ihn in einer der nobleren Bedürfnisanstalten im Westend, wo er Freier suchte, und er kommt daraufhin in ein Erziehungsheim.

Fünf Springerstiefel tragende Schüler, die sich als Bande „Corps“ nennen, üben auf dem Pausenhof Zähneeintreten im Gleichschritt.

Albert Angelo lässt die Klasse einen Aufsatz schreiben; die Schüler sollen zu Papier bringen, was sie von ihm halten. In den Aufsätzen, in denen es vor Grammatik- und Orthografiefehlern wimmelt, heißt es dann zum Beispiel:

Albert Schweinebacke (Seite 190)

Ich finde Mr Allbert ist ein dicker fetter vollgefressener Blödian, und er bringt uns Überhauptnichts bei. (Seite 196)

Ich finde, er ist eine fette, schwabbelnde eingebildete Flasche.
UND WIE!!!!!!!! (Seite 198)

B. S. Johnson beendet seinen Roman mit einer „Koda“:

Nacht. Eine Fünfergruppe marschierte Richtung Westen durch die Vincent Terrace am Kanal entlang. Albert ging auf der Colebrook Rowe Richtung Süden quer über die Kanaltunnelöffnung.
„Da ist Albie.“
„Aus Angel. So, so.“
„Ja, ja!“
„Albert Angelo.“
„Meine Familie?“
„Und! – Eins! Zwei!       Drei!“
„Meine! Fami! Lieeeee!“
„Ouuuuff!“
„Von der Königin genagelt, der Scheißkerl!“
„Sir! Sir!       Sir!“
„Und! – Hoch!“
„Und rüber!“
„Ab geht die Post, Albert Fettschwein.“
Kaum ein Spritzer. (Seite 221)

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Der gescheiterte Architekt Alberto Angelo erfährt als Aushilfslehrer, dass es unmöglich ist, den Schülern eine ausreichende Bildung zu vermitteln. Am Ende fällt er gewalttätigen Schülern zum Opfer.

Und die Schule ist schließlich ein Mikrokosmos der gesamten Gesellschaft. (Seite 163)

„Albert Angelo“ ist eine maliziöse Satire auf die Gesellschaft.

Wie B. S. Johnson betont, besteht der anarchische Roman aus fünf Teilen: Prolog, Exposition, Durchführung, Auflösung und Koda – aber bei dieser Gliederung handelt es sich um einen Witz. Bei „Albert Angelo“ resultiert das Lesevergnügen nicht aus einer spannenden Geschichte, sondern aus der originellen Art der Darstellung. Der Roman ist eine Collage aus konventionell erzählten Passagen, zwischen Dreiecken gesetzten Figurenbeschreibungen, Dialogen wie bei einem Theaterstück, Abbildungen der Vorder- und der Rückseite des Werbezettels einer Wahrsagerin, Zitaten, Schüleraufsätzen. Eine Schulstunde inszeniert B. S. Johnson zweispaltig, sozusagen wie mit der Split-Screen-Technik im Kino: Links lesen wir das Unterrichtsgespräch und rechts Albert Angelos parallele Gedanken. Dadurch erleben wir die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, Denken und Reden. Aus den Seiten 183 bis 188 wurde eine rechteckige Fläche ausgestanzt, sodass wir bereits im Voraus drei Zeilen eines Zitats von Christopher Marlowe auf Seite 189 lesen können:

entrang ihm das Messer und versetzte ihm eine tödliche Wunde über dem rechten Auge (wobei die Klinge zwei Zoll tief eindrang), an welcher er augenblicklich verstarb.

Dazu schreibt B. S. Johnson in der „Auflösung“:

Ein Roman muss Medium der Wahrheitsvermittlung sein, und zu diesem Zweck sollte der Schriftsteller über jedes Mittel und jede Technik der Buchdruckerkunst verfügen dürfen: deshalb zum Beispiel auch die Zukunftsgucklöcher, die sowohl auf die Möglichkeiten des Romans aufmerksam machen als auch meine Auffassung über Tod und Dichtung veranschaulichen.
– Eine Buchseite ist eine Fläche, auf der ich alle Zeichen unterbringen darf, von denen ich annehme, dass sie dem am nächsten kommen, was ich zum Ausdruck bringen will: deshalb bediene ich mich, soweit es der Geldbeutel meines Verlegers und die Langmut meines Druckers erlauben, typografischer Techniken, die weit über die willkürlichen, engen Grenzen des konventionellen Romans hinausgehen. Solche Techniken als bloße Spielereien abzutun, oder sich nicht ernsthaft mit ihnen auseinander zu setzen, würde bedeuten, meine Auffassung gründlich misszuverstehen. (Seite 217)

Vieles an dem bisher Erzählten sei nicht wahr, behauptet B. S. Johnson in der „Aufklärung“, beispielsweise heiße Jenny in Wirklichkeit Muriel, und bei ihrem Liebhaber handele es sich nicht um einen Krüppel, sondern um einen Epileptiker.

ich versuche etwas über mich durch ihn zu sagen albert einen architekten indem was für einen sinn hat das verstecken das verstecken das zudecken das vorgeben vorzugeben (Seite 205)

Ich versuche etwas auszusagen nicht eine Geschichte zu erzählen Geschichten erzählen heißt Lügen erzählen und ich will die Wahrheit erzählen über mich über meine Erfahrung über meine Wahrheit über meine Wahrheit im Verhältnis zur Wirklichkeit (Seite 205)

In der „Koda“ erfüllt sich dann, was wir bereits durch das „Zukunftsguckloch“ auf Seite 183 gesehen haben: Albert Angelo, die Erzählerfigur in der „Exposition“ und in der „Durchführung“, wird ermordet.

Bryan Stanley Johnson wurde am 5. Februar 1933 in London als Sohn eines Lagerarbeiters und einer Bardame geboren. Mit sechzehn brach er die Schule ab und fing als Büroangestellter zu arbeiten an. Einige Zeit später holte er das Versäumte autodidaktisch nach, bestand die Aufnahmeprüfung für das King’s College in London und studierte Englisch.

Danach war Bryan Stanley Johnson Dozent für Englisch und Literaturredakteur in London. Er schrieb fünf Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Drehbücher, Gedichte und drehte Filme.

Als Schriftsteller stand Bryan Stanley Johnson „völlig quer zu dem, was sonst zu dieser Zeit produziert und gelesen“ wurde (Cordelia Borchardt im Nachwort zu „Albert Angelo“, Seite 226).

Der englische Exzentriker und würdige Erbe von Laurence Sterne zeigt in seinen Romanen, wie vergnüglich Erzählkonventionen gebrochen werden können. (Jörg Plath, Süddeutsche Zeitung, 18. September 2003)

Am 13. November 1973, also mit vierzig Jahren, brachte sich Bryan Stanley Johnson um (Suizid).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Argon Verlag

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