John Irving : Die vierte Hand

Die vierte Hand
Originalausgabe: The Fourth Hand New York 2001 Die vierte Hand Übersetzung: Nikolaus Stingl Diogenes Verlag, Zürich 2002
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Einem amerikanischen Sensationsjournalisten wird in einem indischen Zirkus vor der laufenden Fernsehkamera von einem Löwen die Hand abgebissen. Ein Bostoner Handchirurg transplantiert ihm die Hand eines toten Bierfahrers, dessen Witwe sich ein Besuchsrecht bei der Hand ausbedingt ...
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Kritik

Lesenswert ist der Trivialroman "Die vierte Hand", weil er aufgrund origineller Einfälle unterhaltsam ist und einige der vielen eingestreuten Episoden mit viel Fantasie und Detailfreude inszeniert wurden.
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Der neunundzwanzigjährige New Yorker Fernsehjournalist Patrick Wallingford bewohnt mit seiner Ehefrau Marilyn ein Apartment in Manhattan. Er macht sich keine Gedanken über die Zukunft und lässt die Dinge einfach auf sich zukommen. Einmal versucht er, eine Kollegin, mit der er noch nicht im Bett war, für einen gemeinsamen Abend zu gewinnen. Das geht schief. Nach dieser negativen Erfahrung kehrt er wieder zu seiner Methode zurück, sich von den Frauen verführen zu lassen. Sie tun es reihenweise. In seinem Leben herrscht „sexuelle Anarchie“. Eine der zahlreichen Geliebten strengt eine Vaterschaftsklage gegen ihn an. Der DNS-Test geht zwar zu seinen Gunsten aus, aber seine Ehefrau Marilyn reicht die Scheidung ein.

Der Nachrichtensender, für den Patrick arbeitet, ist auf Sensationsmeldungen spezialisiert. Als in dem indischen Zirkus „Great Ganesh“ eine junge Trapezkünstlerin abstürzt und mit ihrem Körper ihren Mann totschlägt, der sie auffangen wollte, wird Patrick nach Indien geschickt. Die Moslems, die während der Aufzeichnung einen Holzkarren mit Fleisch für die Löwen hereinbringen, erstarren beim Anblick der hochgewachsenen blonden deutschen Tontechnikerin Monika, die nur ein T-Shirt über ihren Brüsten trägt. Durch den Geruch des Hammelfleisches und die ungewohnte Verzögerung werden auch die hungrigen Löwen im Käfig unruhig. Der Kameramann zoomt auf die brüllenden Tiere. Patrick hält sein Mikrofon nahe an die Gitterstäbe. Plötzlich packt eine Pranke seinen linken Arm, er knallt mit seiner linken Schulter gegen das Gitter und taumelt dann blutend zurück, während sich die Löwen um seine über dem Gelenk abgebissene Hand raufen und sie auffressen. Monika fällt ohnmächtig in das Fleisch auf dem Karren.

Der ebenso ehrgeizige wie verschrobene Bostoner Handchirurg Dr. Nicholas M. Zajac ist Mitte 40. Seine Frau Hildred hat sich von ihm scheiden lassen und sorgt dafür, dass der sechsjährige Sohn Rudy nur jedes dritte Wochenende mit ihm verbringen darf. Um ihren Exmann zu ärgern, schenkt Hildred ihrem Sohn eine Mischlingshündin namens Medea, duldet das Tier jedoch nicht in ihrem Haus. Zajac bleibt nichts anderes übrig, als Medea bei sich aufzunehmen. Die Hündin teilt offenbar seine Abneigung gegen Hundekot: Sie frisst die Haufen, während ihr Herrchen sie zum Beispiel beim Joggen am Ufer des Charles River mit einem Lacrosseschläger zur Seite schlägt und dabei nicht selten einen Ruderer in Gefahr bringt.

Es dauert einige Zeit, bis er merkt, dass seine neue junge Haushälterin Irma, die sich in ihn verliebt hat, eigens abnimmt, regelmäßig ins Fitnesscenter geht, sich neu einkleidet, kurz: zur Sexbombe mutiert, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Fünf Jahre, nachdem die Löwen Patricks linke Hand aufgefressen haben, versichert ihm Dr. Zajac am Telefon: „Sie können die erste Hand haben, die ich in die Finger kriege.“ Eine Gelegenheit dafür scheint sich zu ergeben, als Doris Clausen dem Handchirurgen schreibt, ihr Ehemann Otto vermache seine linke Hand dem Fernsehjournalisten, dessen Hand vor laufender Kamera abgebissen wurde. Aber es stellt sich rasch heraus, dass der Bierfahrer Otto Clausen 39 Jahre alt und kein bisschen krank ist. Er und seine fünf Jahre jüngere Frau sind seit mehr als zehn Jahren glücklich verheiratet und wünschen sich ebenso sehnlich wie erfolglos ein Kind.

Am 25. Januar 1998 fährt Otto Clausen in seine Lieblingssportkneipe, um ein entscheidendes Footballspiel anzusehen. Während des Spiels trinkt er so viel Bier, dass er danach seinen Lieferwagen, mit dem er eine Einfahrt blockiert, auf den nächsten Parkplatz fährt und von dort mit dem Handy ein Taxi ruft. Es werde eine Weile dauern, sagt man ihm, weil Hochbetrieb herrsche. Irgendwie scheint er während des Wartens seinen Revolver aus dem Handschuhfach genommen zu haben. Offenbar löste sich ein Schuss, der ihm durch den Unterkiefer in den Schädel drang.

Geistesgegenwärtig lässt Doris Clausen die linke Hand ihres Mannes amputieren und verständigt Dr. Zajac.

Patrick, der zur Operation nach Boston reist, wird dort nicht nur von den Ärzten, sondern auch von Doris erwartet. Sie verlangt ein Besuchsrecht bei der Hand und möchte vor der Transplantation noch mit Patrick allein sein. „Ich will noch immer ein Kind von Otto“, kündigt sie Patrick an. Ehe er von seinem Stuhl aufstehen kann, streift sie ihre Jeans samt dem Slip herunter und setzt sich auf seinen Schoß.

In einer 15-stündigen Operation näht Dr. Zajac dem Patienten die linke Hand des Toten an. Damit kann Patrick nach acht Monaten heiß und kalt unterscheiden und nach knapp einem Jahr sein Auto steuern. Die Witwe besucht ihn regelmäßig und legt die von ihrem Mann stammende Hand auf ihren schwangeren Bauch. Patrick verliebt sich in Doris, aber sobald sie ihren Sohn geboren hat, kümmert sie sich nicht mehr um ihn oder seine linke Hand.

Die wird plötzlich grün und muss abgetrennt werden. Patrick liegt noch im Krankenhaus, als am 24. Januar 1999 Matthew David Scott in Louisville, Kentucky, erfolgreich eine Hand transplantiert wird. (Eine 1964 in Ecuador transplantierte Hand musste zwei Wochen später abgenommen werden. Und der in Australien lebende Neuseeländer Clint Hallam, dem am 23. September 1998 eine fremde Hand angenäht wurde, ließ sich diese später auch wieder entfernen.)

Am 16. Juli 1999 macht Patrick sich Sorgen, weil ihn die nicht mehr vorhandene linke Hand kribbelt. Obwohl es Freitagabend ist, fordert Dr. Zajac ihn auf, nach Boston zu kommen und verabredet sich für den nächsten Morgen mit ihm in der Praxis.

Beim Frühstück im Hotel wird er angegiftet, weil man ihn erkennt und annimmt, er sei wegen des Flugzeugabsturzes unterwegs, bei dem vermutlich John F. Kennedy jr., seine Frau Carolyn und deren Schwester Lauren Bessette ums Leben gekommen sind. Dabei weiß Patrick noch gar nichts davon, weil er das Fernsehgerät in seinem Zimmer nicht angestellt hatte.

Dr. Zajac beruhigt ihn wegen der Parästhesie. So etwas sei nicht ungewöhnlich.

Endlich nimmt Patrick seine Kollegin Mary Shanahan mit in die Wohnung. Auch sie will ein Kind von ihm. (Aber nach ein paar Wochen stellt sich heraus, dass sie nicht schwanger geworden ist.)Am nächsten Tag erfährt Patrick, dass man seinen Chef entlassen und durch Mary ersetzt hat. Die ehrgeizige Karrierefrau ist zur Nachrichtenredakteurin und Produzentin avanciert.

Ende Juni 1999 verbringt Patrick ein Wochenende mit Doris und dem kleinen Otto in einer Hütte am See, die ihr gehört. Sie verlangt nach seiner Hand. Er hält ihr die rechte hin.

„Nein, die vierte. … Gib mir deine Hand, die vierte“, sagte Doris. Sie packte seinen Stumpf und klemmte ihn sich fest zwischen die Oberschenkel, wo er seine fehlenden Finger lebendig werden spürte.

Er macht ihr einen Heiratsantrag. Doris will es sich überlegen und unbedingt mit ihm am 1. November ein Footballspiel besuchen. Patrick weist Mary frühzeitig darauf hin, dass er an diesem Tag nicht zur Verfügung stehen wird. Als aber in der Nacht auf den 1. November eine ägyptische Passagiermaschine mit 217 Menschen an Bord 50 Minuten nach dem Start vom Airport John F. Kennedy ohne Vorwarnung aus 11 000 m Höhe fast senkrecht abstürzt, soll er darüber berichten – und als er sich weigert, wird er entlassen. Bei dem „Katastrophenkanal“ wollte er sowieso bald aufhören, und das Zusammensein mit Doris ist ihm wichtiger.

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„Am Anfang jedes Romans, den ich geschrieben habe, stand ein ‚Was wäre, wenn …'“, erklärt John Irving in seiner „Danksagung“ am Ende des Buchs. Er versteht es, aus einer grotesken Situation eine Geschichte zu entwickeln. Der ganze Roman „Die vierte Hand“ beruht auf dem Einfall von den Zirkuslöwen, die dem Fernsehjournalisten Patrick Wallingford die linke Hand abbeißen und sie auffressen. Das Prinzip wandte der Autor wohl auch an, um sich zahlreiche kleine Episoden auszudenken, die er retardierend in den Handlungsverlauf einstreut. Ich habe nicht mitgezählt, wieviele Erektionen Irving beschreibt, aber mehr als ein Dutzend sind es bestimmt – und die wenigsten davon stehen in einem engeren Zustammenhang mit der eigentlichen Handlung. Ich finde, er hätte gut 100 der rund 430 Seiten streichen können. Auf der anderen Seite fehlt in „Die vierte Hand“ eine Schlusspointe oder wenigstens eine unerwartete Wendung am Ende.

Nebenfiguren wie zum Beispiel die Tontechnikerin Monika, die ZDF-Moderatorin Barbara Frei, die Feministin Evelyn Arbuthnot, die Abtreibungstouristin „Sarah Williams“ oder die Maskenbildnerin Angie tauchen nur in einer Episode auf. Befremdlicher wirkt es, wenn eine wichtigere Figur wie der Handchirurg Dr. Nicholas M. Zajac in einem Kapitel mit viel Liebe zum skurrilen Detail vorgestellt und bald darauf einfach fallen gelassen wird.

Es geht in „Die vierte Hand“ um Verlust, Trauer und nicht nur um Sex, sondern auch um Liebe. Der Protagonist, ein ziellos-unbekümmerter Don Juan, der sich von jeder Frau verführen lässt, entwickelt sich zu einem Mann, der sich ernsthaft um seine Liebe bemüht, plötzlich Verantwortung spürt und sich kritisch mit seiner beruflichen Tätigkeit auseinandersetzt. In seinen letzten Sendungen mahnt er Respekt vor den Opfern und die Wahrung der Privatsphäre beispielsweise der Hinterbliebenen an.

Aber wegen dieser trivialen und auch nicht weiter vertieften Themen lohnt es sich nicht, John Irvings Erfolgsroman „Die vierte Hand“ aufzuschlagen. Lesenswert ist das Buch „Die vierte Hand“, weil es aufgrund einiger origineller Einfälle unterhaltsam ist und die einzelnen Episoden mit viel Fantasie und Detailfreude inszeniert werden.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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