Felicitas Hoppe : Pigafetta

Pigafetta
Pigafetta Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 1999
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die namenlose Erzählerin reist in den Neunzigerjahren als Gast auf einem Containerschiff um die Erde. Nachts schwadroniert der Schatten des venezianischen Edelmanns Antonio de Pigafetta in ihrer Kabine von seiner eigenen Weltumsegelung unter Fernão de Magalhães im 16. Jahrhundert.
mehr erfahren

Kritik

Das Besondere an "Pigafetta" ist die Sprache: Mit klaren, nüchternen Worten baut Felicitas Hoppe eine surreale, groteske Welt auf. Dabei ist jedoch nichts von einer Fabulierlust zu spüren, sondern der poetische Roman wird von einer traurigen Grundstimmung durchzogen.
mehr erfahren

Die namenlose Erzählerin geht Mitte der Neunzigerjahre in Hamburg an Bord eines deutschen Containerschiffs, um eine Weltreise anzutreten. Da die Mannschaften immer kleiner geworden sind, ist auf dem Schiff Platz für zahlende Gäste: Der Erzählerin wird beispielsweise die Kabine des eingesparten Ladungsoffiziers zugewiesen.

Unser Schiff ist vorne spitz und hinten stumpf, 163 Meter lang, 27 Meter breit und vom Kiel bis zur Mastspitze höher als ein zehnstöckiges Hochhaus. Bei voller Ladung trägt es 1700 Container. (Seite 19)

Neben mir an Deck stand der britische Geograf und zeigte mit der ausgestreckten Linken auf die verschwimmende Stadt Hamburg, während er mit der Rechten seinen Hut auf dem Kopf festhielt. Der Hut war viel zu heiß gewaschen für seinen Kopf, der, wie ich später bei Tisch sah, glatt und rund wie ein Globus war, einer jener Köpfe, in die man im Lauf eines Lebens so viel Wissen hineinstopft, dass sie sich unweigerlich ausdehnen müssen, während Augen, Ohren und Nase allmählich schrumpfen, als kehre sich die ganze Welt langsam wieder nach innen. (Seite 11f)

Mit an Bord sind außer dem Geografen, der stets die Umrisse der nächsten Küste im Kopf hat, ein französischer Klempner und das deutsche Maklerehepaar Happolati. Von der Mannschaft erwähnt die Erzählerin den Kapitän, der „die ganze sinnlose Knechtschaft unter einem Herrn, den er niemals zu sehen“ bekommt, satt hat und Lotse werden möchte, „gut bewirteter König und Gast auf den Brücken“ (Seite 96), den zwei Meter großen Schiffsmechaniker Nobell, der ihr wiederholt rät, statt der langen Hose ein Kleid anzuziehen, „um die Herren zu erfreuen“, dann einen „Maulwurf unter Tage in den Maschinen“ namens Canossa, der sich erst bei anbrechender Dunkelheit an Deck wagt, um nach Alkoholresten zu suchen, und einen Koch, der die Gerichte wegen seiner Seekrankheit nicht abschmecken kann und auffälligerweise „nur ein einziges Kochbuch für drei Mahlzeiten am Tag über hundert Tage pro Runde für siebzehn Mann und zahlende Gäste“ dabei hat (Seite 22).

Die Erzählerin kann zwar nicht schwimmen, aber sie macht sich nichts daraus, denn „wer schwimmen kann, kommt nur langsamer um“ (Seite 13).

Sechs Tage und sechs Nächte brüllte der Sturm, es brüllte die Flut, und in der Eignerkabine nebenan stöhnte Frau Happolati, die es satt hatte, die Gattin eines Maklers zu spielen, der auch nur ein Gast auf Erden ist in diesen geliehenen Zimmern über dem Ozean. (Seite 16)

Über New York geht es nach Charleston, wo die Happolatis aussteigen und ein Pfirsichzüchter aus Georgia an Bord kommt. Vor der Durchquerung des Panamakanals feiert der britische Geograf seinen siebzigsten Geburtstag, aber er schließt sich in seiner Kabine ein, weil er nicht für das Bier aufkommen will.

Nach ihrer Äquatortaufe, bei der sie dreimal in die Wellen getunkt wurde, zeigt der Kapitän der Erzählerin das Innere des Schiffs, doch was sich in den Containern befindet, kann er ihr nicht sagen.

Der Kapitän wusste genauso wenig wie ich, was sich in den Containern verbarg, und der Erste Offizier, der es hätte wissen können, weil er die Listen besaß, hatte längst den Überblick verloren. (Seite 60)

Während eines Landgangs auf Tahiti fährt die Erzählerin dreimal mit dem Fahrrad um den erloschenen Vulkan. Der französische Klempner, der nicht pünktlich an Bord zurückkehrt, wird zurückgelassen, denn es wäre zu kostspielig für die Reederei, auf ihn zu warten.

Der Pfirsichzüchter beschwert sich über das Klappern des Hockers hinter dem Duschvorhang in seiner Kabine, darüber, dass das Wasser im Waschbecken plötzlich verkehrt herum abfließt, über das Wasser in dem kleinen Schwimmbecken im Keller des Schiffes, das so schmutzig ist wie das Meer und darüber, dass es mitten im Sommer Winter ist und dauernd regnet.

Aber am meisten bedrückte ihn, dass, obwohl er seine Uhr immer zurück- und niemals vorgestellt hatte, plötzlich zwischen dem einhundertfünfzigsten östlichen Längengrad und dem siebzehnten südlichen Breitengrad, kurz vor der internationalen Datumsgrenze, ein ganzer Tag aus dem Kalender verschwand, für den er im Voraus bezahlt hatte. (Seite 93f)

Der Klempner, der sich bei seinen Freundinnen auf Tahiti verspätet hatte, kommt mit dem Flugzeug nach. Der Geograf verlässt das Schiff.

Piraten tauchen offenbar nicht mehr bei Nacht mit Enterhaken auf, sondern nachmittags in elegant geschnittenen Anzügen. Sie klopfen höflich an der Kabinentür der Erzählerin, bevor sie ihr Gepäck durchsuchen und sie zur Brücke begleiten, während Männer mit „handlichen Waffen“ die Ausgänge bewachen. Der Kapitän zählt die Geldscheine einzeln auf das Kartenpult, wo bereits die Ketten und Ohrringe der Matrosen liegen.

Bevor sie gingen, nahmen die Herren mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, verbeugten sich leicht und deuteten eine Entschuldigung an. (Seite 113)

Von Hongkong aus fliegen der Koch und der Steward in die Heimat zurück. Sie werden von zwei anderen Männern ersetzt.

In acht Nächten erzählt der Geist des venezianischen Edelmanns Antonio de Pigafetta der Erzählerin während der Schiffsreise von seiner eigenen Weltumsegelung unter dem Kommando des Generalkapitäns Fernão de Magalhães vor rund 475 Jahren. Dieser hatte 1519 beschlossen, „nach Inseln zu suchen, auf denen Zwerge mit großen Ohren leben, deren eines ihnen als Bett, das andere aber zur Decke dient. Sie leben, diese Zwerge, in Höhlen tief unter der Erde und fliehen kreischend, sobald sie einen Fremden erblicken“ (Seite 7). Der neununddreißigjährige Pigafetta schloss sich ihm an und versuchte vor der Abreise seine Familie zu beruhigen:

Ihr Lieben, es ist nur ein Ausflug, nichts weiter. In ein paar Tagen bin ich zurück, sitze wieder am Tisch, der zweite Esser von rechts. In der Zwischenzeit halte ich die Augen offen. Ich werde euch überraschen mit Bildern, die man sonst nicht zu sehen bekommt. Wie sehr ich diese Schulausflüge liebe und am Abend beim Packen der Kiste den festen Glauben, dass alles beim alten bleibt. Sollte trotzdem jemand heiraten, so wünsche ich Glück bei der Wahl der Zeugen und Gäste. (Seite 7)

[…] hörte ich wieder die Stimme meiner Mutter, mein Sohn, warum willst du uns verlassen und im Schweiß deines Angesichts Zwieback essen, durch den Würmer kriechen und das Gold deines Vaters gegen Ratten und Mäuse tauschen? (Seite 45)

Tatsächlich gingen unterwegs die Vorräte zur Neige, und die Mannschaft begann nach Fischen zu angeln.

Der Generalkapitän isst keinen Fisch. Nachts liege ich wach und lausche dem Geräusch leerer Kiefer auf Ledermanschetten und fange ihm Mäuse, die hier, wo es längst keinen Zwieback mehr gibt, so klein sind, dass sie ohne viel Aufwand von selbst nach hinten im Rachen verschwinden. Die Köche fangen die Mäuse in ihren Mützen und servieren in Mützen gewickelte Ratten, die man von den Rändern der Mützen her gierig verschlingt. (Seite 61)

In dieser Nacht erschlug einer der Köche einen Matrosen, der einen andern erschlug, der eine Ratte erjagt hatte, und der Generalkapitän warf alle drei ins Meer, obenauf die Ratte, und ich sah den Hass in den Augen der anderen Köche. (Seite 81)

Er [der Generalkapitän] sah die Köche nicht kommen, aber ich hörte deutlich das Klappern ihrer Kellen, als sie sich von hinten näherten, um für alles Rache zu nehmen, was ihnen in den vergangenen Monaten auf den Schiffen widerfahren war, für die Ratten und Mäuse, die verlorenen Mützen und den Verlust des fünften Kochs, der den Jäger erschlug und den der Generalkapitän schweigend über Bord warf, bevor er sich wieder seinem Globus zuwandte. (Seite 99)

Die Meuterei wurde entdeckt, und der Generalkapitän verurteilte die Verschwörer dazu, an den Ohren über der Reling zu hängen, bis wieder Land in Sicht kam und das ungläubige Gemurmel an Deck verstummte.

Als die Bewohner einer Insel sich gegen die Eroberung durch die europäischen Seeleute zur Wehr setzten, kam es zu einem blutigen Kampf, in dem auch der Generalkapitän fiel.

Der Kampf dauerte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Gegen wen wir fochten, weiß ich nicht, aber der Generalkapitän befahl, Feuer zu legen, um den Feind in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Rauch legte sich über die kämpfenden Matrosen, sie begannen zu husten, verloren einander aus den Augen und wussten nicht mehr, auf wen sie jetzt einschlugen. Im Eifer des Gefechts traf die Kelle des dritten Kochs den Generalkapitän auf den Hinterkopf und umschloss ihn wie ein Helm für immer. (Seit 120)

„Es ist nichts erlogen“, beteuert Pigagetta, „ich habe alles ehrlich erfunden“ (Seite 135).

Als die Erzählerin von einem Landgang in Singapur zurückkehrt, erschrickt sie, weil das Schiff nicht mehr dort liegt, wo sie es verließ. Sie übernachtet in der Seemannsmission, und am nächsten Morgen findet sie ihr Schiff im Hafen wieder.

Die Meuterei begann an einem strahlenden Sonntagmorgen bei Windstärke zwölf, als der Pfirsichzüchter bemerkte, dass das Schwimmbecken im Keller des Schiffes kein Wasser mehr führte, worauf er sich beim Frühstück in der Offiziersmesse vor Zorn das Hemd von der Brust riss und damit gegen eine der hier herrschenden Grundregeln verstieß: Auf Schiffen sich immer bedeckt halten und niemals mit freiem Oberkörper auf die Brücke, in die Küche, in die Messe! Aber da er weder der wiederholten Aufforderung nach angemessener Bekleidung nachkam noch Reue zeigte oder irgendwelche Anstalten machte, die erhobene Strafe in Höhe von einer Kiste Bier für die Mannschaft zu zahlen, kam es zu Handgreiflichkeiten.

In der Küche zerschlug er zwei Tassen, die erste auf dem Kopf des neuen Kochs, die zweite am Kinn des neuen Stewards, der immer noch nicht wusste, wie man Teppiche bürstet und rechtzeitig den Kopf einzieht, und erst mit den vereinten Kräften Nobells und des Bootsmanns gelang es schließlich, ihn an seinem Stuhl festzubinden, während der Erste Offizier mir mit leiser, gefährlicher Stimme erklärte, dass man unter entsprechend kräftigem Rühren auch in einem Suppenteller eine Windstärke von zwölf erzeugen kann, reinste und schönste Physik, aber Sie können mir glauben, setzte er hinzu, dass wir gelernt haben, das Übel an seiner Wurzel zu packen, denn wer zögert, verliert alles auf einmal, erst die Fracht, dann die Macht und am Ende das ganze Schiff. (Seite 143)

Mit einem Blick auf die ganz in Weiß gekleideten Kanallotsen von Suez beendet die Erzählerin ihren Reisebericht.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der portugiesische Seefahrer Fernão de Magalhães überredete den spanischen König Karl I. – den späteren Kaiser Karl V. –, ihm eine aus fünf Schiffen bestehende Flotte zur Verfügung zu stellen, mit der er einen Weg westwärts zu den Gewürzinseln suchen wollte. Am 20. September 1519 brach Generalkapitän Fernando de Magallanes – so nannten ihn die Spanier – in Sevilla auf. Am 13. Dezember erreichte seine Flotte die südamerikanische Atlantikküste. Fernão de Magalhães schlug eine Meuterei nieder, ließ zwei der Anführer vierteilen und einen weiteren im Dschungel aussetzen. Am 21. Oktober 1520 entdeckte er die später nach ihm benannte 600 km lange, 3 bis 30 km breite Meeresstraße zwischen Atlantik und Pazifik am Südzipfel des amerikanischen Kontinents. Als die Bewohner der philippinischen Insel Mactan sich der Eroberung durch die spanischen Seeleute widersetzten, kam es zu einem Kampf, in dem Fernão de Magalhães sein Leben verlor. Nur eines von fünf Schiffen und 18 von 265 Männern kehrten 1522 unter dem Kommando von Juan Sebastián Elcano nach Spanien zurück, darunter der venezianische Edelmann Antonio de Pigafetta, der vierzehn Jahre später in seiner Heimatstadt ein Buch darüber veröffentlichte: „Primo viaggio intorno al globo“ (Erste Reise um die Erde). Mit der verlustreichen ersten Weltumsegelung wurde endgültig bewiesen, dass die Erde keine Scheibe ist.

Rund 475 Jahre später umrundete die 1960 in Hameln geborene Schriftstellerin Felicitas Hoppe die Erde auf einem deutschen Containerschiff und hielt ihre Eindrücke in einem Journal fest, von dem die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ noch während der Reise sieben Abschnitte abdruckte. In ihrem 1999 publizierten Roman verknüpfte sie ihre eigenen Reiseeindrücke mit der Weltumsegelung des Generalkapitäns Fernão de Magalhães.

Der Schatten von Antonio de Pigafetta, einem der wenigen Überlebenden der Weltreise von 1519 bis 1522, ist mit an Bord des Containerschiffs und erzählt in acht Nächten von seinen Erlebnissen. So vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart.

Während eine Weltreise zu Pigafettas Zeiten ein lebensgefährliches Abenteuer war, drohen moderne Schiffsreisende sich eher zu langweilen, zumal auf einem Containerschiff, bei dem die Ladung Priorität hat. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem Roman „Pigafetta“ so gut wie nichts passiert. Nicht mit einer Handlung wartet Felicitas Hoppe auf, sondern mit kleinen Episoden über ihre skurrilen Mitreisenden, die sie mit wenigen Strichen charakterisiert. Weder für sich selbst noch die meisten Menschen an Bord nennt sie einen Namen. Da heißt es nur „der Klempner“, „der Geograf“ oder „der Pfirsichzüchter“. Dazu passt, dass die Erzählerin bei der Äquatortaufe den Namen eines ungenießbaren Fisches bekommt, den sie sich nicht merken kann und den sie trotz eifriger Hinweise des Kapitäns niemals im Meer zu sehen bekommt.

„Pigafetta“ wäre ein belangloses Buch, wenn es da nicht eine besondere Sprache gäbe: Mit klaren, nüchternen Worten baut Felicitas Hoppe eine teils reale, teils surreale Welt auf, und es kommt vor, dass sie innerhalb ein und desselben Satzes von einer sachlichen Beschreibung ins Groteske springt. Dabei ist jedoch nichts von der Fabulierlust etwa eines Umberto Eco zu spüren, sondern der poetische Roman wird von einer traurigen, trostlosen Grundstimmung durchzogen.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

Markus Werner - Zündels Abgang
Es gelingt Markus Werner in "Zündels Abgang" ausgezeichnet, den Leser spüren zu lassen, wie der Protagonist immer mehr im Elend versinkt und in den Strudel der Resignation gezogen wird. Das katastrophale Ende zeichnet sich in nachvollziehbaren Schritten ab.
Zündels Abgang