Ulla Hahn : Spiel der Zeit

Spiel der Zeit
Spiel der Zeit Originalausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2014 ISBN: 978-3-421-04585-0, 607 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hilla Palm studiert Germanistik und Geschichte in Köln. 1967 nimmt sie erstmals an einer Demonstration teil. Im Karneval lernt die Arbeitertochter den Kommilitonen Hugo Breidenbach kennen, dessen Familie zum Kölner Patriziat gehört. Während Hillas Eltern von dem jungen Mann angetan sind, rümpfen Hugos Familienangehörige über seine Freundin die Nase. Nur Hugos bei Meran wohnender Onkel Friedrich und seine als Gastprofessorin in Berkeley lehrende Tante Lilo akzeptieren Hilla ...
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Kritik

Der Roman "Spiel der Zeit" ist Teil einer Trilogie von Ulla Hahn über die Entwicklung einer Arbeitertochter zur Germanistikstudentin und spielt vor einem Panorama der bundes­deutschen Gesellschaft in den Jahren 1967/68.
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Was bisher geschah

Hildegard („Hilla“) Palm studiert Germanistik und Geschichte in Köln und hat ein Zimmer in einem nach Hildegard von Bingen benannten Wohnheim für katholische Studentinnen, im „Heldejaad-Kollesch“. Der Vater Josef Palm schärfte ihr immer wieder ein:

Jlöw jo nit, dat de jet Besseres bes. Un du bliews doch dat Kenk vun nem Prolete.

Von den 1000 Mark, die ihr der Vater vor ihrer Abreise heimlich zusteckte, kauft Hilla in Köln einen Mixer. Den bringt sie dann bei ihrem ersten Wochenendbesuch bei der Familie in Dondorf, einem Dorf zwischen Köln und Düsseldorf, als Geschenk mit. Die verwitwete Großmutter Anna Rüppli, die mit im kleinen Haus der Palms wohnt, fragt beim Anblick des Walita Jubileu Standmixers:

Wer bruch denn su ne Krom?

Und Hillas Mutter Maria klagt:

Das jode Jeld! Wat ene Kokolores!

Nur der Vater freut sich über den Mixer und probiert ihn sofort aus.

Der bräunliche Brei signalisierte den Triumph der Technik über die Natur, der nun auch in die Dondorfer Küche Einzug hielt.

Um Mutter und Großmutter zu besänftigen, lügt Hilla, sie habe den Mixer bei einem Preisausschreiben gewonnen. Als kurz darauf Hillas Tante Berta vorbeikommt, zeigt deren Schwester stolz auf den Mixer und erklärt:

So wat jehört in jede moderne Haushalt! […]
Un de Kanalisation kriejen mir jetzt auch! Dann is Schluss met dem Plumsklo!

In Köln nimmt Hilla mit einigen Mitbewohnerinnen an einer Demonstration gegen Preiserhöhungen bei der Straßenbahn teil. (Die Abkürzung Demo kennt sie noch nicht, die kommt erst später auf.)

Ein Brief ihres jüngeren Bruders Bertram (über ein Telefon verfügen die Palms nicht) ruft Hilla während der Woche zurück nach Dondorf: Die Oma steht nicht mehr auf. Hilla nimmt den nächsten Zug.

Die hätt sojar dat Füer em Herd usjonn losse!, empfing mich die Mutter. Un isch muss rauf un runter wejen der, dä janze Tach.

Kurz bevor Hilla nach Köln gezogen war, hatte sie ihre Großmutter Anna mitten in der Woche beim Backen angetroffen.

Omma, es ist doch erst Mittwoch.
Mettwoch?, wiederholte sie, kurz auflachend, ihr Kneten und Klopfen keine Sekunde unterbrechend. Nä, mer han Samstag. Siehste ja. Isch bin doch am Backen. Wenn isch backe, is Samstag.

Bald darauf erhält Hilla in Köln die Nachricht, dass ihr Vater einen Infarkt erlitt. Erneut eilt sie nach Hause. Als Maria, Hilla und Bertram vom Besuch im Krankenhaus zurückkommen, steht Marias Schwester Berta mit einem Besen in der Tür:

Esch han hier ens jekehrt, knurrte sie, dä Pastur kütt jlisch.

Eigenmächtig rief sie den Dorfpfarrer Kreuzkamp. Der trifft mit einem Messdiener ein, um Anna Rüppli die Letzte Ölung zu spenden. Sie kommt noch ins Krankenhaus, aber dort stirbt sie. Josef Palm wird der Tod der Schwiegermutter auf Anraten des behandelnden Arztes verschwiegen. Aufregung wäre schädlich für ihn, heißt es. Maria trägt deshalb beim Krankenbesuch ein helles Kleid, das sie erst danach gegen ein schwarzes vertauscht.

Hilla freundet sich mit ihrer Mitbewohnerin Gretel Fischer an und besucht sie auch in Benrath, wo die Familie in einer Klinkervilla wohnt. Gretels Vater Dr. Heinrich Fischer ist Oberstudienrat für Deutsch und katholische Religionslehre. Bald darauf begleitet Hilla ihre Freundin zum Arzt und wartet in einem Café auf sie. „Ich krieg ein Kind“, sagt Gretel, als sie aus der Praxis kommt. Dann müsse sie eben ihren Freund Max heiraten, meint Hilla. Aber Gretel behauptet, sie habe weder mit Max noch mit einem anderen Mann Geschlechtsverkehr gehabt. Erst später fällt ihr die Wallfahrt von Maria Laach über Neviges nach Kevelaer im September ein. Am Abend hatten sie wegen der Kälte Tee mit Rum getrunken, und bisher glaubte Gretel, in der darauf folgenden Nacht heftig geträumt zu haben. Jetzt weiß sie, dass es kein Traum war.

Am nächsten Morgen kaufte ich eine Kinderbadewanne, die ich als Fußbadewanne ausgab. Dazu schleppten wir drei große Flaschen Rotwein Marke Blutsbrüder, zwei Päckchen grüne Seife, vier Gläser Senf und eine Packung Abführtee ins katholische Studentinnenwohnheim.

Nach einer Woche geben Hilla und Gretel die Hoffnung auf, die Schwangerschaft mit diesen Mitteln abbrechen zu können. Hilla schlägt eine Abtreibung in Amsterdam vor und bietet ihrer Freundin an, ihr die 300 Mark zu leihen, über die sie noch verfügt. Gretel schreckt allerdings vor einer Abtreibung zurück. Das wäre eine Todsünde, meint sie. Außerdem wisse sie nicht, wie sie das restliche Geld aufbringen solle. Die Mitbewohnerin Yvonne kennt die Adresse einer Engelmacherin in Köln und schreibt ihnen die Adresse auf. Bevor sie Kontakt mit der Frau aufnehmen, unternimmt Gretel einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten, wird aber von Hilla rechtzeitig gefunden. Für die 300 Mark, die sie aufbringen können, nimmt eine Frau Anfang 50 die Abtreibung vor.

Nach der Rückkehr vom Weihnachtsbesuch bei der Familie in Dondorf findet Hilla einen Brief von Gretel aus Olpe vor.

Liebe Hilla,
von dort, wo ich jetzt bin, werde ich nicht wiederkommen. Keine Sorge, alles ist gut. Ich habe reinen Tisch gemacht. Meine Eltern sind stolz auf mich. Besonders mein Vater.
Ich ließ den Brief sinken. Reinen Tisch. Stolz? Besonders der Vater? Der strenggläubige römisch-katholische Religionslehrer? Was hatte Gretel ihnen erzählt? Wie hatte sie ihnen Das beigebracht, damit sie nun stolz auf die Tochter waren?
Keine Sorge – schon wieder: Keine Sorge –, ich habe ihnen nichts gesagt.
Nichts gesagt? Die Angelegenheit wurde immer mysteriöser. […]
Über die Weihnachtstage ist mir klar geworden, wo ich hingehöre. Dorthin, wo ich jetzt bin: im Kloster.

Weil Hilla keine körperliche Nähe erträgt, seit sie von drei Männern auf einer Lichtung im Krawatter Busch vergewaltigt wurde, hüllt sie sich für den Fastelovendsball der KaJuJa, der katholischen Jugend, in ein dick gepolstertes Raupenkostüm. So verkleidet, verliebt sie sich in einen ebenso grotesk aussehenden Käfer, dessen Höcker allerdings nicht zum Kostüm gehört, sondern echt ist. Hugo Breidenbach heißt der Student.

Erst nach mehreren Verabredungen lässt Hilla sich von ihm in die Wohnung nehmen, die seiner wegen einer Gastprofessur in Berkeley lebenden Tante Lilo gehört. Vor drei Jahren vertraute sie ihm die Wohnung an. Seither hat Hugo die Schwester seines Vaters nicht mehr gesehen. Inzwischen weiß Hilla bereits, dass es sich bei den Breidenbachs um eine großbürgerliche Familie handelt, eine alte Kölner Patrizierfamilie, die Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen und Priester, Kirchenvorstände und Domherren vorweisen kann. Angesichts der vollen Bücherregale in Tante Lilos Wohnung fällt Hilla ein Kommentar ihres Vaters ein: „Bööscher nä!“

Am Ostermarsch von Essen nach Bochum nehmen Hilla und Hugo gemeinsam teil.

Einige Zeit später bereitet sich Hilla mit zwei im Bad heimlich ausgetrunkenen Jägermeister-Fläschchen auf die erste Nacht mit Hugo im Bett vor. Dennoch gerät sie in Panik. Verständnisvoll stellt Hugo ihr Wasser und Aspirin hin, verspricht ihr für den nächsten Tag einen Ausflug und zieht sich in ein anderes Zimmer zurück. Erst im Freien gelingt es Hilla, sich zitternd hinzugeben. Nach dem Orgasmus fordert Hugo sie auf, das Trauma zu benennen.

Du musst es aussprechen. Und wenn du das nicht kannst, aufschreiben. […]
Du musst dich als Opfer akzeptieren.
Ich fuhr auf. Gerade das hatte ich all die Jahre nicht wahrhaben wollen. Hilla Selberschuld. Alles, nur kein Opfer.

Vergewaltigung, flüsterte ich. Vergewaltigung.
Hugo küsste mir das Wort von den Lippen.

Die Teufelsaustreibung auf der Lichtung bezeichnen sie von da an als ihre Lichtmess.

Hilla fährt nicht mehr jedes Wochenende nach Dondorf, sondern verbringt so viel Zeit wie möglich mit Hugo.

Am 2. Juni 1967 wird der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin erschossen. Auch der Protest gegen den Vietnam-Krieg treibt die Studenten auf die Straße. Julchen, eine junge Frau aus Dondorf, sieht Hilla im Fernsehen als Teilnehmerin einer Demonstration, und als die Studentin kurz darauf die Eltern besucht, schimpft ihre Mutter beim Anblick Julchens:

Dat dolle Döppe, knurrte sie, rennt dursch Dondorf un behauptet, et hätte disch im Fernsehen jesehen, bei dä Demonzrazion op de Neumarkt. Wat ene Quatsch!

Aber Tante Berta zeigt Verständnis für die Demonstranten gegen den Schah:

Dä hat ja auch dat ärme Soraya verstoße.

Josef Palm feiert im August seinen 59. Geburtstag. Aufgrund seines Gesundheitszustandes bekommt er bereits eine Rente, die allerdings nur knapp über dem Fürsorgesatz liegt. Maria Palm muss deshalb weiterhin mit Putzarbeiten Geld hinzuverdienen. Immerhin konnte sich das Ehepaar inzwischen von einem Verwandten ein Stück von der Wohnküche abteilen und ein Bad einrichten lassen. Als Hilla noch zu Hause wohnte, war der Spülstein in der Küche die einzige Waschgelegenheit.

Hilla erhält den Bafög-Höchstsatz. Durch die studentische Arbeitsvermittlung kommt sie als Statistin zum Fernsehen. Beispielsweise macht sie bei den streng geheimen Vorbereitungen für die von Peter Frankenfeld moderierte Show „Vergissmeinnicht“ mit.

Hugo bekommt ebenso wie sein bester Freund Arnfried Tannhäuser, dessen Vater eine Pianofabrik besitzt, jeden Monat Geld von den Eltern. Geldsorgen kennen die beiden Studenten nicht.

Beneidete ich diese Jungen und Mädchen? Bewunderte sie sogar? Jeder bemühte sich, etwas Besonderes darzustellen; nicht zu sein, das wäre zu anstrengend, es genügte der Schein, solange er nur echt wirkte. Wem es nicht gelang, diese Besonderheit durch Gerede vorzutäuschen, musste sie nonverbal behaupten. Besonders die Mädchen […]

Bevor Hilla den Eltern ihren Freund vorstellt, führt sie ihn durch Dondorf und zeigt ihm, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Die Mutter pflückt Johannisbeeren, als sie ankommen. Der Vater tritt aus dem Schuppen und meint erst einmal:

Nänä, esch treck mesch ens öm, äh, isch mein, isch zieh mir wat anderes an.

Hugo hilft Maria Palm bei der Johannisbeeren-Ernte. Dann unternehmen alle zusammen einen kleinen Ausflug und kehren in einem Gasthaus ein. Für die Palms ist das ein Novum, denn Essen im Restaurant hat es bisher nur bei Beerdigungen und Hochzeiten gegeben.

Der „hausgemachte Kartoffelsalat“ kam sicher aus dem Eimer, das Kotelett war groß, aber zäh, wen kümmerte das?

Eigentlich wollte Hugo die Rechnung übernehmen, aber Hillas Vater lässt es sich nicht nehmen, zu bezahlen.

Ich stellte mir den Vater vor, wie er zu Hause die Scheine, stolze Scheine, aus dem Versteck im Stall unterm Werkzeug herausgenommen, geglättet und eingesteckt hatte. Und wie er in klammheimlicher Vorfreude, sie am Ende wieder herausziehen und für unsere Freude hier aufkommen zu können, den Ausflug die ganze Zeit über doppelt genossen hatte. Hoffentlich war vom Erbe der Tant noch etwas übrig. Wie gut ich ihn verstand: sich nichts schenken lassen. Sich nicht lumpen lassen.

Nur zögerlich ist Hugo bereit, Hilla seinen Eltern Adolph Ottokar und Irmgard Breidenbach in Marienburg vorzustellen. Er ahnt, dass es nicht angenehm wird.

Hugos Vater hatte keinen Beruf, weil er keinen brauchte. Hatte keine Fabrik und keine Firma, weil er keine brauchte. Nicht seine Arbeiter, sein Geld ließ er für sich arbeiten. Verwaltete er seinen Besitz? Er tat so. Die Arbeit der Verwaltung überließ er Fachleuten. Er besaß. Das war alles.

Angesichts der schlossähnlichen Villa bleibt Hilla die Luft weg. „Da wohnt ihr ganz allein“, wundert sie sich. „Fast“, erwidert Hugo verlegen. Es gibt Zimmer für die Eltern, seine Schwester Brigitte und ihn, für seinen Onkel Adalbert, die Großtante Sibille und eine Tante mit ihrem Mann, außerdem Kammern für die Dienstboten.

Beim Essen fragt Adolph Ottokar Breidenbach, welchen Beruf Hillas Vater ausübe.

Jetzt Rentner, sagte ich.
Aha, Pensionär. Und vorher?
Bei Krötz.
Kennen wir. Auf dem Büro, nehme ich an.
An der Maschine.
Sie meinen Ingenieur?
Nä, an dä Kettemaschin. Un de Mamm putz de Post un de Krankenkass.
[…] Arbeit schändet nicht, suchte Onkel Adalberts Kommandoton die Situation zu retten.

Hilla und Hugo besuchen gemeinsam ein Seminar bei Professor Gerhard Fricke. Sie erleben mit, wie eine seiner Vorlesungen über Andreas Gryphius gesprengt wird. Man wirft ihm vor, Nationalsozialist gewesen zu sein und sich an der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Göttingen beteiligt zu haben. Arnfried Tannhäuser liest aus einer Hetzrede vor, die Gerhard Fricke damals hielt.

Arnfried verteilt auch kleine rote Bücher mit Mao-Zitaten – „Mao-Bibeln“ –, und Hugo meint, die Amerikaner hätten sich mit dem Vietnamkrieg übernommen, in China spiele zukünftig die Musik. Die Studenten trauern um Che Guevara und demonstrieren gegen die geplanten Notstandsgesetze. Am 9. November 1967 enthüllen Hamburger Studenten bei der feierlichen Rektoratsübergabe ein Transparent mit der Aufschrift „Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren“. Im Dezember kommt Rudi Dutschke nach Köln. Während seines Auftritts in den überfüllten Sartory-Sälen sitzen Hilla und Hugo auf dem Fußboden. Flugblätter mit politischen Appellen werden von Matritzen abgezogen. Sie sind blassblau und riechen nach Spiritus. (Fotokopien kommen erst später auf, ebenso die Bezeichnung Flyer.)

Umfunktionieren war die neue Parole: „Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot.“ Die Lebenswirklichkeit der Studierenden sollte das Fach widerspiegeln, raus aus dem Elfenbeinturm von Barock, Klassik und Romantik.

Mit Hugo erlebte ich diese Teach-ins wie Besichtigungen einer anderen Welt. Wir beide brauchten keine Rhythmen, keine Regeln aus zweiter Hand, keine Vorschriften eines Kollektivs, weder des Establishments noch ihrer Gegner. Wir mussten uns keine Stimmen, keine Wörter leihen. Wir wollten nichts umfunktionieren. Keine Ordnung aufbrechen.

Weißt du, brach es dann doch aus mir heraus: All das Geschwätz vom Anti, vom Umfunktionieren und Verändern. Ich kann es nicht mehr hören. Ich brauch das alles nicht. Ich brauch keine Anti-Dichtung, kein Anti-Theater, keine Anti-Familie, keine Anti-Institutionen, keine Anti-Kunst und keine Anti-Musik und was weiß ich noch alles.

Kurz vor Weihnachten 1967 kündigt Hugos Tante Lilo an, dass sie nach Köln kommen werde. Der junge Amerikaner Tim, den sie mitbringt, studierte bei ihr in Berkeley und avancierte zum Assistant Professor. Inzwischen ist er auch der Liebhaber seiner Chefin Prof. Dr. Lieselotte Breidenbach, die ein Sabbatical genommen hat. Lilo ist gut über 40 Jahre alt und ebenso unangepasst wie Hugo:

Vertraten Hugos Eltern das Groß-Geld-Bürgertum auf eine nicht zu übertreffende Art und Weise mit ihren dünkelhaften Wert- und Moralvorstellungen, so legte es Lilo darauf an, diese Zug um Zug zu entkräften.

Sie zwängt ihre stattlichen Brüste nicht in einen BH, raucht Joints, und in ihrer Wohnung treffen Hugo und Hilla nun fast jeden Tag auf neue Leute, die sich als Hippies verstehen.

Make love not war.

Haschu Haschisch inne Tasche, haschu imme waschu nasche.

Die Anhänger der Flower-Power-Bewegung reden von Selbstverwirklichung. Einige von ihnen verwechseln das Aussprechen von Wörtern wie Möse, Schwanz und ficken mit der sexuellen Revolution. Einmal trifft Hilla im Dunkeln auf ein vier oder höchstens fünf Jahre altes Mädchen. Kiki hebt den Rock, zeigt ihr, dass sie keine Unterwäsche trägt, spreizt die Beine und krault sich an der „Mieze“. Dann führt sie Hilla zu ihrer Mutter, die mit Lilo und anderen zusammen einen Joint raucht.

Anfang 1968 treten Lilo und Tim eine Europa-Reise an.

Hugo gewinnt Prof. Dr. Walter Henke als Doktorvater. Seine Dissertation soll den Titel „Die Funktion der Sprache im Spielfilm“ tragen. Es geht um den Versuch einer Quantifizierung mit Hilfe des im vergangenen Jahr von der Universität angeschafften Computers, eines Apparats von der Größe eines mittleren Hörsaals. Hugo überträgt die zu prüfenden Texte auf Lochkarten und erhält dann Auswertungen in Form eines grün-weiß-gestreiften, wie ein Leporello gefalteten Papierstapels.

In den Ferien nach dem Wintersemester fährt er mit Hilla nach Südtirol. Oberhalb von Meran lebt sein verwitweter Onkel Friedrich, der jüngere Bruder seines Vaters. Der war aus gesundheitlichen Gründen im Zweiten Weltkrieg nicht für den Kriegsdienst geeignet, studierte in Bologna Medizin und heiratete eine Italienerin namens Giusi. Friedrich Breidenbach arbeitet noch immer im Meraner Krankenhaus. Um seinen Hof kümmert sich der mit ihm befreundete Verwalter Richard Odenthal. Als Ezra Pound von 1958 bis 1962 mit seiner Frau, seiner Sekretärin Marcella, der Tochter Mary und dem Schwiegersohn auf der benachbarten Brunnenburg lebte, wurde er vorübergehend von Friedrich Breidenbach behandelt. Nun erzählt der Arzt einen Abend lang begeistert von dem amerikanischen Dichter. Außerdem berichtet er, wie er mit Giusi zusammen den Hof erwarb und einen Verwalter suchte. Der katholische Pfarrer von St. Nikolaus in Meran schickte Richard vorbei, der gerade wegen gesetzlich verbotener Homosexualität zehn Jahre im Zuchthaus verbüßt hatte.

Während sich Hilla und Hugo noch in Meran aufhalten, wird Martin Luther King am 4. April 1968 in Memphis/Tennessee erschossen, und eine Woche später wird Rudi Dutschke in Berlin durch Schüsse aus unmittelbarer Nähe schwer verletzt.

Nach ihrer Rückkehr nehmen Hilla und Hugo am 11. Mai an einem Sternmarsch auf Bonn und an der anschließenden Großkundgebung gegen die Notstandsgesetze im Hofgarten teil. Zwei Tage vor der dritten Lesung der Gesetze am 30. Mai beteiligen sie sich noch einmal an einer Demonstration, aber ansonsten konzentrieren sie sich aufs Studium, denn Hilla kann sich aus finanziellen Gründen kein Semester ohne Scheine leisten, und Hugo will seine Promotion zügig voranbringen. Die Demonstrationen verhindern auch nicht, dass die Notstandsgesetze am 28. Juni 1968 in Kraft treten.

In diesem Sommer erhält Hilla einen Job als Testesserin. Sie beurteilt nicht nur das Personal, die Gasträume, das Essen und das Preis-Leistungs-Verhältnis, sondern auch die Toiletten.

War die Klobrille intakt? Die Wasserspülung? Konnte man sich die Hände waschen? Abtrocknen?

Hugo bringt Hillas Eltern und ihren Bruder Bertram mit seinem 2CV nach Köln. Während sich Maria und Bertram von ihm den Dom zeigen lassen, führt Josef seine Tochter in die Taubengasse.

Vor der Nummer 5 machte der Vater halt: Hier hab isch jewohnt.
Du? In Köln? Ich war baff.
Warum denn nit? Da staunste, wat? Un hier, der Vater ging ein Stück weiter, da hat et Resjen jewohnt, et Therese. In derselben Straß.
Resjen?, echote ich.
Ja, isch hab Resjen für et jesacht.

Früher war dort eine Bäckerei, in der Josef arbeitete, nachdem er als 21-Jähriger den Bauernhof der Eltern verlassen hatte, und Therese Vetten war die Tochter des Meisters. Kurz vor der geplanten Hochzeit starb sie an einer Lungenentzündung. Sie wurde im Brautkleid beerdigt.

Isch bin dann weg. Wollt auch nix mehr mit Backen ze tun haben. War dann in Solingen, in Wuppertal, in Burscheid. Un dann hab isch die Mamma kennenjelernt. Da war schon Kriesch.

Im „Prager Frühling“ 1968 wollte Alexander Dubcek durch Liberalisierungen einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz schaffen, aber der Versuch wird am 21. August von Truppen des Warschauer Pakts gewaltsam niedergeschlagen.

Hilla und Hugo fahren zu dem vom 4. bis 8. September 1968 in Essen stattfindenden 82. Deutschen Katholikentag und treffen sich dort mit dem Kaplan Lukas, den Hilla von früher kennt. Zufällig waren Lilo und er Nachbarskinder. Seit kurzem ist er Seelsorger in Essen-Rüttenscheid. Die Teilnehmer des Katholikentags diskutieren vor allem über die am 25. Juli veröffentlichte Enzyklika „Humanae vitae“ mit dem Verbot der Antibaby-Pille und anderer Methoden zur Empfängnisverhütung, von der sich die deutschen Bischöfe in der Königsteiner Erklärung vom 30. August distanziert haben. Aber selbst in einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. November 1966 hieß es noch:

Die Ehe fordert von der Frau eine Gewährung des Beischlafs in Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit und Widerwillen zur Schau zu stellen.

Wie erhofft, trifft Hilla auch Gretel auf dem Kirchentag. Sie trägt Nonnentracht, gehört zu den Franziskanerinnen in Olpe und heißt jetzt Bertholdis.

Ein paar Wochen nach dem Kirchentag findet auch ein Musik-Festival in Essen statt: Internationale Essener Songtage vom 25. bis zum 29. September 1968. Um dabei sein zu können, kehren Lilo und Tim mit ihrem VW-Bus nach Deutschland zurück.

Ein runder Geburtstag Adolph Ottokar Breidenbachs steht bevor. Lilo und Hugo erhalten offizielle Einladungskarten. Beide nehmen ihre uneingeladenen Partner mit, die dann allerdings vor dem Galadinner und der Musik eines Trios der Kölner Philharmoniker an einen Katzentisch abgedrängt werden, während Brigittes Verlobter Hubertus Freiherr von Hassepohl, der kurz vor dem zweiten Staatsexamen steht und derselben Verbindung wie sein zukünftiger Schwiegervater angehört, mit am Haupttisch Platz nimmt. Sogar der Kölner Kardinal macht Adolph Ottokar Breidenbach seine Aufwartung. Den Duft des Schwarzen Afghanen, den Lilo und Tim bei seinem Eintreffen genießen, hält er für eine exquisite Weihrauch-Mischung.

Kurz darauf erhält Hilla von Hugo einen Heiratsantrag, und zu ihrer Überraschung setzt er eine Verlobungsanzeige in die Zeitung:

Groß in der Mitte unsere Namen: Hildegard Elisabeth Maria Palm und cand. phil. Hugo Felix Servatius Breidenbach. Darüber, umrahmt von Buchsteinen und Kornblumen: Ihre Verlobung geben bekannt. Unter unseren Namen: Es freuen sich sehr: Maria und Josef Palm. Friedrich und Lieselotte Breidenbach

Fortsetzung: „Wir werden erwartet“

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Mit dem Bildungsroman „Spiel der Zeit“ knüpft Ulla Hahn nahtlos an „Aufbruch“ an. Die beiden Romane bilden zusammen mit „Das verborgene Wort“ und „Wir werden erwartet“ eine Tetralogie über die Entwicklung einer Arbeitertochter („Kenk vun nem Prolete“) zur Germanistik-Studentin bzw. -Dozentin.

Die Handlung von „Spiel der Zeit“ spielt vor einem Panorama der bundesdeutschen Gesellschaft in den Jahren 1967/68: Ostermärsche und Sitzblockaden, Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, Notstandsgesetze, APO, Sprengung der Vorlesung eines ehemaligen Nationalsozialisten, Schüsse auf Benno Ohnesorg, Martin Luther King und Rudi Dutschke, Mao-Bibel, Prager Frühling, Hippies und Flower Power, Haschisch, sexuelle Revolution, Diskussionen über die Antibaby-Pille auf einem Kirchentag …

Die Sprache in „Spiel der Zeit“ ist rythmisch und ebenso wie in „Das verborgene Wort“ und in „Aufbruch“ mit humorvollen Dialogen in rheinischem Dialekt durchwirkt.

Nur durch einige wenige Rückblenden unterbrochen, reiht Ulla Hahn in „Spiel der Zeit“ chronologisch-linear Anekdoten und Episoden aneinander. Die Figuren sind nicht ganz frei von Klischees, wirken jedoch lebendig, und ihr Verhalten ist nachvollziehbar.

Ulla Hahn lässt zwar ein Alter Ego namens Hilla Palm als Ich-Erzählerin auftreten, meldet sich aber zwischendurch immer wieder selbst zu Wort.

[…] meine Vergangenheit, die ja ihre, Hillas, Gegenwart ist. […] meine Erfindungen, die nicht meine, aber doch Hillas Erfahrungen sind.

[…] lassen wir ihr doch ein wenig Zeit und schicken sie zunächst einmal, angetan mit ihren neuen Jeans und der neuen Bluse, nicht hauteng, locker fallend, aber immerhin weit entfernt von den sackartigen Hüllen der letzten Jahre, in die Stadt.

So sehr ich weiß, dass es weitergehen muss, so dringend mein erzählerisches Pflichtgefühl gebietet, Hilla endlich vorwärtszuschicken ins neue Leben, so mächtig treiben mich meine Gefühle zurück zu den Orten und Menschen meiner Kindheit.

Gern möchte ich, die Verfasserin, in dieser Idylle aus Natur und Gelehrsamkeit verweilen, möchte die Gesellschaft von Hilla und Hugo, Richard und Friedrich fernab jeder Behelligung durch die Wirklichkeit jenseits der Alpen genießen […]

Hilla Palm ist also auf dem Weg zurück. In die Vergangenheit, wollte ich schreiben, aber dieses Zurück ist ja ihre Gegenwart.

Hier möchte ich, die Erfinderin, mich einschalten und ergänzen, dass Hilla vor allem ganz allerliebst aussah in einem sogenannten heißen Höschen.

Hier gönne ich der Autorin wieder ein Wort.

Und hier ergreife wieder ich, die Autorin, das Wort. Fast auf den Tag zehn Jahre später sollte mich ein ähnliches Schicksal wie Gerhard Fricke ereilen. Kurz nach meiner Promotion vertrat ich als Lehrbeauftragte die Professorin Hildegard Brenner in Bremen: „Einführung in die Methoden der Literaturwissenschaft.“ Ein Rotschopf der KPD/ML hatte seine Truppen gegen mich, den „bürgerlichen Wolf im marxistischen Schafspelz“, mobilisiert.

Und dieses Glas reichte der Mixermann Hilla Palm, reichte er mir […]

Schließlich bogen Hilla und Hugo, bogen wir in die Altstraße ein.

Wie weit „Das verborgene Wort“ autobiografisch ist, wissen wir nicht, aber die Parallelen zwischen Hilla Palm und Ulla Hahn sind nicht zu übersehen. Der fiktive Ort Dondorf entspricht Ulla Hahns Geburtsort Monheim zwischen Köln und Düsseldorf. Hilde Palm war übrigens der bürgerliche Name der ab 1936 mit Erwin Walter Palm verheirateten Lyrikerin Hilde Domin (1909 – 2006).

Den Roman „Spiel der Zeit“ von Ulla Hahn gibt es auch als Hörbuch, in einer von Ulla Hahn selbst gekürzten und gelesenen Fassung (Regie: Wolfgang Seesko, ISBN 978-3-8445-1650-0).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

Ulla Hahn: Das verborgene Wort
Ulla Hahn: Aufbruch
Ulla Hahn: Wir werden erwartet

Ferdinand von Schirach - Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück
Der Titel des Lehrstücks bzw. Gerichtsdramas "Sie sagt. Er sagt." verweist bereits auf das juristische Dilemma, wenn im Prozess Aussage gegen Aussage steht. Erläuterungen zu anderen Gesichtspunkten legt Ferdinand von Schirach einer Rechtsmedizinerin und einer psychologischen Sachverständigen in den Mund. Das Ende bleibt nach einer überraschenden Wendung offen.
Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück