William Golding : Der Turm der Kathedrale

Der Turm der Kathedrale
Originalausgabe: The Spire, London 1964 Der Turm der Kathedrale Übersetzung: Hermann Stiehl S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1966
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Dekan Jocelin ist besessen von der Idee, für seine Kathedrale einen neuen, 400 Fuß hohen Turm errichten zu lassen. Über die vernünftigen Einwände des Domkapitels setzt er sich ebenso hinweg, wie über die Berechnungen des Baumeisters Roger Mason, der die Fundamente für zu instabil hält, um einen so gewaltigen Turm tragen zu können ...
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Kritik

Der Roman wird von einer komplexen Metaphorik getragen. "Der Turm der Kathedrale" ist ein besonders ambitioniertes Werk William Goldings, dessen Kunst etwas hinter seinen Ansprüchen zurückbleibt.
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Jocelin, der Dekan der seit einhundertfünfzig Jahren stehenden Münsterkirche der Jungfrau Maria, hält sich für ausersehen, einen neuen, 400 Fuß hohen Turm errichten zu lassen. Der Sakristan Pater Anselm, die anderen Geistlichen, der Kirchendiener Pangall und die Bewohner der Stadt halten Jocelin für verrückt, aber der Dekan beauftragt den Baumeister Roger Mason mit dem Werk. Dessen Arbeiter graben zuerst den Boden unter der Vierung auf, damit Roger nach den Fundamenten sehen kann. Die hält er für viel zu instabil, um einen so hohen Turm tragen zu können, aber Jocelin lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Also öffnet Roger das Gewölbe über der Vierung und beginnt mit dem Bau eines neuen Turmes. Die Messe wird nun statt am Hauptaltar in einer seitlich gelegenen Marienkapelle gelesen.

Als in dem Loch unter der Vierung der Boden abrutscht und Steine von der Decke fallen, ist Roger froh, denn er nimmt an, dass damit die Entscheidung gegen einen Weiterbau gefallen sei. Er hat nicht mit Jocelins Starrsinn gerechnet, der sich eigens mit dem Abt von Malmesbury in Verbindung setzte, um zu verhindern, dass dieser Roger Mason einen anderen Bauauftrag erteilte. Von einer Einstellung der Arbeiten will Jocelin nichts wissen; er ist nicht einmal bereit, sich mit einer geringeren Turmhöhe zufrieden zu geben.

Den Bürgern der Stadt ist es in der Kathedrale inzwischen zu gefährlich, und sie kommen deshalb nicht mehr zur Messe. Die Kirche verödet, und weil das Domkapitel weitere Geldzusagen verweigert, verschuldet der Dekan sich persönlich.

Während Jocelin es genießt, in den Turm hinaufzusteigen, tut Roger es nur, weil es zu seinem Handwerk gehört. Der Dekan weiß sehr wohl, dass die Menschen von „Jocelins Wahn“ reden, aber er sagt zu seinem Baumeister:

„[…] der Wahn ist nicht mein Wahn. Er ist Gottes Wahn. Auch in der alten Zeit hat er von den Menschen nie verlangt, sie sollten das Vernünftige tun. Das können die Menschen von allein. Sie können kaufen und verkaufen, heilen und regieren. Aber dann kommt irgendwoher aus dem Verborgenen der Befehl, etwas zu tun, was keinen Sinn hat – ein Schiff zu bauen auf dem Trockenen, sich zwischen Misthaufen niederzusetzen, eine Hure zu heiraten, den eigenen Sohn auf den Opferaltar zu legen. Wenn dann der Mensch gläubigen Herzens ist, dann entsteht etwas Neues.“ (Seite 194)

Als Jocelin beobachtet, wie Goody Pangall, der Frau des Kirchendieners, mit einem Korb zum Markt gehen will, aber bei Roger stehen bleibt und mit ihm spricht, ahnt er, dass die beiden etwas miteinander haben, obwohl beide verheiratet sind. Kurz darauf glaubt er, einen Mann zu sehen, der mit dem Modell des Turms zwischen den Beinen auf Goody Pangall zuspringt.

Ihr Haar war entblößt. Es ging herab, auf der einen Seite über ihre Brust gebreitet in einer zerfetzten Wolke aus Rot, auf der anderen in einem wirren doppelten Zopf, an dem ein halb losgelöstes grünes Band baumelte. Ihre Hände griffen nach hinten, in Hüfthöhe die Säule umklammernd, und ihr Leib leuchtete am Nabel durch den von jähen Händen aufgerissenen Schlitz in ihrem Kleid. (Seite 158f)

Pangall verlässt seine Frau und die Kathedrale. Bei der nächsten Gelegenheit stellt Jocelin sich Goody in den Weg, bietet ihr seine Hilfe an und versichert ihr, wie teuer sie ihm sei. Aber sie stöhnt nur: „Nicht Ihr auch noch!“ Und stürzt davon. Der Dekan beschließt, die junge Frau, die bereits ins Gerede gekommen ist, nach Stilbury zu schicken, um sie von Roger zu entfernen. Als er zu ihr gehen will, rennt Rogers Frau Rachel wie eine Furie an ihm vorbei:

[…] ehe er noch einen Schritt tun konnte, wurde er heftig angestoßen, dass er taumelte. An seinem rechten Auge zuckte etwas Scharlachrotes auf, und Rachel Mason jagte auf das Haus zu, riss die Tür auf und stürzte hinein. Sogleich krachte drinnen etwas, man kreischte und schrie. Rachel schrie arge Worte. Die Tür flog auf, und der Baumeister stolperte heraus, mit den Händen nach dem Blut an seinem Kopf fassend. Im nächsten Augenblick folgte ihm Rachel. Sie kreischte ihm ihre groben Beschimpfungen nach, sie schlug ihn auf Kopf und Schultern mit einem Besen, und in ihren Fingern hatte sich ein Büschel roten Haars verfangen, das mit dem Besenstiel auf und nieder flatterte […] (Seite 210)

Jocelin betritt das Haus. Goody Pangall kauert mit zerzausten Haaren vor dem Kamin. Er streckt die Hand nach ihr aus, aber sie beginnt zu schreien und schneidet sich die Pulsadern auf. Der Dekan ruft um Hilfe, aber Goody verblutet.

Lady Alison, die Jocelin immer für seine Tante hielt, klärt ihn darüber auf, dass er ihr illegitimer Sohn ist und nur wegen des Skandals von ihrer Schwester aufgezogen wurde. Nicht Gott erkor ihn für das Amt des Dekans, sondern ihr damaliger Liebhaber verschaffte ihm die Pfründe.

Jocelin weiß nicht mehr, was er glauben soll. Der Turm droht immer wieder einzustürzen. Die Säulen der Vierung scheinen sich zu biegen und unter der enormen Spannung zu singen. Der Dekan bringt seinen Baumeister dennoch dazu, das Werk gegen alle Regeln des Handwerks wie vorgesehen zu vollenden.

Dann wird Jocelin von der Rückenmarkstuberkulose, unter der er seit längerer Zeit leidet, aufs Krankenlager niedergezwungen. Pater Anselm pflegt ihn, aber als dieser einmal den Raum verlässt, schleppt Jocelin sich zu Roger, der ebenfalls bettlägrig ist. Immer noch überzeugt, dass der Turm einstürzen müsse, verflucht der Baumeister seinen Auftraggeber und wirft ihn hinaus.

Jocelin stirbt. Der Turm bleibt stehen.

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William Golding erzählt die Geschichte über den „Turm der Kathedrale“ ausschließlich aus der Sicht des Dekans Jocelin, der wider die Vernunft und alle Berechnungen des Baumeisters glaubt, einen enorm hohen Turm auf seine Kathedrale setzen zu müssen. Es ist die Apotheose des Irrationalen. Mit seinem gefährlichen Fanatismus gerät Jocelin in das Spannungsfeld zwischen seinem unbeirrbaren Glauben und seinem Hochmut, zwischen Illusion und Dünkel. Nicht nur Bauarbeiter kommen bei dem Wagnis ums Leben, sondern auch die Ehefrau des Kirchendieners, die mit dem ebenfalls verheirateten Baumeister Unzucht trieb, während sich auch Jocelin nach ihr verzehrte.

William Golding war 1939 bis 1961 Lehrer in Salisbury. So ist anzunehmen, dass er bei „Der Turm der Kathedrale“ an den 1350 vollendeten, 124 Meter hohen Mittelturm der gotischen, Maria geweihten Kathedrale von Salisbury gedacht hat, bei dem es sich um den höchsten Kirchturm Englands handelt. Der Roman wird von einer komplexen, ausgeklügelten Metaphorik getragen. Augenscheinlich geht es um die Antinomien Körper und Geist; der Turm bedeutet nicht nur Geist und Gebet, sondern stellt auch ein Phallussymbol dar, und nicht zufällig assoziiert der Protagonist einmal die den Turm tragende Vierung mit Roger und Rachel Mason, Pangall und Goody. „Der Turm der Kathedrale“ ist ein besonders ambitioniertes Werk William Goldings, dessen Kunst etwas hinter seinen Ansprüchen zurückbleibt.

William Golding (1911 – 1993): Bibliografie (Auswahl)

  • Lord of the Flies (London 1954; Der Herr der Fliegen, Frankfurt/M 1956)
  • The Inheritors (London 1955; Die Erben, Frankfurt/M 1964)
  • Pincher Martin (London 1956; Der Felsen des zweiten Todes, Frankfurt/M 1960)
  • Free Fall (London 1959; Freier Fall, Frankfurt/M 1963)
  • The Spire (London 1964; Der Turm der Kathedrale, Frankfurt/M 1966)
  • Darkness Visible (London 1979; Das Feuer der Finsternis, München 1980)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © S. Fischer Verlag. Die Seitenangaben beziehen sich auf eine Ausgabe
des Coron-Verlags, Zürich o. J., in der Reihe „Nobelpreis für Literatur“ (Band 78).

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