Rainer Werner Fassbinder : Der Müll, die Stadt und der Tod

Der Müll, die Stadt und der Tod
Der Müll, die Stadt und der Tod Manuskript: 1975 Verfilmung: "Schatten der Engel", 1975 Geschlossene Erstaufführung: Frankfurt/M 1985 Uraufführung: New York, 1987
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Handlung spielt im Rotlichtmilieu einer fiktiven Stadt. In dieser kalten, inhumanen Gesellschaft, in der es nur um Kaufen und Verkaufen geht, ist Sexualität eine Ware, und die korrupte Stadtverwaltung arbeitet mit skrupellosen Immobilienspekulanten zusammen. In diesem Kontext wird zugleich der Antisemitismus in der Bundesrepublik in den Sechziger- und Siebzigerjahren thematisiert.
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Kritik

Dass Rainer Werner Fassbinder als Immobilienhai ausgerechnet einen Juden wählte, brachte ihm den (haltlosen) Vorwurf ein, Antisemit zu sein. Aufgrund des öffentlichen Wirbels konnte "Der Müll, die Stadt und der Tod" zu Fassbinders Lebzeiten nicht aufgeführt werden.

Inhaltsangabe (Verfilmung)

Der 1973 veröffentlichte Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ von Gerhard Zwerenz regte Rainer Werner Fassbinder an, 1975 das Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ zu schreiben. Es sollte seine letzte Arbeit für das von ihm in der Spielzet 1974/75 geleitete Frankfurter Theater am Turm (TAT) sein, aber das Stück konnte zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt werden.

„Der Müll, die Stadt und der Tod“ spielt vorwiegend im Rotlichtmilieu einer fiktiven Stadt. Bei den Frauenfiguren handelt es sich um fünf Prostituierte, die Mutter einer Hure und eine Varieté-Sängerin. Rainer Werner Fassbinder stellt Sexualität als käufliche Ware dar und prangert das Zusammenspiel von Stadtverwaltungen und Immobilienhaien bei Stadtsanierungen wie im Frankfurter Westend an. In dieser kalten, inhumanen Gesellschaft geht es nur um Kaufen und Verkaufen.

Gegen die mit der Verdrängung von Villen aus der Gründerzeit durch Bürogebäude verbundene Sanierung des Frankfurter Stadtteils Westend schlossen sich Bürger 1968 in der „Aktionsgemeinschaft Westend“ (AGW) zusammen. Zu den Spekulanten, die im Westend Altbauten erwarben und sich den Abriss von der Stadtverwaltung genehmigen ließen, gehörte Ignaz Bubis (1927 – 1999), der spätere FPD-Politiker und Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland (1992 – 1999). Die Beteiligung jüdischer Investoren an der Sanierung des Westends wurde so heftig angeprangert, dass der Journalist Wilfried Ehrlich am 28. Oktober 1971 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb: „Wer soll da noch Häuser bauen? Jüdische Bauherren fühlen sich als Opfer einer antisemitischen Kampagne“.

Die Figur des Immobilienhaies „der reiche Jude“ (später: „A., genannt der Reiche Jude“) in „Der Müll, die Stadt und der Tod“ ist selbstverständlich ein Stereotyp. Kritiker warfen Rainer Werner Fassbinder vor, damit altbekannte Vorurteile gegen Juden zu untermauern. Tatsächlich wird dieser Mann weit weniger abstoßend dargestellt als sein erfolgloser Konkurrent Hans von Gluck. Deshalb ist anzunehmen, dass es Rainer Werner Fassbinder darum ging, das Klischee des reichen Juden zu dekonstruieren. Michel Friedman, der 1981 im Alter von 25 Jahren in den Rat der jüdischen Gemeinde in Frankfurt gewählt wurde, kritisiert vor allem, dass die antisemitischen Tiraden der Figur Hans von Gluck („Er saugt uns aus, der Jud“; „und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht“) in „Der Müll, die Stadt und der Tod“ unwidersprochen bleiben. Aber Michel Friedman geht nicht so weit wie andere Kritiker, die Rainer Werner Fassbinder unterstellen, er sei ein Antisemit bzw. ein Linksfaschist.

Befeuert wurde die Kontroverse um das Stück nicht zuletzt durch einen Artikel, den Joachim C. Fest am 19. März 1976 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichte. Er trug den Titel „Reicher Jude von links“. Rainer Werner Fassbinder sah sich veranlasst, klarzustellen, dass die antisemitische Einstellung seiner Figur Hans von Gluck nichts mit seiner eigenen Überzeugung zu tun habe. Seine Erklärung erschien am 31. März in der „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift „Meine Sorge: ein neuer Faschismus“.

Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte „Der Müll, die Stadt und der Tod“ im Frühjahr 1976 (Lektor: Karlheinz Braun). Einige Wochen zuvor, am 31. Januar beim Filmfestival Solothurn, war bereits die Verfilmung „Schatten der Engel“ vorgeführt worden. Regisseur war der mit Rainer Werner Fassbinder befreundete Schweizer Daniel Schmid. Der Film kam im Mai 1976 ins Fernsehen (HR3) und im August 1977 in die Kinos. Am 28. November 1976 fand eine szenische Lesung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ im Schauspielhaus Bochum statt (Regie: Peer Raben). Zu diesem Zeitpunkt hatte der Verlag das Buch bereits eingestampft.

Ulrich Schwab (* 1941), der 1972 bis 1979 mit Christoph von Dohnányi und Peter Palitzsch gemeinsam die Städtischen Bühnen Frankfurts leitete, 1979 Gründungsgeschäftsführer und zwei Jahre später Intendant der am 28.August 1981 wiederöffneten Alten Oper Frankfurt wurde, wollte „Der Müll, die Stadt und der Tod“ vom 30. August bis 9. September 1984 im Rohbau der U-Bahn-Station „Alte Oper“ uraufführen. Mit der Begründung, in der Alten Oper sei kein Sprechtheater zugelassen, verhinderte der Aufsichtsrat unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters Walter Wallmann dieses Vorhaben. Die Stadt zahlte das Ensemble aus, wobei die Schauspieler sich allerdings schriftlich verpflichten mussten, mindestens bis 31. März 1985 an keiner Aufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ mitzuwirken. (Am 10. März 1985 fanden in Frankfurt am Main Kommunalwahlen statt!) Die Auseinandersetzungen führten zur Entlassung Ulrich Schwabs.

Günther Rühle (* 1924), der Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, den der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann im November 1984 als Intendant des Schauspiels Frankfurt gewann, bereitete mit dem Regisseur Dietrich Hilsdorf (* 1948) die Uraufführung des Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ für 31. Oktober 1985 mit Ellen Schulz als Roma B. vor. Zum vorgesehenen Zeitpunkt demonstrierten etwa tausend Menschen vor dem Gebäude gegen „subventionierten Antisemitismus“. 25 bis 30 Vertreter der jüdischen Gemeinde besetzten die Bühne und verhinderten die geplante Aufführung. Fassbinders Stück musste abgesetzt werden. Daran änderte auch eine „Wiederholungsprobe“ am 4. November 1985 vor 100 bis 150 Journalisten nichts.

Die eigentliche Urauffürung erfolgte am 16. April 1987 am NoHo Theatre in New York unter der Regie von Nick Fracaro. In Europa wurde das Stück ab 7. November 1987 wochenlang im Mammuttheater in Kopenhagen gespielt (Regie: Klaus Hoffmeyer), aber in den Niederlanden, wo Erstaufführungen am 18. November in Rotterdam und am 23. November in Amsterdam geplant waren, musste es aus dem Spielplan genommen werden.

Literatur über „Der Müll, die Stadt und der Tod“

  • Janusz Bodek: Die Fassbinder-Kontroversen. Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung (Frankfurt/M 1991)
  • Janusz Bodek: Ein „Geflecht aus Schuld und Rache“? Die Kontroversen um Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. In: Stefan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust (Frankfurt/M, New York 1998)
  • Janusz Bodek: Fassbinder ist nicht Shakespeare, Shylock kein Überlebender des Holocaust. Kontroversen um „Der Müll, die Stadt und der Tod“. In: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (Stuttgart 2007)
  • Reiner Diederich, Peter Menne (Hg.): Der Müll, die Stadt und der Skandal. Fassbinder und der Antisemitismus heute (Frankfurt 2015)
  • Wanja Hargens: „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte (Berlin 2010)
  • Holger Ihle: Zur Kontroverse um das Fassbinder-Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (München 2007)
  • Peter Menne: Die Dramatisierung eines Romans. Eine vergleichende Untersuchung zu Gerhard Zwerenz: „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ und Rainer Werner Fassbinder „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (Magisterarbeit, Philipps-Universität Marburg 1997; Aschaffenburg 2018)
  • Moishe Postone: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen (Freiburg i. Br. 2005)
  • Schauspiel Frankfurt (Hg.): Fassbinder ohne Ende. Eine Dokumentation anlässlich der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (Frankfurt/M 1985)
  • Schauspiel Frankfurt (Hg.): Der Fall Fassbinder. Dokumentation des Streits um „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (Frankfurt/M 1987)


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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2015
Wichtige Quelle: Reiner Diederich, Peter Menne (Hg.): Der Müll, die Stadt und der Skandal.
Fassbinder und der Antisemitismus heute (Frankfurt 2015)

Daniel Schmid: Schatten der Engel

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