Ein Dorf schweigt

Ein Dorf schweigt

Ein Dorf schweigt

Originaltitel: Ein Dorf schweigt – Regie: Martin Enlen – Drehbuch: Henriette Piper – Kamera: Philipp Timme – Schnitt: Monika Abspacher – Musik: Dieter Schleip – Darsteller: Katharina Böhm, Uwe Kockisch, Inka Friedrich, Frederick Lau, Stephan Kampwirth, Kara McSorley, Amon Robert Wendel, Cecile Bagieu, Dagmar Leesch, Nicole Marischka, Fritz Roth, Dorothea Walda u.a. – 2009; 90 Minuten

Inhaltsangabe

Als sich im Mai 1945 schlesische Flüchtlinge – Frauen und Kinder – einem hessischen Dorf nähern, werden sie beschimpft und mit Steinen beworfen. Gleich darauf sterben drei Kinder aus dem Dorf bei einer Minenexplosion. Johanna Dawe aus Breslau soll mit ihren beiden Kindern und dem verwaisten Jugendlichen Heinz Zedlitz im Pfarrhaus unterkommen, aber der Pfarrer weigert sich, sie aufzunehmen. Widerwillig findet sich Gisela Hofmann, deren Ehemann vermisst wird und deren Sohn unter den Toten sein soll, mit der Einquartierung ab ...
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Kritik

"Ein Dorf schweigt" ist ein ernster und vielschichtiger Film. Die Lebensverhältnisse in einem hessischen Dorf im Mai 1945 wurden bis in die Details sorgfältig nachgestellt. Realistisch wirkt die Handlung auch aufgrund der zurückhaltenden Inszenierung und der überzeugenden Darsteller.
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Im Mai 1945 rattert ein Lastwagen über eine holprige Zufahrtstraße zu einem hessischen Dorf. Auf der Ladefläche drängen sich Frauen und Kinder: Flüchtlinge aus Schlesien. Aus dem Dorf kommen Kinder angerannt, beschimpfen die Ankömmlinge als „Kartoffelkäfer“ und bewerfen sie mit Steinen: „Haut ab!“ Ein Jugendlicher springt vom Lastwagen und vertreibt die Schar. Die johlenden Kinder laufen über ein Feld davon. Eines von ihnen tritt auf eine Mine. Bei der Explosion kommen drei Kinder ums Leben.

Während die Flüchtlinge im Dorf vom Lastwagen klettern, rennen die Bewohner zu der Unglücksstelle. Der Bürgermeister (Wilfried Dziallas) drückt einer der Flüchtlingsfrauen – Johanna Dawe (Katharina Böhm) – die Einquartierungsscheine in die Hand und folgt den anderen aufs Feld.

Johanna Dawe aus Breslau scheint Glück zu haben: Sie soll mit ihren Kindern Ulrike und Fritz (Kara McSorley, Amon Robert Wendel) sowie dem verwaisten Jugendlichen Heinz Zedlitz (Frederick Lau) im Pfarrhaus unterkommen. Doch die Tür ist verschlossen. Erst nach längerer Zeit taucht der Pfarrer Carl Beppler (Uwe Kockisch) auf. Er behauptet barsch, er könne sie nicht aufnehmen. Als Johanna verzweifelt fragt, was sie machen soll, rät er ihr verbittert, es bei Gisela Hofmann (Inka Friedrich) zu versuchen, die habe ja jetzt Platz. Ihr fünfzehnjähriger Sohn Walter kam bei der Minenexplosion ums Leben, und ihr Mann wird vermisst.

Giselas Onkel, der Bürgermeister, sorgt dafür, dass sie die Gruppe ins Haus lässt, wenn auch widerwillig. Johanna, Ulrike, Fritz und Heinz sollen in einer mit Gerümpel vollgestellten Kammer schlafen. Als Giselas altersdemente Schwiegermutter Frieda (Dorothea Walda) die Tür zum Wohnzimmer öffnet, um sich einen Schnaps zu holen, staunen die Flüchtlinge über den großen Raum und drängen hinein. „Ich lasse mir doch nicht meinen Salon verlausen“, schimpft Gisela, aber sie muss klein beigeben.

Durchs Fenster sehen sie, wie amerikanische Militärpolizisten aus einer Scheune nebenan einen Nationalsozialisten zerren, der sich dort versteckte. Sie nehmen ihn im Jeep mit.

Auf den Rücken der Aktenordner im Bürgermeisteramt prangt noch der Reichsadler. Nur das Hakenkreuz wurde abgekratzt. An der Wand markiert ein heller Fleck die Stelle, an der bis vor kurzem das vorgeschriebene Hitler-Porträt hing.

Als Gisela merkt, dass Johanna alles tut, um ihr möglichst wenig zur Last zu fallen, wird sie etwas freundlicher, und nachdem sie sich vergewissert hat, dass die Flüchtlingsfrau keine Läuse hat, erlaubt sie ihr, in dem kleinen Friseursalon mitzuhelfen, den sie auf ihrem Bauernhof eingerichtet hat.

Die bei der Minenexplosion getöteten Kinder werden bestattet. Es fällt auf, dass der Pfarrer bei Martin Hofmann den Segen weglässt. Trauergäste tuscheln darüber: „Dass er so weit geht!“ Während des Begräbnisses taucht ein ausgezehrter Kriegsheimkehrer auf. Es ist Paul Hofmann (Stephan Kampwirth). Als er seine Frau in Trauerkleidung vor dem offenen Grab stehen sieht, begreift er, dass sein Sohn tot ist und bricht schluchzend zusammen.

Inzwischen haben die beiden ausgehungerten Kinder Ulrike und Fritz den ganzen Kuchen verschlungen, den Gisela für den Leichenschmaus gebacken und auf den Tisch gestellt hat. Sie müssen sich übergeben. Eigentlich hätte Heinz auf die Kinder aufpassen sollen, doch er ist beim Hamstern und auf dem Schwarzmarkt.

Paul ist durch die Kriegsgräuel und den Tod seines Sohnes verstört. Im Dorf ist ihm alles fremd. Seiner Frau wirft er vor, bis zuletzt an Hitler geglaubt zu haben. Als sie zu Bett gehen, versucht er sie zu vergewaltigen.

Mit Johanna versteht er sich besser als mit seiner Ehefrau. Eifersüchtig beobachtet Gisela die beiden und beschimpft Johanna als „schlesisches Flittchen“.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Aus Getreide, das Heinz und die Kinder auf umliegenden Feldern gesammelt haben, bereitet Johanna schlesische Nudeln zu, auch für Paul und Gisela. Die Nudeln kochen gerade, als der bestohlene Bauer Willi Kreilich (Fritz Roth) mit seiner Tochter Liesel (Cecile Bagieu) auftaucht und Regress verlangt. (Wer das Getreide genommen hat, weiß er vermutlich von Gisela.) Geistesgegenwärtig behauptet Paul, die aus dem Getreide hergestellten Nudeln seien als Überraschungsgeschenk für Liesel gedacht gewesen. Willi probiert von den Nudeln, und weil sie ihm schmecken, beauftragt er Johanna, für die bevorstehende Verlobungsfeier seiner Tochter Nudeln für fünfzig Gäste zu kochen. Das Getreide bekommt sie selbstverständlich von ihm.

Der Erfolg bringt Johanna auf die Idee, mit ihren selbst gemachten schlesischen Nudeln ein kleines Geschäft aufzubauen. Doch Heinz wird mit den Nudeln auf dem Schwarzmarkt vorübergehend festgenommen, und Gisela denunziert Johanna bei den Amerikanern. Ein Militärpolizist überprüft den Fall, aber es stellt sich heraus, dass Johanna das Getreide ordnungsgemäß von dem Bauern Willi Kreilich bekam.

Aufgrund dieses Vorfalls hält Johanna es nicht länger mit Gisela unter einem Dach aus. Sie verlangt deshalb vom Bürgermeister, den Pfarrer zu zwingen, sie nun doch im Pfarrhaus einzuquartieren. Diesmal sträubt Carl Beppler sich nicht dagegen; nur dem Bürgermeister verwehrt er den Eintritt.

Durch einen Brief erfährt Johanna, dass ihr Mann im Januar 1943 in Stalingrad durch einen Bauchschuss ums Leben kam.

Im Pfarrhaus macht Johanna sich nützlich. Schließlich gelangt sie in ein offenbar schon lange nicht mehr gelüftetes Zimmer, in dem alles verstaubt ist. Sie fängt an aufzuräumen, aber da kommt der Pfarrer und verbietet es ihr. Es handelt sich um das Zimmer seines Sohnes Martin. Der musste im Frühjahr 1945 noch zum Volkssturm. Als er desertierte, wurde er von Walter Hofmann denunziert und drei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner bei einer Mühle oberhalb des Dorfes erschossen. Carl Beppler, der im Krieg auch seine Frau und die anderen beiden Söhne verloren hatte, musste dabei hilflos zusehen. Das Dorf sei voller Wölfe im Schafpelz, stöhnt er, und er sei voller Hass auf die Heuchler.

Im Wald stößt Johanna mehrmals auf einen Fünfzehnjährigen, der sich dort versteckt (Aljosha Horvat). Sie hat auch beobachtet, dass Gisela jeden Tag mit dem Fahrrad in den Wald fährt. Aber nicht einmal Paul weiß bis jetzt, dass sein Sohn Walter gar nicht tot ist, sondern sich vor den Amerikanern im Wald versteckt. Schließlich erfährt er es und folgt seiner Frau in den Wald. Walter Hofmann geht daraufhin in die Kirche zum Pfarrer und bittet ihn um Vergebung, aber Carl Beppler antwortet: „Das kann ich nicht.“

Johanna packt ihre Sachen. Sie will mit ihren Kindern und Heinz nach Frankfurt am Main.

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Henriette Piper (Drehbuch) und Martin Enlen (Regie) beschäftigen sich in ihrem Fernsehdrama „Ein Dorf schweigt“ mit dem Thema Flucht und Vertreibung, vor allem mit der schwierigen Aufgabe, Flüchtlinge und Vertriebenen aufzunehmen. Gleich zu Beginn ist zu sehen, wie die ankommenden Flüchtlinge als „Kartoffelkäfer“ – also als Parasiten – beschimpft werden. Es geht in „Ein Dorf schweigt“ aber auch um erschöpfte und verstörte Kriegsheimkehrer, die sich in der Heimat nicht mehr zurechtfinden und nun im Vergleich mit ihren Frauen, die jahrelang ohne sie zurechtkommen mussten, schwach wirken. Im Nachspann lesen wir denn auch die Widmung „Für unsere Mütter und Großmütter, die uns durch ihren Mut und ihre Kraft eine Zukunft gegeben haben“. – Außerdem beleuchten Henriette Piper und Martin Enlen in „Ein Dorf schweigt“ anhand von einzelnen Figuren die Spannungen zwischen den Ortsansässigen, die dem NS-Regime kritisch gegenüberstanden und früheren Nationalsozialisten bzw. zwischen Denunzianten und ihren Opfern. Bevor ein Neuanfang möglich ist, müssen diese Konflikte erst aufgearbeitet werden.

Die Themenvielfalt ist für neunzig Minuten fast zu hoch. „Ein Dorf schweigt“ ist ein ernster und vielschichtiger Film. Die Lebensverhältnisse in einem hessischen Dorf im Mai 1945 wurden bis in die Details sorgfältig nachgestellt; das gilt nicht nur für die Requisiten und Kostüme, sondern gleichermaßen für die Atmosphäre. Realistisch wirkt die Handlung auch aufgrund eines durchdachten Drehbuchs und einer zurückhaltenden Inszenierung. Nur in den (zu langen) Sequenzen über Johannas Nudelgeschäft verliert der Film an Niveau. Wenn Johanna den GIs ihre schlesischen Nudeln probieren lässt und dann auch noch einen amerikanischen Offizier zum Nudelessen ins Pfarrhaus einlädt, wirkt das verkitscht. Sehenswert ist „Ein Dorf schweigt“ nicht zuletzt wegen der hervorragenden Besetzung. Besonders eindrucksvoll sind dabei Inka Friedrich, Stephan Kampwirth, Uwe Kockisch und Katharina Böhm.

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Inhaltsangabe und Filmkritik: © Dieter Wunderlich 2009

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