Doris Dörrie : Alles inklusive

Alles inklusive
Alles inklusive Originalausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 2011 ISBN: 978-3-257-06781-1, 251 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Sommer 1976 verbringt Ingrid einige Wochen mit ihrer Tochter Apple in Torremolinos, um selbst gebastelten Schmuck zu verkaufen. Sie beginnt eine Affäre mit Karl Birker, der dort mit seiner Ehefrau und dem Sohn in einem Ferienhaus wohnt. Als Heike Birker merkt, dass sie betrogen wird, nimmt sie sich das Leben. 30 Jahre später treffen Ingrid, Apple, deren Freundin Susi, Karl und dessen Sohn Tim, der sich jetzt Tina nennt, wieder in Torremolinos zusammen ...
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Kritik

Die burleske Gesellschaftssatire "Alles inklusive" besteht aus mehreren locker miteinander verbundenen Episoden. Doris Dörrie erzählt abwechselnd aus den Blickwinkeln von vier Figuren, wobei die Perspektiven sich ergänzen.
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Ingrid jobbt in Göttingen als Bedienung in einer Studentenkneipe. Um ein paar Wochen lang mit dem Verkauf selbst gebastelter Perlenketten und gestohlener, zu Armreifen gebogener Gabeln mehr Geld zu verdienen, reist sie im Sommer 1976 mit ihrer pubertierenden Tochter Apple nach Torremolinos. Eine Pension oder gar ein Hotel können sie sich nicht leisten; sie schlafen im Zelt. Obwohl Apple noch keine Brüste hat, lässt sie sich am Strand nicht ohne Bikini sehen – im Gegensatz zu ihrer Hippie-Mutter, die nur ein paar bunte Halsketten trägt und die Touristen in Badebekleidung für Spießer hält.

Ausgerechnet mit einem dieser Spießer beginnt sie eine Affäre. Karl Birker, seine einunddreißigjährige Ehefrau Heike und der zwölf Jahre alte Sohn Tim sind aus Hannover. Zum dritten Mal verbringen sie ein paar Sommerwochen in dem Ferienhaus mit Swimmingpool in Torremolinos, das Heike Birker gehört.

Der Seitensprung ihres Mannes bleibt ihr nicht verborgen. Am 17. August 1976 sieht Tim seine Mutter mit aufgeschnittenen Pulsadern im Pool treiben. Sie ist tot.

Dreißig Jahre später: Apple lässt sich von Susi, einer Journalistin, die für eine Frauenzeitschrift schreibt, über ihre gescheiterten Ehen befragen. Vor etwa zehn Jahren, als sie in München wohnte und für den Bayerischen Rundfunk arbeitete, verliebte sie sich in einen Kollegen. Am Hochzeitstag betrog Simon sie bereits mit einer anderen Frau. Aber das erfuhr sie erst später. Und es dauerte auch einige Zeit, bis sie feststellte, dass er mit der von ihr erteilten Bankvollmacht ihre Konten geplündert hatte. Nach der Scheidung blieb Apple mit 26 000 Euro Schulden zurück. Der Nächste hieß Peter. Der gab sich als Hausmeister aus und ließ sich alles von ihr bezahlen, obwohl er in Wirklichkeit schwerreich war. Seinetwegen kündigte Apple beim Bayerischen Rundfunk und zog nach Berlin. Vor der Trauung zwei Jahre später zwang Peter ihr einen sechsunddreißig Seiten langen Ehevertrag auf. Kurz nach der Hochzeit lernte er eine andere Frau kennen und verließ Apple. Die Ehe wurde nach nur sechs Monaten geschieden. Vor knapp einem Jahr verliebte sich Apple auf dem Flug von Berlin nach München, wo sie ihre Mutter besuchen wollte, in den Passagier, der neben ihr saß. Acht Monate lang schickte sie Georg täglich eine SMS, bis er sie endlich anrief. Es sei ihm nicht leicht gefallen, sich aus seiner bestehenden Beziehung zu lösen, sagte er. In zwei Monaten will Apple zu ihm nach München ziehen.

Susi und Apple werden Freundinnen.

Ralf, der Ehemann der Journalistin, muss dreimal pro Woche zur Dialyse. Vor sieben Jahren wollten sie zu einer drei Monate langen Tour durch Afrika aufbrechen und ließen sich medizinisch untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass Ralfs Nieren durch eine übersehene Diabetes irreversibel angegriffen waren. Susi erzählt Apple, ihr erster Freund sei Epileptiker gewesen und dem zweiten habe man ein Bein amputiert.

Ohne Wissen ihres Mannes fliegt Susi mit 20 000 Euro in der Handtasche nach Almería und trifft sich dort mit der Immobilienmaklerin Angela („Angelita“) aus St. Leonhard im Forst bei Weilheim, die seit sechsundzwanzig Jahren in Spanien lebt und dort fünf Kinder aufgezogen hat.

Angela lässt die Interessentin am Flughafen erst einmal warten, um sie zu verunsichern. Dann fährt sie mit ihr zur Abschreckung in die Betonwüste Urbanisación Las Roquetas. Erst während eines späten Mittagessens erwähnt sie das Objekt, das sie privat vermitteln will: eine alte Villa in den Bergen. Der Besitzer, ein Deutscher namens Königsdorf, brachte jahrzehntelang Landsleute dazu, in schlampig und illegal gebaute Wohnanlagen zu investieren. Unter der Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero wurde die Korruption eingedämmt. Der Bürgermeister kam ins Gefängnis. Königsdorf setzte sich vor einem Jahr aus Spanien ab und beauftragte Angela, die Villa zu verkaufen und versprach ihr zehn Prozent Provision.

Vertrauensvoll beugt Angelita sich über den Tisch. Jetzt san wir doch mal ehrlich: Hier sieht’s doch nicht anders aus als in Neuperlach, nur mit dem Unterschied, dass die Sonne scheint. Hab ich recht oder hab ich recht?
Susi spießt die letzte Gamba mit einem Zahnstocher auf […]
Bingo, denkt Angelita. Ich habe da nur noch ein einziges Objekt, sagt sie langsam und wedelt gleichzeitig dieses Objekt fort wie eine lästige Fliege, behält Susi über ihr Weinglas hinweg jedoch genau im Blick. Aber das ist wahrscheinlich nichts für Sie. Es liegt nicht am Meer, sondern einsam oben in den Bergen, mit Blick übers Meer, das ganze weite Meer …
Susi reagiert nicht. Sorgfältig wischt sie den letzten Tropfen Öl mit einem Brocken Weißbrot aus ihrem Tapaschälchen.
Es ist ein altes Haus, fährt Angelita fort, ein Bauernhaus, eine Finca … […]
Finca?, sagt Susi endlich, und Angelita atmet auf. Das was die Italiener rustico nennen?, fragt Susi spöttisch, ein komplett renovierungsbedürftiges Haus, das man nur noch den Deutschen verkloppen kann? Meinen Sie so was?

Als Susi die Villa sieht, ist sie begeistert, lässt sich jedoch nichts anmerken, um den Preis nicht in die Höhe zu treiben. Plötzlich wird ihr übel; sie muss sich übergeben und hat Durchfall. Offenbar waren die Gambas nicht mehr frisch. Als die beiden Frauen das Haus verlassen wollen, klemmt die Haustüre. Sie sitzen fest, und ihre Handtaschen mit den Handys liegen im unverschlossenen Auto. Susi denkt besorgt an die 20 000 Euro Bargeld, die sie eigens mitnahm, um gegebenenfalls Konkurrenten mit einer sofortigen Anzahlung aus dem Rennen werfen zu können. Als es dunkel wird, zünden Susi und Angela Kleidungsstücke an, die sie in den Schränken finden, und halten sie wie eine Fackel an einem Besenstiel durchs Fenster ins Freie, bis schließlich eine der afrikanischen, nur mit Slip und BH bekleideten Prostituierten auftaucht, die zwischen den Büschen auf Freier warten.

Weil Ralf die Villa zu abgelegen ist, kaufen er und Susi sich stattdessen ein Haus auf Ibiza.

Dorthin lädt Susi ihre Freundin Apple ein, als diese von Georg verlassen wird und sich mit Selbstmord-Gedanken trägt.

Ralf hat inzwischen eine neue Niere. Er glaubt, viel nachholen zu müssen und entdeckt seine Vorliebe für Männer.

Er und Susi fahren mit ihrer Besucherin zum Nacktbadestrand und ziehen sich dort aus. Apple öffnet nicht einmal ihre Bluse. Ihr fällt auf, dass Susi ihr Schamhaar rasiert hat, wie es inzwischen Mode ist, und ihre „schlappen Schamlippen“ deshalb deutlich zu sehen sind. Während sie allein am Strand sitzt, denkt sie an Georg, und die Gefühle werden übermächtig. Weinend läuft sie ins Wasser – und streift mit dem Unterschenkel Tentakel einer Feuerqualle. Als sie mit schmerzendem Bein im Sand liegt, wird sie von Nackten umringt, und sie blickt von unten auf deren Genitalien. Die Männer diskutieren, bis einer achselzuckend seinen Penis ergreift, auf Apples Bein zielt und pinkelt. Das soll helfen.

Ingrid – sie ist inzwischen sechsundsechzig Jahre alt – verbringt nach einer Hüftoperation zwei Wochen im schäbigen Hotel Estrella de Mar an der Schnellstraße nach Málaga in Torremolinos. Apple bezahlte ihr die Reise und den Aufenthalt „allinc“ (alles inklusive).

Als Ingrid, die noch auf Krücken angewiesen ist, eine Fußpflegerin kommen lässt, stellt sie zu ihrer Überraschung fest, dass es sich um Tim Birker handelt. Er nennt sich jetzt Tina und ist Transvestit. Ihre Mutter sei hier begraben, erzählt Tina, und ihr Vater lebe in einem Seniorenheim in Torremolinos. Dass Heike sich wegen des Ehebruchs das Leben nahm, hat Tina Karl und Ingrid nicht verziehen. Aber sie besucht ihren Vater mit Ingrid zusammen im Seniorenheim.

Am Strand schreckt Ingrid aus einem Nickerchen hoch. Ihre Hüfte schmerzt heftig. Ein halb verdursteter und verhungerter, nur mit roten Shorts bekleideter Afrikaner klammert sich an ihr Bein. Ingrid geht mit ihm zur Straße hinauf, um ihm eine Flasche Wasser zu kaufen, aber die Läden sind bereits geschlossen. Schließlich hält sie ein Taxi an und drängt den Fahrer, dem Flüchtling die halb volle Cola-Flasche zu geben, die er bei sich hat. Der Schwarze trinkt gierig – und erbricht sich sofort. Ingrid nimmt ihn mit zum Hotel und bedeutet ihm, sich in den Rasenspenger zu knien. Später holt sie ihn heimlich ins Zimmer. Am nächsten Morgen will sie das Frühstück mit ihm teilen, aber es ist verboten, etwas vom Frühstücksbüffet mit aufs Zimmer zu nehmen. Immerhin gelingt es ihr, Croissants, eine Orange und einen Joghurt in der Handtasche aus dem Restaurant zu schmuggeln.

Bald darauf verschwindet der Flüchtling.

Ingrid bleibt in Torremolinos, obwohl aus dem Fischerdorf eine Bettenburg geworden ist. Durch Tinas Vermittlung erhält sie einen Job als Bedienung in einer Transvestitenbar.

Tina verliebte sich vor einiger Zeit in eine Mexikanerin, die sich als Mann ausgab. Ihr Bruder war bei der Flucht über die Grenze in der Wüste von Arizona verdurstet, aber sie hatte es geschafft. Diego – so nannte sie sich inzwischen – und Tina wurden ein Paar, Tina als Frau, Diego als Mann. Gemeinsam fuhren sie die Ferienhäuer von Deutschen ab und gaben sich als Mitarbeiter der Gas- und Elektrizitätswerke Fuerza y Luz aus. Angeblich mussten sie gesetzlich vorgeschriebene Wartungsarbeiten durchführen, und dafür kassierten sie jeweils 399 Euro in bar. Innerhalb von vier Wochen brachten sie auf diese Weise 6000 Euro zusammen. Es ging alles gut, bis sie zu dem Ferienhaus kamen, das einmal Heike Birker gehört hatte. Tina brachte es nicht fertig, die neuen Mieter zu betrügen, redete mit ihnen auf Deutsch und erklärte, der Service sei kostenlos. Diego stand verständnislos dabei.

Diego schrie im Wagen wie am Spieß vor Wut.
Aber mi amor, beruhige dich, sagte ich, es ist doch nichts passiert. Wir könnten vielleicht in das Haus ziehen, sie kommen doch nur zweimal im Jahr, Ostern und im August. Stell dir vor, wir hätten dann sogar einen Pool!
Du Trottel hast deine Identität preisgegeben, du hast deutsch gesprochen!

Kurz darauf verschwand Diego mit dem Geld.

Apple lässt ihren Mops, den sie „Freud“ ruft, an der Hüfte operieren und schläft mit dem Tierarzt Dr. Fellhorn. Weil Freud auch nach der Operation nicht laufen mag, kauft sie ihm einen Rollwagen für die Hinterbeine.

Dass sie den Hund ins Büro verbotenerweise mit ins Büro brachte, nutzt der Bayerische Rundfunk als Kündigungsgrund.

Als Apple einen Flug für zwei Personen nach Málaga gewinnt, kommt Susi zu ihr nach München und begleitet sie. Ingrid holt die beiden vom Flughafen ab. Sie habe an diesem Morgen ihre Unterwäsche nicht gefunden, erzählt sie, und Susi hat tatsächlich den Eindruck, dass sie weder Slip noch BH trägt. Ingrid bringt die Besucherinnen in die Villa, in der Heike Birker gestorben war. Sie wohnt dort mit Tina. Auch Karl ist da. Erst wenn die Besitzer im August wieder hier Ferien machen, muss er zurück ins Seniorenheim.

Als wir mit Rosensträußen und Kräutern im Arm ins Haus zurückkommen, ist der Hund tot. In den Pool gefallen und ersoffen, weil er wegen seines Gipskorsetts nicht schwimmen kann. Er liegt auf dem Rücken auf einem roten Badehandtuch, alle vier Beine in die Luft gestreckt, als stemme er den Himmel.

Tina will keinen weiteren Toten im Pool, und tatsächlich gelingt es ihr, den Mops mit Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben.

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Die burleske Gesellschaftssatire „Alles inklusive“ von Doris Dörrie besteht aus mehreren locker miteinander verbundenen Episoden. Ein Rahmen ergibt sich daraus, dass die erste und die letzte Episode im selben Ferienhaus in Torremolinos spielen, wenn auch im Abstand von dreißig Jahren. Doris Dörrie erzählt in „Alles inklusive“ abwechselnd aus den Blickwinkeln von Apple, Ingrid, Susi und Tim/Tina. Das ist reizvoll, weil sich diese Perspektiven hin und wieder ergänzen und erst in der Zusammenschau ein fertiges Bild ergeben.

Den Roman „Alles inklusive“ von Doris Dörrie gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Maria Schrader, Maren Kroymann, Petra Zieser und Pierre Sanoussi-Bliss (Regie: Elisabeth Aoui, Zürich 2011, 5 CDs, ISBN 978-3-257-80309-9).

Doris Dörrie verfilmte ihren Roman auch: „Alles inklusive“ mit Hannelore Elsner, Nadja Uhl, Hinnerk Schönemann u.a.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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