Julia Deck : Viviane Élisabeth Fauville

Viviane Élisabeth Fauville
Originalausgabe: Viviane Élisabeth Fauville Les Éditions de Minuit, Pais 2012 Viviane Élisabeth Fauville Übersetzung: Anne Weber Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013 ISBN: 978-3-8031-3251-2, 141 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Viviane Élisabeth Fauville ist 42 Jahre alt. Am 23. August 2010 gebar sie ihr erstes Kind. Ihr Ehemann trennte sich von ihr. Seit drei Jahren geht sie regelmäßig zu einem Psychiater. Den ersticht sie am 16. November. Die Polizei vernimmt sie, weil sie am Vormittag mit ihm telefonierte und zur Tatzeit einen Termin bei ihm hatte. Obwohl die Ermittler ihre Erklärungen als Lügen entlarven, wird sie nicht festgenommen, auch später nicht, als sie den Mord gesteht ...
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Kritik

Obwohl sich die Handlung um einen Mordfall dreht, ist "Viviane Élisabeth Fauville" nur vordergründig ein Thriller. Julia Deck erzählt knapp, konzentriert und verdichtet. Der größte Teil des Textes steht in der zweiten Person Singular.
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Viviane Élisabeth Fauville ist 42 Jahre alt und lebt in Paris. Am 23. August 2010 gebar sie ihr erstes Kind. Ihr Ehemann, der ein Jahr ältere Bauingenieur Julien Antoine Hermant, beschloss am 30. September, sich von ihr zu trennen, und am 15. Oktober zog Viviane mit dem Baby aus der gemeinsamen Mietwohnung in eine andere um. Sie hat zwar eine Kinderfrau gefunden, aber ihre Tätigkeit als Kommunikationsbeauftragte der Firma Bétons Biron aus gesundheitlichen Gründen noch nicht wieder aufgenommen. Vertreten wird sie von einer Frau namens Héloïse.

Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen.

Vor drei Jahren wusste Viviane Élisabeth Fauville vor einem Croissant-Stand in einer U-Bahn-Station plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte. Man brachte sie deshalb in ein Krankenhaus, und auf Anraten der Ärzte ist sie seither regelmäßig zu dem Psychiater Jacques Sergent gegangen, obwohl sie sich schon lange über den ausbleibenden Erfolg geärgert hat. Am 16. November erstach sie ihn. Das Messer gehörte zu einem achtteiligen Set, das sie an diesem Tag aus der alten Wohnung geholt hatte, zu der sie noch Schlüssel besitzt. Zu Hause reinigte sie die Tatwaffe und fütterte dann ihre kleine Tochter.

Am 17. November will sie das Messerset zurückbringen. Madame Urdapilla, die Concierge, meint, Monsieur Hermant sei da gewesen und habe die Post mit in die Wohnung genommen. Sie sperrt auf, um nachzusehen, und Viviane ist froh, dass die Concierge annimmt, sie verfüge nicht mehr über einen Wohnungsschlüssel. Unbemerkt legt sie die Messer zurück und geht dann wieder.

Noch am selben Tag muss Viviane Élisabeth Fauville sich bei Inspektor Philippot im Zentralkommissariat des 5. Arrondissements melden. Den Säugling nimmt sie mit, und er schreit, wie erwartet. Sie braucht also nicht lang zu warten. Philippot ermittelt im Fall des ermordeten Psychiaters und erkundigt sich nach ihrem Telefongespräch mit Jacques Sergent am 16. November um 10.38 Uhr. Viviane tut so, als erfahre sie erst jetzt, dass ihr Psychiater tot ist. Sie habe angerufen und sich für 18.30 Uhr einen Termin geben lassen, sagt sie, sei dann aber nicht hingegangen, weil sie niemand gefunden habe, der auf das Kind aufgepasst hätte. Ihre Mutter könne das bestätigen.

In einer Zeitung liest Viviane am 18. November, dass die Leiche des Psychiaters erst am Morgen des 17. November gefunden wurde, und zwar von einer Schwangeren, die Wohnungsschlüssel besaß. Viviane wundert sich darüber, was die Schwangere um 6.30 Uhr morgens bei Sergent wollte.

Viviane wird ein zweites Mal ins Kommisariat vorgeladen. Wieder nimmt sie das Kind mit. Diesmal ist außer Pilippot auch Kommissar Bertrand anwesend. Der fragt sie, warum sie ausgesagt habe, dass ihre Mutter einen Teil ihrer Angaben bezeugen könne. Ihre Mutter ist nämlich am 16. Februar 2002 gestorben, also seit acht Jahren tot. Außerdem findet die Polizei es seltsam, dass Viviane die teure Wohnung ihrer Mutter weder verkaufte noch vermietete. Sie gibt zu, seit Jahren die Umlagen zu bezahlen und jeden Monat einmal dort zu putzen. Viviane fallen zwar keine überzeugenden Antworten ein, aber nach einer Weile darf sie wieder gehen.

Auf dem Korridor erkennt sie unter den Wartenden die Schwangere, die den Toten fand, anhand des Fotos in der Zeitung.

Kurz entschlossen besorgt sie in einer nahen Apotheke ein Schlafmittel und nimmt sich ein Hotelzimmer. Nachdem sie ihrer kleinen Tochter etwas von dem Sedativum gegeben hat, das für Kinder unter sechs Jahren schädlich sein kann, legt sie das Baby in eine Schublade und eilt zum Kommissariat zurück. Dort wartet sie, bis die Schwangere herauskommt und folgt ihr. Als die andere Frau in eine Brasserie geht, um etwas zu essen, richtet Viviane es so ein, dass sie ins Gespräch kommen. Angèle Trognon ist 26 Jahre alt. Sie kam aus dem Département Hautes-Alpes zum Studium nach Paris. Jacques Sergent war nicht nur ihr Doktorvater, sondern auch ihr Geliebter.

Nachdem Viviane das erfahren hat, kehrt sie ins Hotel zurück, nimmt das schlafende Kind aus der Schublade und fährt mit einem Taxi nach Hause.

In der Zeitung steht, dass die 52-jährige Witwe Gabrielle Sergent, geborene Sherbatoff, festgenommen wurde. Sie gilt als verdächtig, weil sie zwar offiziell bei ihrem Mann gemeldet ist, tatsächlich jedoch bei Silverio Da Silva wohnt, einem Psychoanalytiker ohne Diplom.

Nach zwei Tagen kommt Gabrielle Sergent wieder frei. An ihrer Stelle sitzt nun der 23-jährige Druckereiarbeiter Tony Boujon in Haft, ein Patient des ermordeten Psychiaters, der noch bei seinen Eltern wohnt und eine Messersammlung angelegt hat. Im Frühjahr ging er mit einem Messer auf eine Gymnasiastin los, die ihn verschmähte, aber ihr Blick schüchterte ihn so ein, dass er die Waffe gleich wieder wegsteckte. Deshalb kam er auch mit drei Monaten Haft auf Bewährung und einer Therapieauflage davon.

Viviane folgt Gabrielle Sergent in ein Café und beobachtet beim Gespräch mit ihrem Bruder. Als dieser fort ist, geht sie zu der Witwe an den Tisch, stellt sich als Élisabeth vor und behauptet, Angèle habe sie gebeten, mit ihr zu reden.

Als Tony Boujon ebenfalls wieder frei ist, weil er ein Alibi für die Tatzeit hat, nimmt Viviane auch mit ihm Kontakt auf und schläft im Bett seiner Eltern mit ihm.

Julien droht, ihr das Sorgerecht für das Kind streitig zu machen. Am 29. November kommt Inspektor Philippot mit einem Assistenten zu ihr und fordert sie auf, die Kindersachen zusammenzupacken. Dann begleiten die beiden Polizisten sie und ihre Tochter nach unten. Auf der Straße wartet Julien, nimmt ihr das Baby ab und geht, während sie in den bereitstehenden Streifenwagen steigen muss.

Bald darauf ruft sie Julien an und verabredet sich mit ihm in der Wohnung, die ihrer Mutter gehörte. Sie wolle die Immobilie nun doch verkaufen, sagt sie. Julien kommt eine Viertelstunde zu spät. Viviane beobachtet ihn aus einiger Entfernung, sieht, wie er das Haus betritt und wieder herauskommt. Er greift zum Telefon. Ihres vibriert, aber sie nimmt den Anruf nicht an. Sie folgt Julien, bis dieser sich mit Héloïse trifft. Die ganze Zeit über lief Gabrielle hinter Viviane her und rief Viviane bei ihrem zweiten Vornamen, aber sie hörte es nicht. Außerdem verständigte Gabrielle die Polizei.

Verschleiert von dem Schnee, der sich an Ihre Wimpern hängt, haben Ihre Lider Mühe, sich zu heben. Sie erkennen sofort Angèle zu Ihrer Rechten. In Panik machen Sie kehrt und diesmal ist es Gabrielle, auf die Sie stoßen, und auf den Inspektor in Begleitung seines Assistenten, die mit großen Schritten auf Sie zugehen, während Héloïse und Julien endlich Ihre Anwesenheit bemerken, und letzterer sagt Viviane, Viviane, was machst du denn hier?

Viviane bricht zusammen und wird ins Hôtel-Dieu-Krankenhaus gebracht.

Sobald sie vernehmungsfähig ist, befragt Philippot sie.

Nach einer Stunde sind Sie zu allem bereit und packen aus. Aber der Bericht ist so konfus, dass der Inspektor Sie auffordert, langsam zu machen, sich ein bisschen mehr Mühe mit der Chronologie zu geben, Madame Hermant, denn klar war das jetzt nicht gerade. Allmählich baut sich Ihr Diskurs auf, und Sie erzählen in allen Einzelheiten, wie Sie den 16. November verbracht haben. Wie Sie die Messer aus der Wohnung Ihres Mannes geholt, einen Termin bei dem Arzt ausgemacht und die Kleine in der Obhut von niemandem gelassen haben, während Sie in die Rue de la Clef gegangen sind. Wie der Arzt Sie zu diesem unerklärlichen Ausbruch provoziert hat. Wie Sie diese Tat begangen haben, die Sie niemals hätten vollbringen sollen – man denke bloß an die untadelige Erziehung, die Ihnen Ihre Mutter hat angedeihen lassen.

Eine Woche später bringt man Viviane die kleine Tochter ins Krankenhaus.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Am 23. Dezember taucht erstmals der Name Pascal Planche im Zusammenhang mit dem Mordfall in der Zeitung auf. Pascal Planche ist im Staatsarchiv für den Urschriften-Bestand der Pariser Notare zuständig. Seit siebeneinhalb Jahren steht er unter medikamentöser Behandlung, und er gehörte zu Sergents Patienten. Am 25. Dezember berichtet die Zeitung, dass er in Untersuchungshaft genommen wurde, weil er als mordverdächtig gilt und für die Tatzeit kein Alibi hat.

Julien besucht seine Ex-Frau am 5. Januar 2011 und bittet schüchtern um die Erlaubnis, das Baby auf den Arm nehmen zu dürfen. Er habe eingesehen, dass ein Kind in diesem Alter die Mutter nötig habe, sagt er.

Angèle Trognon bringt einen Sohn zur Welt, der den Namen Achilles erhält.

Am 10. Januar wird Viviane aus der Klinik entlassen. Ihre Mutter bringt sie in einem Taxi nach Hause und pflegt sie.

Jean-Paul Biron will Héloïse behalten und vermittelt Viviane deshalb eine Anstellung in der Normandie. Am 15. April ist ihr erster Arbeitstag. Sie hat eine neue Wohnung und auch wieder eine Kinderfrau.

Viviane Élisabeth Fauville weiß jetzt, was am 16. November geschah. Am Vormittag hatte sie Jacques Sergent telefonisch um einen zusätzlichen Termin gebeten und war dann auch um 18.30 Uhr mit dem Baby bei ihm. Frustriert über die Erfolglosigkeit der Therapie setzte sie sich danach im Treppenhaus auf eine Stufe und weinte. Eine Viertelstunde später kam der Patient herunter, der nach ihr an der Reihe gewesen war: Pascal Planche. Viviane beschloss, die Therapie abzubrechen und ging noch einmal hinauf, um es Sergent ins Gesicht zu sagen. Die Tür stand offen. Er lag blutüberströmt am Boden. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass Pascal Planche ihn mit einem Brieföffner erstochen hatte.

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Vordergründig handelt es sich bei dem Roman „Viviane Élisabeth Fauville“ um einen Thriller, denn es geht um die Aufklärung eines Mordfalls. Wie in einem guten Kriminalroman wird auch erst ganz am Schluss klar, was wirklich geschah, zumal die Protagonistin selbst im Nebel tappt, obwohl sie gleich zweimal meint, sich nun wieder an alles erinnern zu können.

Am nächsten Morgen, Dienstag den 17. November, ist Ihr Gedächtnis wieder vollständig zurückgekehrt. (Seite 13)

Am nächsten Morgen, Dienstag den 17. November, ist das Gedächtnis wieder ganz hergestellt. (Seite 24)

Eigentlich veranschaulicht Julia Deck in ihrem Roman „Viviane Élisabeth Fauville“ die psychische Erkrankung einer Frau. Und das tut sie auf ebenso eindrucksvolle wie spannende und raffinierte Weise. Julia Deck erzählt ohne verschnörkelte Verzierungen, rasch, knapp, konzentriert und verdichtet. Der größte Teil des Textes steht in der zweiten Person Singular und bezieht sich auf die Protagonistin Viviane Élisabeth Fauville. In einer Passage ist mit dem „Sie“ aber auch Angèle Trognon gemeint. Zwischendurch wechselt Julia Deck vom „Sie“ zum „wir“ und in die dritte Person Singular.

Julia Deck wurde 1974 in Paris als Tochter einer Britin und eines französischen Künstlers geboren. Sie studierte Literatur an der Sorbonne, absolvierte eine Journalistenschule und arbeitete in Redaktionen. Am 6. September 2012 veröffentlichte sie ihren Debütroman „Viviane Élisabeth Fauville“.

Am Ende des von der Schriftstellerin Anne Weber makellos übersetzten Romans steht eine höchst plausible, in ihrem Realismus aber vielleicht eine Spur enttäuschende Auflösung. Sie setzt alle Täter-Opfer-Fragen außer Kraft und erklärt überdies den exzessiven Gebrauch der verschiedenen Pronomen. Wir landen wieder bei der Psychologie. Genauer: in der Psychiatrie. Aber immerhin hat Deck auf exzessive und faszinierende Weile durchgespielt, was wäre, wenn wir einfach nicht mehr wüssten, wer wir und wozu wir in der Lage sind.
(Eva Behrendt, Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2013)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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