Ilse Aichinger : Die größere Hoffnung

Die größere Hoffnung
Die größere Hoffnung Erstausgabe: Berman Fischer Verlag, Amsterdam 1948 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 72, München 2007
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ilse Aichinger erzählt von jüdischen Kindern, die einen Judenstern tragen müssen und nicht mehr im Stadtpark spielen dürfen. Schließlich holt die Gestapo sie ab und deportiert sie in ein Vernichtungslager. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, dem dieses Schicksal erspart bleibt, weil es nicht drei oder vier, sondern nur zwei "falsche" Großeltern hat, wird am Ende von einer Granate zerfetzt.
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Kritik

"Die größere Hoffnung" ist keine konkret-realistische Darstellung der Demütigungen, der Angst und der verzweifelten Hoffnung angesichts des nationalsozialistischen Terrors, sondern eine allegorische Dichtung in zehn chronologisch angeordneten Bildern aus der Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens.
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Die große Hoffnung

Ellen, ein schätzungsweise fünfzehnjähriges Mädchen, hat zwei „falsche“ Großeltern. Weil die Mutter deshalb emigrierte und der Vater die Familie verließ, um seine Offizierskarriere nicht zu gefährden, lebt Ellen bei ihrer „falschen“ Großmutter und Tante Sonja in einem schäbigen Quartier.

Ellen träumt davon, ihrer Mutter nach Amerika zu folgen, und als sie erfährt, dass dafür ein Visum erforderlich ist, schleicht sie sich nach Dienstschluss ins Konsulat. Dort reißt sie eine Weltkarte von der Wand, breitet sie auf dem Fußboden aus, faltet ein weißes Papierschiff und sticht von Hamburg aus in See. Unterwegs nimmt sie auch noch andere „Kinder mit falschen Großeltern“ (Seite 8) an Bord.

Als der Konsul gegen Mitternacht von seinem Schreibtisch aufsteht und seine Amtsräume verlässt, stolpert er im Dunkeln über etwas. Er macht wieder Licht und sieht ein Mädchen, das auf eine Landkarte liegt und schläft. Vorsichtig bettet er Ellen auf ein Sofa und wartet geduldig, bis sie aufwacht. Das gewünschte Visum kann er ihr nicht ausstellen, aber er rät ihr, es selbst zu tun:

„Wer sich nicht selbst das Visum gibt, bleibt immer gefangen. Nur wer sich selbst das Visum gibt, wird frei.“ (Seite 18)

 

Der Kai

Bibi, Georg, Kurt, Leon, Hanna, Ruth und Herbert haben nicht nur zwei „falsche“ Großeltern wie Ellen, sondern drei oder vier. Ihnen ist deshalb fast alles verboten, und sie haben ständig Angst vor der „geheimen Polizei“. Seit sieben Wochen sitzen sie am Kai und warten darauf, dass ein Kleinkind ins Wasser fällt, damit sie es retten und zum Bürgermeister bringen können. Der wird sie loben, und dann dürfen sie auch wieder im Stadtpark spielen und auf den Bänken sitzen.

Während ein Schießbudenbesitzer die Kinder zum Ringelspielfahren einlädt und mitnimmt, bleibt Ellen am Kai sitzen: Der Budenbesitzer hat sie zurückgelassen, weil sie im Gegensatz zu den anderen Kindern auch sonst Karussell fahren darf. Während Ellen wartet, kommt eine Frau mit zwei Kindern vorbei, von denen eines noch im Kinderwagen liegt. Plötzlich packt das größere Kind den Säugling, läuft zum Wasser hinunter und klettert in einen alten Kahn. Die Strömung erfasst das Boot; es kentert. Sofort rennt Ellen hinterher und rettet die Kinder.

Bibi, Georg, Kurt, Leon, Hanna, Ruth und Herbert, die gerade vom Jahrmarkt zurückkommen, finden es ungerecht, dass Ellen in der kurzen Zeit vergönnt war, worauf sie so lange gewartet haben.

Die Frau wollte Ellen umarmen, aber Ellen stieß sie zurück. „Ich kann nichts dafür“, schrie sie verzweifelt, „ich kann nichts dafür! Ich wollte euch rufen, aber ihr wart zu weit weg, ich wollte –“
[…] „Spar deine Worte!“, sagte Kurt eisig. (Seite 47)

Frustriert und verärgert setzen sich die Kinder trotz des Verbots auf eine Anlagenbank. Kurz darauf knirschen Stiefel im Sand. Drei Soldaten bleiben vor den Kindern stehen. Einer von ihnen ist Offizier – Ellens Vater, „der Mann, der Ellen gebeten hatte, ihn zu vergessen“ (Seite 48). Sie streckt die Hand nach ihm aus, er weicht zurück, doch Ellen umklammert ihren Vater, damit die anderen Kinder davonlaufen können.

 

Das heilige Land

Weil die Kinder den Stadtpark nicht betreten dürfen, spielen sie auf dem Friedhof, und statt auf Bänken sitzen sie auf Gräbern.

Ein Kutscher nimmt sie in seinem verbeulten, schwarzen Wagen mit rissigen Lederbezügen mit. Die Kinder hoffen, dass er sie ins heilige Land bringt, aber die Grenze bleibt immer gleich weit entfernt, und am Ende stellt sich heraus, dass die Fahrt im Kreis verlief.

 

Im Dienst einer fremden Macht

Weil Herberts Tasche ein Loch hat, verliert er auf der Straße ein englisches Vokabelheft. Aufgeblättert liegt es im Regen, und die Tinte verläuft. Ein Junge, der eine Uniform trägt, bleibt stehen, hebt das Vokabelheft auf, blättert darin und nimmt es mit. Er betritt dasselbe Haus wie Herbert, doch während dieser fünf Treppen hinauf zur Mansarde geht, gesellt sich der uniformierte Junge zu den anderen in Parterre, die gerade das Lied von den blauen Dragonern singen.

„Wem gehört das Heft?“
„Denen da oben, die keine Uniform tragen dürfen. Den anderen!“
„Ein englisches Vokabelheft?“
„Weshalb lernen sie Englisch?“
[…] Weshalb lernt man Englisch, wenn man sterben muss? (Seite 84f)

 

Die Angst vor der Angst

Ellen leidet darunter, dass sie nicht zu den anderen Kindern gehört, die drei oder vier „falsche“ Großeltern haben und einen Stern auf der Kleidung tragen. Heimlich nimmt sie einen solchen Stern aus der Nähschachtel ihrer Großmutter, steckt ihn ans Kleid und betrachtet sich im Spiegel. Dann läuft sie hinunter auf die Straße, um für Georg eine Torte zu kaufen, denn er hat Geburtstag.

Ellen […] lief durch die alten, nebligen Gassen, vorbei an Gleichgültigen und Glatten […] Der Stern an ihrem Mantel beflügelte sie. Laut klapperten ihre Sohlen auf dem harten Pflaster. Sie lief durch die Gassen […]
Erst die Torte im halbhellen Schaufenster der Konditorei brachte sie zum Stehen. Die Torte war weiß und glänzend, und darauf stand mit rosa Zuckerguss „Herzlicher Glückwunsch“. Die Torte war für Georg, sie war der Friede selbst. Rötliche, gefälschte Vorhänge umgeben sie von allen Seiten wie durchschimmernde Hände. Wie oft waren sie hier gestanden und hatten geschaut. Einmal war es eine gelbe Torte gewesen und einmal eine grüne. Aber heute war sie am schönsten.
Ellen stieß die Glastür auf. In der Haltung eines fremden Eroberers betrat sie die Konditorei und ging mit großen Schritten auf den Ladentisch zu. „Guten Abend!“, sagte die Verkäuferin abwesend, hob den Blick von den Fingernägeln und verstummte.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Ellen, „diese Torte möchte ich.“ Lang und feucht hing ihr Haar über den alten Mantel. Der Mantel war viel zu kurz und das Schottenkleid schaute zwei Handbreit darunter hervor. Aber das allein hätte es nicht gemacht. Was den Ausschlag gab, war der Stern. Ruhig und hell prangte er an dem dünnen, dunkelblauen Stoff, so als wäre er überzeugt davon, dass er am Himmel stand.
Ellen hatte das Geld vor sich auf den Ladentisch gelegt, sie hatte seit Wochen gespart. Sie wusste den Preis.
Die Gäste ringsum hörten zu essen auf. Die Verkäuferin stützte die dicken, roten Arme auf die silberne Kassa. Ihr Blick saugte sich an dem Stern fest. Sie sah nichts als den Stern. Hinter Ellen stand jemand auf. Ein Sessel wurde gegen die Wand gestoßen.
„Bitte die Torte“, sagte Ellen noch einmal und schob das Geld mit zwei Fingern näher an die Kassa. Sie konnte sich diese Verzögerung nicht erklären. „Wenn sie mehr kostet“, murmelte sie unsicher, „wenn sie jetzt vielleicht mehr kostet, so hole ich den Rest, ich habe noch etwas zu Hause. Und ich kann mich beeilen –“ Sie hob den Kopf und sah in das Gesicht der Verkäuferin. Was sie sah, war Hass.
„Wenn Sie bis dahin noch offen haben!“, stammelte Ellen.
„Schau, dass du verschwindest! […]“
Ellen sah an sich hinab. Plötzlich wusste sie den Preis für die Torte. Sie hatte ihn vergessen. Sie hatte vergessen, dass die Leute mit dem Stern Geschäfte nicht betreten durften, noch weniger eine Konditorei. Der Preis für die Torte war der Stern. (Seite 104ff)

Statt zu Georgs Geburtstagsfeier geht Ellen zu Julia. Obwohl das sechzehnjährige Mädchen vier „falsche“ Großeltern hat, spielt es nie mit den anderen Kindern und bleibt immer zu Hause. Julia ist voller Freude, denn einige Stunden vorher hat sie ein Visum erhalten: Sie darf in die USA ausreisen. Ellen beneidet sie darum. Anna kommt hinzu. Sie wohnt im selben Haus und ist etwas älter als die beiden anderen Mädchen. Sie werde auch wegfahren, sagt sie, und Julia jubelt, weil sie glaubt, mit ihr auf einem Schiff zu sein. Aber Anna fügt still hinzu, dass sie in die andere Richtung fahren wird, nach Polen.

 

Das große Spiel

Die Kinder spielen Maria und Josef, den Engel und die Drei Könige. Es läutet, aber sie öffnen erst, als es wieder aufhört. Draußen steht Ellen.

„Weshalb habt ihr nicht aufgemacht?“
„Du hast das Zeichen nicht gewusst!“
„Ihr habt es mir nicht gesagt.“
„Weil du nicht zu uns gehörst.“
„Und weshalb nicht?“
„Du wirst nicht geholt werden.“
„Ich verspreche es euch“, sagte Ellen, „dass ich geholt werde.“ (Seite 135)

Die Kinder haben Angst, wer ihnen auf den Lastwagen hilft, wenn er zu hoch ist. (Seite 136)

Der Herr von nebenan kommt herüber und spielt mit den Kindern, die nicht ahnen, dass er die Aufgabe übernommen hat, sie in der Wohnung festzuhalten, bis sie abgeholt werden. Wieder läutet es. Die Kinder stürzen zur Tür.

Wie eine große tanzende Flamme schlug ihr Spiel über ihnen zusammen. (Seite 159)

 

Der Tod der Großmutter

Tante Sonja ist verschwunden; Ellen weiß nicht, wohin. Eines Nachts erwacht sie und beobachtet, wie ihre Großmutter etwas sucht. Unter einem Kissen zieht sie eine Phiole hervor. Die fällt ihr auf den Boden; weiße Pillen rollen heraus. Ellen springt aus dem Bett, zertritt versehentlich das Glas und beginnt zu bluten. Sie hebt die Pillen auf. Die Großmutter wirft sich auf sie, und es kommt zu einem kurzen Kampf. Danach hält jede von ihnen einen Teil der Pillen in der Hand. Die Großmutter erklärt Ellen, dass sie ihren Pelz versetzen musste, um sich die Pillen kaufen zu können, und schließlich gehorcht das Mädchen, gibt ihrer Großmutter die Pillen und füllt ihr zweimal ein Glas Wasser. Ellen denkt zwar daran, zum Hausarzt zu laufen, aber der ist zu weit weg, und zu einem anderen Arzt dürfen sie nicht gehen. Röchelnd und stöhnend stirbt die Großmutter.

 

Flügeltraum

Drei Minuten vor der planmäßigen Abfahrt eines Munitionszugs kann der Lokführer sich plötzlich nicht mehr an das Ziel der Fahrt erinnern. Er springt ab, rennt ein Stück auf und ab. Der Stationsvorstand warnt ihn:

„Es ist wichtig. Es ist ungeheuer wichtig, hören Sie? Waffen, Waffen, Waffen! Waffen an die Front, das kostet Sie den Kopf!“ (Seite 191)

Aber der Lokführer will keine Munition mehr an die Front bringen. Er verliert den Verstand.

Vor dem Zug springt Ellen über die Gleise. Sie wird von zwei Polizisten verfolgt, festgenommen und zum Verhör gebracht. Aber sie will ihren Namen nicht sagen. Plötzlich reißt jemand die Tür auf. Man schleift Bibi herein, „ein nasses, blutiges Bündel“ (Seite 210): Als die anderen Kinder nach dem Krippenspiel verladen wurden, lenkte Georg die Männer ab, und Bibi konnte fliehen. Aber es dauerte nicht lang, da erschienen sie in ihrer Wohnung und zerrten sie unter ihrem Bett hervor.

 

Wundert euch nicht

Ellen steigt in einen Keller hinab. Im Dunkeln trifft sie auf zwei Plünderer. Da heult die Sirene: Fliegeralarm! Der Bunker ist auf der anderen Seite, unter dem Lagerhaus: das schaffen sie nicht mehr. Plötzlich werden Ellen und die beiden Männer von einer Druckwelle in eine Ecke geschleudert und verschüttet. Sie haben kaum noch Luft. Um auf sich aufmerksam zu machen, schlagen sie mit einer Schaufel gegen Steine, aber sie wissen: Wenn sie gefunden werden, wird man auch merken, dass sie plündern wollten, und auf Plünderung steht die Todesstrafe. Auch für Ellen sieht es nicht gut aus, denn wie soll sie beweisen, dass sie nicht zu den beiden Plündern gehört.

 

Die größere Hoffnung

Es gelingt Ellen, aus dem verschütteten Keller zu kriechen. Ein verendendes Pferd liegt vor ihr; es riecht nach Verwesung, und wo das Lager stand, klafft ein riesiger Bombentrichter. Ellen rennt in die Stadt, obwohl dort heftig gekämpft wird. Ein Soldat – er heißt Jan – nimmt sie in seinem Auto mit. Als er in die Schulter getroffen wird, verstecken sie sich in einem leer stehenden Haus. Jan sollte eine Nachricht zu einer Einheit bei der umkämpften Brücke bringen und weil er dazu nicht mehr in der Lage ist, bittet er Ellen, es für ihn zu übernehmen. Bei der Brücke liefert Ellen den Brief einem Posten ab. Eine Frau, die einen blutbespritzten weißen Mantel trägt, warnt Ellen: „Nicht dorthin!“ Aber das Mädchen reißt sich los.

Die brennenden Augen auf den zersplitterten Rest der Brücke gerichtet, sprang Ellen über eine aus dem Boden gerissene, emporklaffende Straßenbahnschiene und wurde, noch ehe die Schwerkraft sie wieder zur Erde zog, von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen.“ (Seite 277)

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Ilse Aichinger erzählt von jüdischen Kindern, die einen Judenstern tragen müssen und nicht mehr im Stadtpark spielen dürfen. Schließlich holt die Gestapo sie ab und deportiert sie in ein Vernichtungslager. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, dem dieses Schicksal erspart bleibt, weil es nicht drei oder vier, sondern nur zwei „falsche“ Großeltern hat, wird am Ende von einer Granate zerfetzt.

Weder der Name Hitler noch die Begriffe Juden oder Nationalsozialismus kommen in Ilse Aichingers einzigem Roman vor; auch der Name der Stadt (Wien) wird nicht genannt: „Die größere Hoffnung“ ist keine konkret-realistische Darstellung der Demütigungen, der Angst und der verzweifelten Hoffnung angesichts des nationalsozialistischen Terrors, sondern eine allegorische Dichtung in zehn chronologisch angeordneten Bildern aus der Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens mit autobiografischen Zügen Ilse Aichingers. Durch die symbolische Überhöhung wird das Grauen keineswegs verharmlost, sondern nur auf eine andere Ebene gehoben und mit zeitlosen Themen verknüpft.

Sein Inhalt, seine Sprache, sein Aufbau machen es dem Leser nicht leicht, er muss die Sätze Aichingers geduldig lesen, ihnen aufmerksam lauschen. Der Text erzählt nicht linear, er ist ein Geflecht aus Traum, Märchen, Mythos und Historie. Monologe wechseln ab mit Dialogen, auktoriales Erzählen mit personalem. (Florian Welle, Süddeutsche Zeitung, 15. September 2007)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2007
Textauszüge: © Berman Fischer Verlag – Die Seitenangaben beziehen sich auf einen Band der
von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen „Bibliothek des 20. Jahrhunderts“ (o. J.)

Ilse Aichinger (Kurzbiografie)

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