Reaktorkatastrophe in Tschernobyl


Am 25. April 1986 fahren Techniker in einem der vier Reaktorblöcke des Atomkraftwerks in der ukrainischen Stadt Tschernobyl (Tschornobyl), 130 Kilometer nördlich von Kiew, die Leistung für ein Experiment herunter. Es handelt sich um einen nur in der UdSSR gebauten Hochleistungs-Druckröhren-Reaktor mit Leichtwasserkühlung und Graphitmoderation. Anders als bei westlichen Kernkraftwerken befinden sich die uranhaltigen Brennstäbe nicht in einem mit Wasser gefüllten Behälter, sondern sie weisen Kühlkanäle auf, durch die Wasser fließt. Es soll geprüft werden, ob die Turbinen auch bei einem Stromausfall genügend Strom für die Notkühlung des Reaktors liefern. Weil es bei geringer Reaktorleistung leicht zu einer automatischen Abschaltung kommt, nehmen die Techniker das Notabschaltungssystem außer Betrieb. Als die Leistung weiter als geplant absinkt, weil die Konzentration des Isotops Xenon-135 im Reaktorkern zunimmt und dadurch Neutronen absorbiert werden („Xe-Vergiftung“), ziehen sie in der Nacht auf den 26. April, um 1.07 Uhr, Steuerstäbe, die den Neutronenfluss bremsen, heraus. Kurz darauf verlieren sie die Kontrolle über den Reaktor und betätigen um 1.23 Uhr einen Notschalter, um die Steuerstäbe zurückzufahren und die drohende Kernschmelze zu verhindern, aber die Stäbe verklemmen sich in den bereits von der Hitze verformten Einschüben. Um 1.24 Uhr zerstören zwei Explosionen das Dach des Reaktorblocks.

Bei dem GAU (größter anzunehmender Unfall) in Tschernobyl wurden zwar „nur“ 3,5 Prozent des Reaktorkerns freigesetzt, aber das waren 60 Millionen Curie, das Dreißig- bis Vierzigfache der Radioaktivität der Hiroshima-Bombe. Die radioaktive Wolke breitete sich von der Ukraine zunächst in Richtung Polen und Skandinavien aus und zog dann auch über weite Teile Mitteleuropas.

Im deutschen Fernsehen hieß es am 28. April, dass in Schweden ein massiver Anstieg der radioaktiven Strahlung gemessen wurde, dessen Ursache ein Reaktorunfall in der UdSSR sein könnte. Zur gleichen Zeit gab die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die erste Meldung über den Störfall in einem der vier Reaktorblöcke des Kernkraftwerks von Tschernobyl heraus,

verharmloste das Unglück jedoch als „Havarie“. Das Ausmaß der Katastrophe wurde erst auf Satellitenfotos der USA deutlich.

Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann erklärte am 29. April, die Bevölkerung der Bundesrepublik sei in keiner Weise durch das Unglück in Tschernobyl gefährdet. Aber am 2. Mai warnte die Bundesregierung vor dem Genuss von Gemüse und Frischmilch; die Bauern wurden aufgefordert, ihre Kühe im Stall zu lassen, und am 21. Mai beschloss das Kabinett finanzielle Hilfen für die betroffenen Landwirte. Die unverkäuflichen, in Zügen zwischengelagerten Molke-Bestände einiger Molkereien machten den Behörden jahrelang zu schaffen, bis schließlich ein Teil davon verbrannt und ein anderer von Cäsium gereinigt wurde.

In den Tagen, Wochen und Jahren nach der Katastrophe siedelten die Behörden insgesamt etwa 200 000 Bewohner aus der Umgebung des Atomkraftwerks in andere Gegenden um. Am 11. Mai wurde bekanntgegeben, dass der Brand im Reaktor von Tschernobyl unter Kontrolle und die Gefahr einer Ausweitung der Katastrophe gebannt sei. Den zerstörten Reaktorblock umschloss man mit einem Betonmantel („Sarkophag“).

Wieviele Menschen aufgrund des GAUs an Krebs oder einer Immunschwäche erkrankten und starben oder noch sterben werden, ist nicht bekannt. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 4000 (IAEA) und 93 000 (Greenpeace).

In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Auseinandersetzungen zwischen Kernkraftgegnern und –befürwortern durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl neu entfacht.

Literatur über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl

  • Igor Kostin: Tschernobyl. Nahaufnahme (Übersetzung: Claudia Kalscheuer, Verlag Antje Kunstmann, 2006)

© Dieter Wunderlich 2006

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