Pietismus

Die Pietisten (pietas: Frömmigkeit) traten im Rahmen der lutherischen Lehre für die individuelle Verantwortung des Einzelnen ein, lehnten die Überbetonung des Rationalen durch die Aufklärung ab und entwickelten eine individualistisch-subjektive Frömmigkeit des Herzens, die sich in der Praxis christlichen Lebens zu bewähren hatte.

Richtungweisend für den lutherischen Pietismus wirkte der Historiker und Theologe Philipp Jakob Spener (1635 – 1705), der in Frankfurt am Main pietistische Konventikel (collegia pietatis) ins Leben rief und 1675 in der Schrift „Pia Desideria oder Herzl. Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Ev. Kirchen“ seine Grundgedanken veröffentlichte.

Die meisten evangelischen Staatskirchen lehnten den Pietismus ab und verboten die collegia pietatis, aber die 1694 gestiftete kurbrandenburgische Universität Halle erhielt auf Speners Betreiben hin eine pietistisch-theologische Fakultät, die bald von Studenten überlaufen wurde: Halle an der Saale entwickelte sich zum Mittelpunkt des Pietismus, der sich von 1700 an in ganz Deutschland verbreitete. Die pietistische Wirtschaftsauffassung,

in der Unternehmergeist und lutherische Ethik sich verbanden, wurde in Halle konsequent verwirklicht.

Dort gründete August Hermann Francke (1663 – 1727) Erziehungsanstalten, die aus einem Waisenhaus, einer Armenschule und weiteren Bildungsstätten bestanden. Auch eine Ostindische Missionsgesellschaft, ein Verlag und eine Druckerei gehörten zu den Franckeschen Stiftungen. August Hermann Francke hielt die Schüler von nichtsnutzigen Spielen ab, leitete sie zu einem christlichen Leben an und beaufsichtigte sie streng, um sie vor seiner Meinung nach schädlichen Einflüssen zu schützen. Seine Erziehungs- und Sozialarbeit galt nicht nur unter Pietisten als vorbildlich. Mit Carl Hildebrand von Canstein (1667 – 1719) zusammen gründete August Hermann Francke die Cansteinsche Bibelanstalt, die älteste Bibelgesellschaft der Welt.

Im Pädagogium der Franckeschen Stiftungen wurde 1710 bis 1716 Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf (1700 – 1760) erzogen. Zinzendorf, der sich zum dritten Exponenten des Pietismus neben Spender und Francke entwickelte, stammte aus einer protestantischen Familie, die aus Österreich emigriert war.

1722 siedelte Graf von Zinzendorf versprengte mährische Protestanten auf seinem Besitz in Herrnhut bei Görlitz an. Dort entstand 1726 die Herrnhuter Brüdergemeine, die ein enthusiastisches Christentum der Tat anstrebte.

Die seit 1731 von der Brüdergemeine herausgegebenen „Losungen“ werden inzwischen in über dreißig Sprachen und in millionenfacher Auflage verbreitet. Es handelt sich dabei um ein Erbauungsbuch, das für jeden Tag des Jahres ein kurzes Bibelwort aus dem Alten Testament, ein dazu passendes Zitat aus dem Neuen Testament und ein gedanklich weiterführendes Gebet oder Lied enthält. Der Einfall, ein solches Andachtsbuch herauszugeben, geht auf Zinzendorf zurück.

Die Brüdergemeine wirkt heute als Freikirche in Europa, Amerika und Afrika.

Literatur zum Thema Pietismus

  • Erich Beyreuther: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Selbstzeugnisse und Bilddokumente. Eine Biographie (Gießen und Basel 2000)
  • Veronika Albrecht-Birkner (Hg.): Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jacob Spener und die Geschichte des Pietismus (Halle/Saale 2005)
  • Martin Brecht und Paul Peucker (Hg.): Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung (Göttingen 2005)
  • Wolfgang Bromme, Paul-Martin Clotz, Ulrich Dahmer, Karl Dienst, Ralf-Andreas Gmelin, Antje Schrupp, Peter Steinacker, Jutta Taege-Bizer: Nicht nur fromme Wünsche. Philipp Jacob Spener neu entdeckt (Frankfurt/M 2000)
  • Erika Geiger: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Der Erfinder der Herrnhuter Losungen. Seine Lebensgeschichte (Holzgerlingen 2000)
  • Martin H. Jung: Pietismus (Frankfurt am Main, 2005)
  • Peter Menck: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes (Halle/Saale, Tübingen 2001)
  • Birgit A. Schulte: Die schlesischen Niederlassungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Gnadenberg, Gnadenfrei und Gnadenfeld. Beispiele einer religiös geprägten Siedlungsform (Insingen bei Rothenburg o. d. T. 2005)
  • Johannes Wallmann: Der Pietismus (Göttingen 2005)

© Dieter Wunderlich 2008

Novalis (Kurzbiografie)

Ulrich Alexander Boschwitz - Der Reisende
Als der 23-jährige Student Ulrich Alexander Boschwitz den Roman "Der Reisende" Ende 1938 innerhalb weniger Wochen im Exil verfasste, konnte er noch nichts vom Holocaust ahnen, aber er schildert eindringlich, was die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten bedeutete. Das Bild, das er stringent aus der subjektiven Perspektive der Hauptfigur entwickelt, ist anschaulich und einprägsam, die Handlung packend und spannend.
Der Reisende