Kybernetik, Systemtheorie


Der Begriff „Kybernetik“ (griechisch: kybernetike techne = Steuermannskunst) wurde erstmals 1948 von Norbert Wiener (1894 – 1964) verwendet: Der amerikanische Mathematiker legte in dem Buch „Cybernetics of Control of Communication in Animal and Machine“ die Grundlagen einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich mathematisch-modellhaft mit Regelungs- und Steuerungsvorgängen in dynamischen Systemen befasst.

Solche Systeme interagieren mit der Umwelt (offene Systeme) oder sie sind davon abgekapselt (geschlossene Systeme). In geschlossenen Systemen kann die bestehende Ordnung nur abnehmen (Entropie; zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Im Gegensatz zu geschlossenen Systemen, die im Lauf der Zeit zugrunde gehen müssen, können offene Systeme überleben, solange sie Materie, Energie und Information mit der Umwelt austauschen, auf Störungen ihres (Fließ-)Gleichgewichtes adäquat reagieren und trotz veränderlicher Umweltbedingungen ein konstantes „milieu intérieur“ (Claude Bernard, 1813 – 1878) aufrechterhalten (Homöostase). Tun sie es nicht mehr, werden sie zu geschlossenen Systemen.

Von Steuerung spricht der Kybernetiker, wenn Prozesse eingestellt oder verändert, aber nicht notwendigerweise kontrolliert werden (offene Steuerkette). Um einen Vorgang der Steuerung handelt es sich beispielsweise, wenn der Autopilot eines Flugzeuges auf einen bestimmten Kurs eingestellt wird. Wenn dann während des Fluges Kursabweichungen durch die Elektronik registriert und durch entsprechende Flugmanöver korrigiert werden, liegt ein Prozess der Regelung vor.

Bei der Regelung wird ein Teil des System-Outputs über Rückkoppelungs-Schleifen (feedback loops) fortlaufend dem System zurückgemeldet. Sind Ausgangs- und Eingangsgröße direkt proportional (positive Rückkoppelung), verstärkt sich der Prozess.

(Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Mikrofon in die Nähe des Lautsprechers gehalten wird, mit dem es verdrahtet ist.) Im anderen Fall (negative Rückkoppelung) kommt es zu einer Dämpfung, die stabilisierend wirken kann (Beispiel: Thermostat). – In einem geschlossenen Regelkreis wird dafür gesorgt, dass eine „Regelstrecke“ trotz ständiger Störeinflüsse um einen bestimmten Mittelwert fluktuiert. Zu diesem Zweck wird die Ausgangsgröße der Regelstrecke einem Regler zugeführt, der die Ist-Werte mit den durch eine Führungsgröße vorgegebenen Sollwerten vergleicht. Aus der Abweichung resultiert eine Stellgröße, die ihrerseits über ein Stellorgan korrigierend auf die Regelstrecke einwirkt.

Zu unterscheiden sind dabei analoge und digitale Datenverarbeitung. Letztere beschränkt sich auf einen endlichen Zeichenvorrat; also können auch Messwerte sich nur stufenförmig verändern. Dagegen arbeitet die analoge Datenverarbeitung mit kontinuierlich veränderlichen Messwerten, also mit einem unendlichen Zeichenvorrat. Um analoge Datenverarbeitung handelte es sich zum Beispiel bei dem 1788 von James Watt (1736 – 1819) erfundenen Fliehkraftregler, mit dem der schottische Erfinder die Drehzahl einer Dampfmaschine konstant hielt.

Die Kybernetik abstrahiert von den materiellen Eigenheiten der Forschungsgegenstände und stellt die funktionalen Zusammenhänge verschiedener Prozesse in mathematischen Formeln oder in Flussdiagrammen dar. An einfacheren technischen Systemen gewonnene Einsichten können auf komplexe organische oder soziale Systeme übertragen werden. (Umgekehrt lösen organische Strukturen durch Analogien technische Innovationen aus: Bionik.)

Tatsächlich wurde die Theorie der offenen Systeme von dem österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901 – 1972) weiterentwickelt („The Theory of Open Systems in Physics and Biology“, 1950), und Niklas Luhmann (1927 – 1998) wandte sie in den Sechzigerjahren auf soziologische Phänomene an.

Eine wesentliche Grundlage für die Kybernetik stellt die von dem amerikanischen Mathematiker Claude E. Shannon (1916 – 2001) begründete Informationstheorie dar („The Mathematical Theory of Communication“, 1949). Diese befasst sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Übertragung und Verarbeitung von Nachrichten.

In allen Informationssystemen werden von einer Nachrichtenquelle produzierte Informationen durch einen Kanal übertragen und schließlich vom Empfänger verarbeitet. Damit sie weitergeleitet werden können, müssen sie codiert werden, wie es beispielsweise durch Sprechen oder Schreiben geschieht. Obwohl die Signale im Informationskanal von Störungen überlagert werden, vermag ein Empfänger sie zu entschlüsseln, wenn er über den entsprechenden Code verfügt. Verstümmelte oder gar fehlende Wörter können zumeist aus dem Zusammenhang erraten werden, weil in der Regel nicht nur der absolut notwendige Informationsgehalt (die „Entropie“) transportiert wird, sondern Redundanz besteht.

Setzt sich der Zeichenvorrat, aus dem der Code aufgebaut wird, aus zwei Zeichen zusammen, sprechen wir von einem Binär- oder Dualsystem. Das binäre Zahlensystem geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1715) zurück und wurde von dem englischen Mathematiker George Boole (1815 – 1864) zu einem umfassenden algebraischen System weiterentwickelt, das auch die logischen Verknüpfungen („und“, „oder“, Negation) erlaubt.

Um Dezimalziffern technisch abzubilden, benötigt man Zehnfach-Schalter oder dekadische Zählräder; bistabile Schaltelemente (Flip-Flop-Schalter, 1919) reichen dagegen aus, um binäre Ziffern darzustellen: eingeschaltet = 1, ausgeschaltet = 0.

Die Binärentscheidung (ein oder aus) ist die kleinste Einheit einer Nachricht oder Information. 1948 prägte der Mathematiker John W. Tukey dafür die Abkürzung „Bit“ (von „binary digit“). Jeweils acht Bits werden zu einem Byte zusammengefasst. Mit Bytes werden Zeichen, Zahlen und Buchstaben binär dargestellt.

Literatur über Kybernetik und Systemtheorie

  • Ross Ashby: An Introduction to Cybernetics
  • Ludwig von Bertalanffy: The Theory of Open Systems in Physics and Biology
  • Lars Bluma: Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg
  • Michael Eckardt: Mensch-Maschine-Symbiose. Ausgewählte Schriften von Georg Klaus zur Konstruktionswissenschaft und Medientheorie
  • Helmar Frank: Kybernetik und Philosophie
  • Klaus Fuchs-Kittowski und Siegfried Piotrowski (Hg.): Kybernetik und Interdisziplinarität in den Wissenschaften
  • Erich Hörl, Michael Hagner: Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik
  • Martin Kaufmann: Der Baum der Kybernetik. Die Entwicklungslinien der Kybernetik von den historischen Grundlagen bis zu ihren aktuellen Ausformungen
  • Georg Klaus: Wörterbuch der Kybernetik
  • Frederic Vester: Neuland des Denkens.
    Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter
  • Frederic Vester: Unsere Welt – ein vernetztes System
  • Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft

© Dieter Wunderlich 2008

Barbara Leisner - "Ich mache keine Kompromisse". Camille Claudel
"Ich mache keine Kompromisse" lautet der Titel der spannend und einfühlsam geschriebenen Biografie über Camille Claudel. Am Beispiel dieses tragischen Lebens beleuchtet Barbara Leisner auch die gesellschaftliche Situation am Ende des 19. Jahrhunderts.
„Ich mache keine Kompromisse“. Camille Claudel