Margriet de Moor : Sturmflut

Sturmflut
Originalausgabe: De verdronkene Uitgeverij Contact, Amsterdam 2005 Sturmflut Übersetzung: Helga van Beunigen Carl Hanser Verlag, München / Wien 2006 ISBN 3-446-20713-9, 352 Seiten Taschenbuch: dtv, München 2008
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am 30. Januar 1953 überredet Armanda ihre Schwester Lidy, am Wochenende an ihrer Stelle von Amsterdam zur Geburtstagsfeier ihres Patenkindes auf der Insel Schouwen-Duiveland zu fahren. Armanda wird Lidys zweijährige Tochter Nadja für die beiden Tage zu sich und ihren Eltern holen und am Samstagabend ihren Schwager Sjoerd Blaauw zu einer Party begleiten ...
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Kritik

Vor dem Hintergrund der verheerenden Sturmflut vom 1. Februar 1953 in Holland erzählt Margriet de Moor eine packende Geschichte von Liebe und Tod. Das Besondere daran ist die ausgefallene Komposition des Romans.
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Die neunzehnjährige Englisch-Studentin Armanda, die noch mit ihrem jüngeren Bruder Jacob bei ihren Eltern Jan und Nadine Brouwer in Amsterdam wohnt, sollte eigentlich wie jedes Jahr an der Geburtstagsfeier ihrer siebenjährigen Patentochter im Hotel „Kirke“ auf der Insel Schouwen-Duiveland teilnehmen. Doch sie überredet ihre vier Jahre ältere Schwester Lidy, an ihrer Stelle mit dem Auto des Vaters übers Wochenende hinzufahren. Armanda wird Lidys zweijährige Tochter Nadine („Nadja“) für die beiden Tage zu sich und ihren Eltern holen und am Samstagabend ihren Schwager Sjoerd Blaauw zu einer Party bei seiner Schwester Betsy begleiten, mit der Armanda befreundet ist.

Am 31. Januar 1953 trifft Lidy im Hotel „Kirke“ ein. Die Überfahrt mit der Fähre von Numandsdorp nach Zijpe war aufgrund eines heftigen Sturms sehr unangenehm, und auf Schouwen-Duiveland droht die Sturmflut die Deiche zu brechen. Deshalb wollen der Deichvogt Simon Cau und Izak Hocke, der Vater des Geburtstagskindes, nach der Feier noch einmal nach dem Rechten sehen, und Lidy bietet ihnen an, sie im Wagen ihres Vaters zu fahren.

Izak Hocke verabschiedet sich von seiner Frau Jacomina und den drei Kindern, die im Hotel bleiben. Unterwegs nehmen sie Simon Caus Neffen Marien mit. Dann treffen sie auf die beiden achtzehn- oder neunzehnjährigen Töchter eines Kneipenwirts und Tankstellenbesitzers, der die Mädchen auf Fahrrädern ausgeschickt hat, um ein paar Leute aus abgelegenen Weilern aufzufordern, in seine höher gelegene Kneipe zu kommen, wo sie im Fall einer Überschwemmung sicherer sind. In einem Dorf rütteln sie die schlafenden Bewohner wach und raten ihnen, sich auf den Dachböden in Sicherheit zu bringen. Weil der Küster nicht wachzukriegen und das elektrische Läutwerk der Kirche abgeschlossen ist, schlägt Hocke mit einem Vorschlaghammer gegen den Rand der Glocke.

Kurz nachdem sie Izak Hockes zwischen Zierikzee und Dreischor gelegenen Hof erreicht haben, wird alles überflutet. Lidy, Simon Cau und Hockes Mutter Gerarda klettern auf den Dachboden, wohin die alte Bäuerin bereits Decken, Eier, Butter, Cognac und Gewürzkuchen gebracht hat. Izak Hocke versucht, noch ein paar Menschen aus umliegenden Gehöften zu retten. Am nächsten Morgen taucht er wieder auf: Auf dem Anhänger, den er mit seinem Traktor durchs Wasser zieht, sitzen die hochschwangere Cathrien Padmos, ihr achtjähriger Sohn Adriaan, Albert Zesgever, Cornelius Jager sowie Nico und Laurina van de Velde mit ihrer kleinen Tochter Dina. Mit Hilfe eines Seils und einer schwimmenden Stalltür werden Hocke und die Geretteten durchs Dachfenster gezogen.

Dina stirbt. Durchs Fenster sieht Lidy auf dem Gehöft gegenüber die im Zaun hängende Leiche von Marien Cau. Bei Cathrien Padmos, deren Ehemann und fünfzehnjährige Tochter bereits tot sind, setzen die Wehen ein. Sie bringt auf dem Dachboden einen gesunden Jungen zur Welt.

Stunden später, am Abend des 1. Februar, reißt die Sturmflut das Haus ein.

Jeder sah, wie sich in den beiden Seitenwänden ein Netz aus Rissen bildete. Die Fensterscheibe zersprang. Das Dach wurde hochgerissen, ein Teil davon verschwand und machte einem Packen schwarzer Wolken Platz. Das Haus drehte sich und löste sich von seinen Fundamenten.

Lidy, Cornelius Jager, Adriaan, Gerarda und Izak Hocke klammern sich an den Teil des Fußbodens, mit dem sie fortgerissen werden. Kurz sehen sie noch Nico und Laurina van de Velde auf einem anderen Floß, dann verschwinden diese im Schneetreiben.

Schließlich sind nur noch Gerarda Hocke und Lidy am Leben. Es gelingt ihnen, sich auf einen festen Balken ein Meter über dem strömenden Wasser zu retten, aber im Morgengrauen am 2. Februar steigt das 2 oder 3 Grad kalte Wasser wieder über Knie und Hüften. Die alte Bäuerin unternimmt keine Anstrengungen mehr; sie drückt Lidy ihre goldene Haubenklammer in die Hand und gleitet davon. Lidy springt auf eine vorbeischwimmende Tür, die auf die Oosterschelde und die Nordsee zutreibt.

Im Juli 1954 wird die Vermisste für tot erklärt. Auf den Dokumenten steht als Todestag der 1. Februar 1953. Armanda und ihr verwitweter Schwager Sjoerd Blaauw heiraten am 3. Mai 1955. Später sagt Armanda zu ihrer Mutter:

„Soll ich dir mal was sagen? Den ganzen Tag damals habe ich insgeheim nichts anderes gedacht als: Das ist nicht meine Hochzeit!“

Nadja erfährt erst mit elf Jahren, dass Armanda nicht ihre leibliche Mutter ist. Inzwischen hat Nadja zwei jüngere Halbgeschwister: die vierjährige Violet und den kleinen Allan.

Zu ihrem Mann sagt Armanda:

„Weißt du, was ich manchmal immer noch denke? Lidy ist nur für einen Tag weg und verlässt sich darauf, dass ich das Leben mal schnell für sie lebe, ordentlich, anständig, wie ich es verdammt noch mal auch tatsächlich tue.“

Gegen den Rat ihrer inzwischen geschiedenen Stiefmutter zieht Nadja 1972 zu einem schwarzen Studenten aus Surinam, aber nach einigen Monaten verlässt er sie und kehrt zu seiner Ehefrau zurück.

Am 20. Oktober 1980 stirbt Armandas Vater Jan im Alter von sechsundsiebzig Jahren.

Nadja lebt mit einem Bildhauer zusammen, Violet macht ein Praktikum bei einer Bank in London, und Allan wohnt in einem besetzten Haus in Amsterdam.

1983 erhält Armanda die Nachricht, man habe im Schlick des Sekundärdeichs am Nordwestufer der Oosterschelde Skelettteile gefunden, die von Lidy Brouwer-Blaauw sein könnten. Aufgrund des Kiefers und anderer Merkmale hält es der Gerichtsanthropologe für möglich, dass es sich um die Vermisste handelt, aber mit Gewissheit kann er es nicht sagen.

Armanda fährt mit Nadja auf die Insel Schouwen-Duiveland. Die goldene Haubenklammer, die bei den Knochen lag, kennt Armanda nicht. Man bestattet die Sklelettteile in Ouwerkerk.

Schließlich sitzt Armanda verwirrt in einem Altenheim und glaubt, mit ihrer Schwester Lidy zu sprechen. Sie erinnert sich an die Zeit, als Lidy noch da war und erzählt ihr, wie sie und Sjoerd sich vor langer Zeit vor dem Studentenwohnheim küssten. Gerade als Sjoerd ihr unters Kleid fassen wollte, wurden sie von einem Mann gestört, der mit seinem Hund unterwegs war.

Kommt mir doch ein vergessenes Motiv im allerletzten Moment wieder in die Geschichte! Es ging um einen Kuss, Lidy, nichts mehr, aber auf den Tod auch nichts weniger. Ein heißer, offener Kuss, eine Empfindung von Feuer, von dessen Existenz ich trotz meiner neunzehn Jahre keine Ahnung hatte […] Diesen Kuss wollte ich wiederhaben, Lidy, immerfort, in meinem Herzen …

Vergeblich mühte sie sich damit ab, „mit diesem Scheißkuss ins Reine zu kommen“.

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Am 1. Februar 1953 kam es durch das Zusammentreffen einer Springflut und eines Orkans in Holland und den Küstengebieten von England zu den schwersten Überschwemmungen seit der „Elisabethflut“ im Jahr 1420. Zahlreiche Deiche brachen in der Sturmflut. 100 000 Menschen konnten mit Hubschraubern und Booten gerettet werden. 1836 Menschen kamen ums Leben, 1487 davon allein in Holland, wo 200 000 Hektar Ackerland jahrelang nicht mehr genutzt werden konnten und 120 000 Tiere ertranken.

Margriet de Moor hat die Sturmflut von 1953 als Ausgangspunkt für ihren Roman „Sturmflut“ genommen. Mit großer Sachkenntnis der Fakten über die Flut und die Deichsysteme schildert sie, was Betroffene damals erlebt haben könnten.

Von Anfang an lässt sie die Leser ahnen, dass die dreiundzwanzigjährige Lidy Brouwer-Blaauw, die am 31. Januar 1953 anstelle ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Armanda Brouwer von Amsterdam auf die Insel Schouwen-Duiveland fährt, die Sturmflut nicht überleben wird. Trotzdem hofft man bis zuletzt, dass man sich irrt.

Die Sturmflut ist zugleich ein Symbol für die Begierde, die Armanda dazu brachte, ihrer Schwester den Rollentausch vorzuschlagen, und die Deiche stehen für psychische Schutzsysteme.

In „Sturmflut“ geht es um Liebe und Tod. Margriet de Moor gibt sich sachlich und distanziert (pathetisch wirkt nur, dass eine der Totgeweihten noch einen gesunden Jungen gebiert), schafft aber gerade dadurch eine realistische Szenerie und eine packende, spannende Handlung.

Was Armanda veranlasste, ihrer Schwester den Rollentausch vorzuschlagen, klärt Margriet de Moor erst ganz zum Schluss in einem mit „Responsorium“ überschriebenen Kapitel auf. (Unter einem Responsorium versteht man einen liturgischen Wechselgesang.)

Armanda hat vor gut zwei Jahren miterlebt, dass ein Mann aus ursprünglich ihrem Bekanntenkreis – Halbbruder ihrer besten Freundin – plötzlich auf die ältere Schwester Lidy abfährt, und wenig später ist Lidy schwanger und mit diesem Mann verheiratet. Insofern ist die Grundproblematik dieses Romans, die übermächtige Identität der umgekommenen Schwester, die an Armandas
Stelle diese unselige Reise angetreten hat, in vielerlei Motiven angelegt: die grundsätzliche Ähnlichkeit, das Übernehmen von Kleidungsstücken, der bewunderte Mann, der zum Ehemann wird, die übernommene Tochter, das jahrelange Leben in der Wohnung mit der alten Ausstattung, bevor in einem Verzweiflungsakt ein vollkommen neues Haus mit einer vollkommen neuen Einrichtung bezogen wird. (Marion Graefe in einer E-Mail vom 14. November 2011)

Das Besondere an „Sturmflut“ ist die Struktur des Romans: Margriet de Moor erzählt die Handlung nicht chronologisch, sondern sie führt zwei Handlungsstränge parallel: Von Kapitel zu Kapitel wechselt sie zwischen Lidy und Armanda hin und her. Dabei umfasst der eine Teil nur die Zeit vom 31. Januar bis in die frühen Morgenstunden des 2. Februar 1953, der andere geht jahrzehntelang weiter, bis Armanda schließlich verwirrt in einem Altenheim sitzt und glaubt, mit ihrer toten Schwester zu sprechen. Ein Handlungsstrang bemisst sich nach Stunden, im anderen durcheilen wir Jahrzehnte.

Während Lidy sich ans Leben klammert und ihre Vergangenheit von Stunde zu Stunde bedeutungsloser für sie wird, übernimmt Armanda Schritt für Schritt die Rolle ihrer Schwester.

In Amsterdam hört Armanda am 1. Februar die Nachrichten über die verheerende Sturmflut. Im nächsten Kapitel trifft Lidy auf Schouwen-Duiveland ein (31. Januar). Und während Sjoerd und Armanda bereits in Leichenhallen nach der Vermissten suchen, verlässt Lidy erst das Hotel, in dem die Geburtstagsfeier stattfand. Die zeitliche Verschobenheit ist nicht nur stilistisch eindrucksvoll, sondern sie evoziert auch die Frage, wie Armanda den Platz ihrer Schwester einnehmen kann, während diese noch ums Überleben kämpft?

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 / 2011
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Margriet de Moor (kurze Biografie / Bibliografie)

Margriet de Moor: Auf den ersten Blick / Schlaflose Nacht
Margriet de Moor: Bevorzugte Landschaft
Margriet de Moor: Erst grau dann weiß dann blau
Margriet de Moor: Der Virtuose
Margriet de Moor: Die Verabredung
Margriet de Moor: Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte
Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen
Margriet de Moor: Mélodie d’amour
Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen

Martin Suter - Melody
Martin Suter spielt in "Melody" mit der Suche nach der Wahrheit, mit dem Verhältnis von Fiktion und Realität, Lüge, Täuschung und Tatsachen. Der unterhaltsame Roman lässt sich leicht lesen. Martin Suter macht uns neugierig, spannt uns aber immer wieder durch Cliff Hanger und retardierende Einschübe auf die Folter. Was ist da vor Jahrzehnten geschehen? Bis zum Ende müssen wir warten, dann erfahren wir es nach einigen Plot Twists. Und in den letzten Zeilen deutet sich noch einmal eine andere Version der Geschichte an.
Melody