Michael Zeller : BruderTod

BruderTod
BruderTod. Ein Kinderleben Originalausgabe: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer, Bochum 2014 ISBN: 978-3-8196-0971-8, 142 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Michael Zeller beginnt sein Buch "BruderTod. Ein Kinderleben" mit dem Ziel, zu verstehen, warum sein fünf Jahre älterer Bruder Hellmut im Alter von 17 Jahren seinem Leben ein Ende setzte. Hellmuts Beweggründe bleiben jedoch unbegreiflich. Obwohl das Vorhaben also scheitert, ist das Buch nicht sinnlos, denn es handelt sich um eine ebenso kluge und nachdenkliche wie bewegende Reise in die eigene Vergangenheit. Am Beispiel seiner eigenen Familiengeschichte beleuchtet Michael Zeller die Nachkriegszeit in Deutschland ...
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Kritik

Michael Zeller verzichtet in "BruderTod. Ein Kinderleben" weitgehend auf szenische Darstellungen. Statt­dessen lässt er uns an seiner ruhigen Selbstbefragung teilhaben. Das Buch zeichnet sich nicht zuletzt durch genaue Beobachtung und sprachlichen Schliff aus.
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Im Herbst 1956 bezieht Bettina Zeller mit ihren drei Söhnen ein noch nicht ganz fertiges Reihenhaus in Bad Homburg. Ein paar Tage später, am 15. Oktober, feiern sie den 17. Geburtstag des mittleren Sohnes: Hellmut. Wolf ist zwei Jahre älter und macht eine Schreinerlehre. Der 12-jährige Michael geht noch wie Hellmut aufs Gymnasium.

Ein paar Monate später, im Januar 1957, fährt Bettina Zeller mit Michael nach Frankfurt, um noch ein paar Einrichtungsgegenstände zu kaufen. Hellmut, dessen Schulnoten seit einiger Zeit schwer nachgelassen haben (Ausnahme: Deutsch), wollte mit der Begründung zu Hause bleiben, dass er noch eine Französisch-Lektion durchnehmen müsse.

Es ist bereits dunkel, als die Mutter und ihr jüngster Sohn zurückkommen.

Als wir um die Ecke bogen und in die dichte Schwärze der letzten Straße hineingingen, leuchtete am Ende das Haus. Unser Haus. Es strahlte im Licht. So hatte ich es in den paar Wochen, seit wir hier wohnten, noch nie erlebt.
Mutter war sofort alarmiert. Rannte los. Ich ihr nach, aber ohne jeden Ehrgeiz, schneller zu sein als sie.

Hellmut liegt bereits im Krankenhaus. Er ist tot. Einen Abschiedsbrief hinterlässt er nicht. Schweigend ist er aus dem Leben geschieden.

Freitod mag ich so wenig dazu sagen wie Selbstmord.

Als Wolf von der Schreinerwerkstatt nach Hause kam, wunderte er sich darüber, dass kein Licht brannte. Auf dem Fußboden in der Küche lag Hellmut. Wolf drehte das Gas ab, alarmierte den in der Nähe wohnenden Architekten, und gemeinsam schleppten sie den Leblosen ins zehn Minuten entfernte Krankenhaus.

Zwischendurch rannten sie, mit kleinen Schritten.
Nötig war das nicht mehr.

Obwohl das neue Haus ans Gasnetz angeschlossen ist, wollte Bettina Zeller kein Gas nutzen, weil sie es von Anfang an für gefährlich hielt. Hellmut sägte den Stutzen von der Gasleitung in der Küche ab, drehte dann die Zufuhr im Keller auf und kehrte in die Küche zurück.

Ein kleiner Raum. Tür zu.

Michael Zeller beschäftigt sich ein halbes Jahrhundert später in einem Buch mit dem Tod seines Bruders Hellmut und versucht herauszufinden, warum dieser nicht mehr weiterleben wollte.

Hans Zeller, der Vater der drei Jungen, war der Sohn des Steinmetzmeisters Edmund Zeller in Miltenberg, der mehrere Steinbrüche besaß. Nach dem Jura-Studium in Genf und Würzburg promovierte er 1931 über „Das Musterregiment des Völkerbundes vom 22. September 1922“. Wo er sein Referendariat absolvierte, ist nicht bekannt. Im Oktober 1933 wurde er Regierungsassessor bei der Regierung von Oberbayern. Ein halbes Jahr später holte ihn Joseph Goebbels nach Berlin ins Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, und nach fünf Wochen im neuen Amt wurde Dr. Hans Zeller zum Regierungsrat ernannt. Beförderungen zum Oberregierungsrat und zum Ministerialrat erfolgten im April 1937 bzw. April 1939.

Seit 6. Mai 1936 waren Hans und Bettina Zeller verheiratet. 1937 bekamen sie den Sohn Wolf. Als Bettina Zeller nach der Geburt ihres zweiten Sohnes im Oktober 1939 von der Klinik in Berlin nach Hause kam, wunderte sie sich über gepackte Koffer und erfuhr, dass ihr Mann sich ohne Absprache mit ihr freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte. Dafür hatte sie kein Verständnis. Dass er sie mit dem zweijährigen Sohn und dem Säugling in Berlin allein ließ, untergrub ihr Vertrauen in ihn.

Als Niederschlesien 1941 eine eigenständige preußische Provinz wurde, zog Hans Zeller als Stellvertreter des Oberpräsidenten und Gauleiters Karl Hanke nach Breslau und holte seine Familie aus Berlin.

Hans Zeller hatte zwei Brüder. Hermann Zeller fiel im August 1943 bei Rogun, zehn Kilometer südöstlich der ukrainischen Stadt Charkow, im Alter von 31 Jahren, sein drei Jahre älterer Bruder Robert im August 1944 bei Taraclin in Rumänien.

Am 29. Oktober 1944 wurde Michael Zeller in Breslau geboren.

Wegen der hoffnungslosen Lage hatte Hans Zeller unter dem Datum vom 11. September 1944 ein Testament verfasst. Und im Februar 1945 schickte er seine Frau, die am 12. des Monats ihren 34. Geburtstag feierte, mit den drei Buben zu seinem Vater nach Miltenberg.

Bettinas Eltern lebten in Aachen, aber ihr Mann hatte gehofft, dass sein Vater ihr und den Kindern eine neue Existenz schaffen würde. Der Patriarch, dessen Ehefrau Lotte 1940 gestorben war, der bereits zwei Söhne im Krieg verloren hatte und nun um den dritten bangte, war jedoch verbittert und drohte seiner Schwiegertochter mit der Polizei, als er seine Enkel im Garten erwischte.

Gestern u. heute waren auf Deine Veranlassung […] hin Deine 2 Kinder in meinem Garten, um Gemüse u. Obst zu holen. Ich betrachte Dein Vorgehen als Diebstahl […]

Bettina hasste ihren Schwiegervater und überwarf sich mit ihm. Obwohl sie selbst keinen Fuß in sein Haus setzte, ließ sie zu, dass Wolf, Hellmut und später auch Michael mittags bei ihm aßen. (Eine Haushälterin kochte.)

Anders als Michael, der gar nichts anderes kannte, empfanden die Mutter und die beiden älteren Brüder ihre Lage in Miltenberg als Verlust und Einschränkung, denn sie waren aus Berlin und Breslau ein besseres Leben gewohnt.

Wolf ging früh eigene Wege. Obwohl der Altersunterschied zwischen Hellmut und Michael größer war, verbrachte der mittlere Bruder die meiste Zeit mit dem jüngsten. Die Mutter bevorzugte Hellmut. Ihn bat sie, auf die beiden Brüder aufzupassen, wenn sie fort musste.

Das letzte Lebenszeichen, das Bettina Zeller von ihrem Mann erhielt, war ein handgeschriebener Brief vom 23. Februar 1945 aus Hirschberg im Riesengebirge. Vergeblich warteten sie und die beiden älteren Söhne auf seine Rückkehr. Um eine Pension beantragen zu können, ließ ihn Bettina Zeller im Juli 1950 für tot erklären.

Das war zunächst nur ein pragmatischer Schritt, aber nachdem 1955 die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der UdSSR zurückgekehrt waren, gab es keine Hoffnung mehr, dass Hans Zeller noch leben könnte, und während der Aufenthalt in Miltenberg als Provisorium, als Zwischenstation bis zur Heimkehr des Vaters interpretiert worden war, sollte in Bad Homburg ein neuer Lebensabschnitt ohne ihn beginnen.

So muss es gewesen sein. Zur seligen Weihnachtszeit, dem „Feste der göttlichen Liebe“ des Jahres 1956, fielen sämtliche Türen der Vergangenheit hinter Hellmut in Schloss: die Miltenberger wie die von Breslau. Ohne jeden Knall. Ganz leise. Tödlich leise. Der Sturz aus der Kindheit, jählings, in ein Geheimnis, das ihn die vier Wochen lang bis zur Tat in Atem hielt, Tag und Nacht.

Edmund Zeller starb im Februar 1965 im Alter von 80 Jahren. Bettina hatte sich nie mit ihm versöhnt. Es war deshalb auch keine Überraschung, dass sie nichts erbte. Zornig machte es sie allerdings, dass er Wolf, Hellmut und Michael lediglich mit etwas Geld bedacht, ihnen aber kein Grundstück vermacht hatte.

Michael Zeller ist 46 Jahre alt, als er 1991 erstmals das Haus in Breslau sieht, in dem die Familie von 1941 bis Anfang 1945 gewohnt hatte. (Die Szene verarbeitet er in seinem Roman „Café Europa“.) Nach der Rückkehr macht er von einem Literaturstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen im Künstlerdorf Schöppingen bei Münster Gebrauch.

Dort trifft er zufällig „Onkel Fips“, einen Freund seiner Mutter. Von ihm erfährt Michael Zeller, dass die Leiche seines Bruders 1957 zur Obduktion in die USA gebracht worden war, weil das FBI einen Mordanschlag durch einen östlichen Geheimdienst für möglich gehalten hatte.

Michael Zeller, der 1978 seinen ersten Roman veröffentlichte („Fehlstart-Training“), ist überzeugt, dass Hellmut der eigentliche Dichter der Familie geworden wäre, und es kommt ihm so vor, als schreibe er stellvertretend für seinen toten Bruder, der ihm dabei ein stummer Begleiter ist.

Er ist mir keine Last, der Blick des „Älteren“ über die Schulter. Ganz im Gegenteil.

Als Michael Zeller 1994 zu Autorenlesungen in die Ukraine eingeladen wird, lässt er sich auch nach Rogun fahren, wo sein Onkel Hermann Zeller im August 1943 gefallen war.

1997 beabsichtigt Michael Zeller, einen einjährigen Aufenthalt in Krakau zu nutzen, um in Breslau Material über seinen Vater zu suchen. Das Vorhaben wird allerdings durch die Jahrhundertflut der Oder im Juli vereitelt, von der auch das Staatsarchiv in Breslau nicht verschont bleibt.

Im Frühsommer 2010 erhält Michael Zeller überraschend eine Mail aus den USA. Absender ist Peter Pagast, ein Biochemiker im Ruhestand, der vor Hellmuts Schulwechsel im Jahr 1956 mit ihm befreundet gewesen war. Als er zum 50. Jahrestag des Abiturs der Klasse im Herbst 2010 nach Deutschland fliegt, trifft er sich mit Michael Zeller in Frankfurt, und sie tauschen Erinnerungen an Hellmut aus.

Michael Zellers Versuche, die Beweggründe seines Bruders zu verstehen, misslingen. Die Tat bleibt unbegreiflich. Vielleicht wäre Hellmuts Tagebuch aufschlussreich gewesen, aber das existiert nicht mehr. Die Mutter las es 1957 und verbrannte es dann sofort.

Nach einer Autorenlesung in München kommt Michael Zeller in einer Wirtschaft mit einem Fremden ins Gespräch, der Helmut heißt. Er erzählt, er sei mit zwei jüngeren Brüdern aufgewachsen. Der Name des jüngsten sei Michael gewesen. Der habe sich das Leben genommen.

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Michael Zeller beginnt sein Buch „BruderTod. Ein Kinderleben“ mit dem Ziel, zu verstehen, warum sein fünf Jahre älterer Bruder Hellmut im Alter von 17 Jahren seinem Leben ein Ende setzte. Am Ende gibt es mehr offene Fragen als Antworten, und Hellmuts Beweggründe bleiben ein unbegreifliches Geheimnis.

Obwohl das Vorhaben also scheitert, ist weder das Schreiben noch das Lesen des Buches sinnlos, denn es handelt sich um eine ebenso kluge und nachdenkliche wie bewegende Selbstbefragung. In „BruderTod. Ein Kinderleben“ beleuchtet Michael Zeller am Beispiel seiner eigenen Familiengeschichte die Nachkriegszeit in Deutschland. Kritisch und schonungslos werden der Großvater, der Vater und die Mutter porträtiert.

Die tragische Familiengeschichte ist fesselnd und erschütternd, aber im letzten Drittel leidet die Darstellung unter abrupten Themenwechseln und franst aus. Michael Zeller schildert in diesem Teil eine Reihe weiterer Suizide (acht, wenn ich richtig gezählt habe), und weil er die Personen nicht porträtiert (das hätte den Rahmen des Buches noch stärker gesprengt), lassen ihre Schicksale kein Mitgefühl aufkommen.

Bemerkenswert ist ein Abschnitt aus einem Kondolenzbrief, den Michael Zeller im Februar 1966, also im Alter von 21 Jahren, der Mutter eines früheren Mitschülers schickte, der sich in Berlin absichtlich mit einem Stromschlag getötet hatte:

Mit zunehmendem Alter sträubt sich der Mensch gegen den Tod, der fixen Grenze, der er sich mit jedem Tag nähert; der Alternde muss geizen mit seiner Zeit und bäumt sich gerade unter dem Damoklesschwert der enteilenden Stunden kreatürlich auf. Nur der junge Mensch hat auf Grund seiner naturgegebenen Distanz zum Tode ein objektiveres Verhältnis: der Tod wird als Alternative zum Leben, als Entscheidungsmöglichkeit angesehen.

Michael Zeller fiktionalisiert in „BruderTod. Ein Kinderleben“ nicht und verzichtet sogar weitgehend auf Inszenierungen. Stattdessen hat er eigenen Ton außerhalb der gängigen Genres gewählt, indem er seine Gedanken und Erinnerungen nüchtern und unsentimental, ruhig, unaufdringlich und ohne Effekthascherei wiedergibt. Dabei versucht er sich in die Lage von damals zu versetzen, nicht nur in die eigene, sondern auch in die seines Bruders Hellmut.

„BruderTod. Ein Kinderleben“ zeichnet sich nicht zuletzt durch genaue Beobachtung und sprachlichen Schliff aus.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer

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