Hanya Yanagihara : Ein wenig Leben

Ein wenig Leben
Originalausgabe: A Little Life Doubleday, New York 2015 Ein wenig Leben Übersetzung: Stephan Kleiner Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München 2016 ISBN: 978-3-446-25471-8, 957 Seiten ISBN: 978-3-446-25558-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

JB, Jude, Malcolm und Willem sind seit dem College eng befreundet. Als Künstler, Anwalt, Architekt bzw. Schauspieler haben sie Erfolg. Jude verwirklicht den amerikanischen Traum, indem er vom Findelkind zum New Yorker Staranwalt aufsteigt. Dennoch zweifelt er an sich, verletzt sich selbst und versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Gründe verheimlicht er sogar vor seinen Freunden, die alles tun, um ihm zu helfen ...
mehr erfahren

Kritik

Der Roman "Ein wenig Leben" dreht sich um Judes Lebens- und Leidens­geschichte. Hanya Yanagihara fügt immer noch einen Schmerz hinzu – 957 Seiten lang. Außer den Freund­schaf­ten gibt es kaum Lichtblicke. Die Lektüre ist deshalb deprimierend.
mehr erfahren

Seit dem gemeinsamen Besuch eines Colleges in Boston sind Malcolm Irvine, Jean-Baptiste („JB“) Marion, Willem Ragnarsson und Jude St. Francis eng befreundet. Inzwischen leben sie in New York.

Malcolm ist der Sohn eines afroamerikanischen Rechtsanwalts und einer New Yorker Literaturagentin. Als einziger der vier Freunde wohnt er noch bei seinen Eltern in einem Stadthaus in der 71st Street nahe der Park Avenue, also auf der Upper East Side, wo die Trennlinien nicht zwischen Schwarz und Weiß, sondern zwischen Steuerklassen verlaufen. Sein erfolgreicher Vater erwartet viel von ihm und seiner drei Jahre älteren Schwester Flora, die als Lektorin beim Verlag Farrar, Straus & Giroux tätig ist. Um seinen Vater zu beeindrucken, fing Malcolm nach dem Studium an der Columbia University in einem ebenso riesigen wie renommierten Architekturbüro an. Weil er jedoch selbst gestalten möchte, kündigt er und macht sich mit drei anderen Architekten zusammen selbstständig. Ihr Büro heißt Bellcast.

JB ist ebenfalls dunkelhäutig. Als er drei Jahre alt war, starb sein aus Haiti eingewanderter Vater. Seine Mutter, die Tochter haitischer Immigranten, promovierte daraufhin in Pädagogik und unterrichtete an einer Schule in der Nachbarschaft. JB arbeitet an der Rezeption einer kleinen, einflussreichen Zeitschrift. Abends und an den Wochenenden malt er in seinem Atelier in Long Island City.

Willems isländischer Vater und seine dänische Mutter hatten sich in Schweden kennengelernt. Als ihre Tochter Britte im Alter von zwei Jahren an Leukämie starb, wanderten sie nach Amerika aus. Dort bekamen sie drei Söhne – Hemming, Aksel und Willem –, von denen nur der jüngste die Kindheit überlebte. Willem wuchs auf einer kleinen Farm in Wyoming auf und besuchte noch die Graduate School, als seine Eltern kurz nacheinander starben, der Vater an einem Herzinfarkt, die Mutter an einem Schlaganfall. Ebenso wie JB studierte Willem in Yale. Inzwischen kellnert er im Restaurant Ortolan in New York, denn von seinen Gagen als Schauspieler kann er noch nicht leben.

Von Jude wissen die Freunde kaum mehr, als dass er aus South Dakota stammt. Fragen nach seiner Kindheit und Jugend blockt er ab. Auf seine Schmerzattacken, die an seinen Beinen aufbrechenden Wunden und die zeitweise Benutzung eines Rollstuhls angesprochen, behauptet Jude, er sei im Alter von 15 Jahren von einem Auto angefahren und an der Wirbelsäule verletzt worden. Er studierte Jura an der Harvard University und machte seinen Master in Mathematik am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Nach einem Referendariat in Washington, D. C., wurde er stellvertretender Staatsanwalt in New York, in der Abteilung, in der auch Malcolms Vater seine Karriere begonnen hatte.

Mindestens zweimal im Jahr sind die vier Freunde bei Julia und Harold Stein eingeladen, im Sommer im Ferienhaus in Truro, an Thanksgiving in Cambridge. Der Jura-Professor Harold Stein war Judes Mentor in Harvard, aber der Kontakt ist seither nie abgerissen. Bei Julia handelt es sich um Harolds zweite Frau. Seine erste Ehe war gescheitert, nachdem der Sohn Jacob im Alter von fünf Jahren am Nishihara-Syndrom, einer extrem seltenen neurodegenerativen Erkrankung, gestorben war.

Als Jude 32 Jahre alt ist und sie sich seit fast zehn Jahren kennen, bieten ihm Julia und Harold die Adoption an. Es gibt nichts, was er sich mehr gewünscht hätte, aber er befürchtet, fallengelassen zu werden, sobald Julia und Harold herausfinden, was er getan hat. Ohne konkret zu werden, weist er Harold darauf hin:

„Harold … ich glaube, du hältst mich für einen Menschen, der ich nicht bin. […] Ich habe Dinge getan, die … die gute Menschen nicht tun“, fuhr er schwächlich fort. „Und ich finde einfach, dass du das von mir wissen solltest.“

Obwohl der 55-jährige Jura-Professor versichert, es bleibe bei dem Adoptionsangebot, erscheint es Jude unvorstellbar, dass er zu jemandem gehören soll – und das verunsichert ihn zutiefst.

[…] weil ein Teil von ihm Harold und Julia niemals glauben wird; sosehr er es sich auch wünscht, sosehr er es zu tun glaubt, er wird es nicht tun, und er wird immer davon überzeugt sein, dass sie seiner irgendwann überdrüssig sein werden, dass sie eines Tages bereuen werden.

An der Feier der Adoption nehmen selbstverständlich auch Malcolm, JB und Willem teil.

Zum Verdruss seines Adoptivvaters lässt Jude sich von Lucien Voigt anwerben, dem Chef der zivilrechtlichen Abteilung der renommierten Anwaltskanzlei Rosen Pritchard & Klein.

„Du hattest – du hast – beim U. S. Attorney eine richtig gute Position. Du leistest dort wertvolle Arbeit. Und das gibst du alles auf, um wen zu verteidigen? Kriminelle.“

Während Jude sich als Wirtschaftsanwalt profiliert, machen auch seine Freunde Karriere. Malcolm reüssiert als Architekt, Willem steigt zum Filmstar auf und Kunstmagazine feiern JBs Gemälde. Allerdings fällt es JB schwer, seine Drogensucht zu überwinden.

Obwohl Jude vor intimen Kontakten zurückschreckt und sich nicht einmal selbst nackt im Spiegel anschauen mag, lässt er sich auf eine Beziehung mit dem 49-jährigen Geschäftsführer einer Modefirma ein. Der Sex mit Caleb Porter ist noch schlimmer, als er es befürchtete, und als Caleb versucht, ihn auszuziehen, windet er sich.

„Ich kann nicht“, sagte er. „Caleb … Ich kann es nicht. Ich will nicht, dass du siehst, wie ich aussehe.“ Das zu sagen hatte ihm alles abverlangt, und er war so ängstlich, dass ihn fröstelte.
„Warum?“, hatte Caleb gesagt.
„Ich habe Narben“, sagte er. „Am Rücken und den Beinen und an den Armen auch. Es ist schlimm; ich will nicht, dass du es siehst.“

Selbst als Caleb ihn verprügelt, beendet Jude die Beziehung nicht. Aber die Gewalttätigkeit des Liebhabers nimmt zu, bis dieser ihn vier Monate nach dem Beginn der Affäre so zusammenschlägt und tritt, dass er erst im Krankenhaus wieder zu sich kommt.

Gebrochenes linkes Handgelenk, vier gebrochene Rippen, gottlob keine gebrochenen Knochen im Bein. Zum Glück keine Gehirnerschütterung. Gebrochenes Steißbein. Ausgerenkte Schulter, habe ich schon eingerenkt. Rücken und Oberkörper voller Hämatome; er wurde eindeutig getreten. […] Er ist ausgepeitscht worden.

Jude weigert sich, Caleb anzuzeigen und versucht, die Schande zu vertuschen, zumal er überzeugt ist, dass Caleb sich zurecht vor ihm ekelte.

Fast auf den Tag genau ein Jahr später schneidet sich Jude mit einer Rasierklinge die Venen beider Arme auf, so tief und so lang wie möglich.

Als er zu sich kommt, erfährt er, dass er sich in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses befindet. Willem, der eigens Dreharbeiten in Colombo unterbrochen hat und nach New York geflogen ist, sitzt neben dem Bett.

Die gesamte Unabhängigkeit, die er über Jahre hinweg erreicht hatte, während er versuchte, allen zu beweisen, dass er sie verdiente: Nun war sie dahin. Nun konnte er nicht einmal mehr sein eigenes Essen schneiden.

Willem, der inzwischen 43 Jahre alt ist, nimmt keine Rollen mehr an, die längere Auslandsaufenthalte erfordern würden. Er zieht zu Jude und schränkt seine Karrieremöglichkeiten ein, damit er sich um seinen Freund kümmern kann. 13 Monate nach Judes Selbstmordversuch vertraut Willem ihm an, dass er ihn liebt. Die beiden werden ein Paar. Judes panische Angst vor Sex lässt im Lauf der Zeit nach, aber er muss sich nach wie vor zwingen, den Akt durchzustehen.

Einmal ertappt Willem ihn dabei, wie er sich gerade schneidet.

Er schnitt von oben nach unten, vier Mal links und drei Mal rechts, und die köstliche Schwachheit ließ seine Hände flattern, als er den vierten Schnitt setzte, und in diesem Moment blickte er auf und sah Willem, der in der Tür stand und ihn ansah. In den Jahrzehnten, die er sich schon ritzte, hatte ihm noch nie jemand dabei zugesehen, und er hörte abrupt auf, schockiert über die Übertretung, die ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen hatte.

Wortlos nimmt Willem die Rasierklinge und zieht sie sich sechsmal über seine eigene Brust, während Jude ihn anfleht, damit aufzuhören.

Einige Zeit später presst Jude den Unterarm in eine heiße Pfanne und reibt sich dann auch noch Salz in die Brandwunde. Weil diese sich entzündet, sieht er sich gezwungen, seinen Arzt aufzusuchen. Der orthopädische Chirurg Dr. Andy Contractor ist einige Jahre älter als er. Sie kennen sich seit dem Studium in Cambridge und sind eng befreundet. Andy weiß, wie Judes Körper aussieht und dass er sich jede Woche mehrmals schneidet, aber selbst ihm hat Jude nicht anvertraut, wodurch er traumatisiert wurde. Er behauptet, beim Braten von Kochbananen sei das Öl in Brand geraten. Andy durchschaut die Lüge und verlangt von ihm, dass er Willem die Wahrheit beichtet. Das bringt Jude zwar nicht fertig, aber durch einen Zufall erfährt Willem, dass Jude sich absichtlich verbrannte. Um Willem nicht zu verlieren, erfüllt Jude endlich dessen Wunsch und berichtet, was ihm in den ersten 15 Jahren seines Lebens widerfuhr.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Eltern hatten ihn ausgesetzt. Mönche fanden das Baby neben einem Mülleimer und zogen Jude in ihrem Kloster in South Dakota auf. Einerseits vermittelten sie ihm eine anspruchsvolle Bildung. Andererseits duldeten sie keinen Widerstand und züchtigten ihn erbarmungslos. Als er bei Diebstählen ertappt wurde, rieb der Abt Judes Handrücken mit Olivenöl ein und zündete es an. Danach untersuchten die Mönche jeden Abend seine Körperöffnungen nach möglicherweise versteckten Gegenständen und missbrauchten ihn sexuell. Nur Bruder Luke, ein ehemaliger Mathematikprofessor, der das Gewächshaus des Klosters betreute, war freundlich zu ihm. Anlässlich des achten Geburtstags überraschte Bruder Luke ihn mit einem Geburtstagskuchen, einem Muffin, in dessen Mitte er ein brennendes Streichholz gesteckt hatte.

Einige Monate später floh Bruder Luke mit Jude aus dem Kloster. Schon zuvor hatte er ihm erzählt, dass sie in Texas eine Hütte bauen würden. Aber zunächst wohnten sie in Motels, und schließlich erklärte Luke, er habe sich umgesehen und festgestellt, dass sein Geld nicht für ein Grundstück reiche. Er wisse jedoch einen Weg, wie sie genügend zusammensparen könnten. Jude brauche nur das zu tun, was er auch schon mit den Brüdern im Kloster getan hatte. In dem Glauben, auf diese Weise das erforderliche Geld für den Landkauf zu bekommen, fügte sich Jude. Abends brachte Luke Männer mit, manchmal auch mehrere zur gleichen Zeit. Alle zehn Tage wechselten sie das Motel. Schließlich begriff Jude, dass sie nie eine Hütte bauen würden.

Als Jude elf Jahre alt war, zeigte Luke ihm, wie man sich ritzt und besorgte ihm Rasierklingen, Desinfektionstücher, Wattepads und Mullbinden.

Im Jahr darauf hämmerte es plötzlich gegen die Tür.

„Polizei“, rief die Stimme wieder. „Edgar Wilmot, es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor. Öffnen Sie sofort die Tür.“

Luke bzw. Edgar Wilmot verschwand im Bad und erhängte sich, bevor die Türe aufgebrochen wurde.

Jude kam in ein Heim, wo ihn einige der Betreuer missbrauchten. Weil er nicht an Rasierklingen herankam, ritzte er sich mit Deckeln von Konservendosen aus dem Müll.

Kurz vor seinem 14. Geburtstag gelang ihm die Flucht. Dass die Lastwagenfahrer, die ihn mitnahmen, Sex von ihm erwarteten, wunderte ihn nicht. Er wurde krank und brach an einer Tankstelle kurz vor Philadelphia zusammen.

Als er aufwachte, befand er sich in einem Wohnzimmer, und jemand erklärte ihm angewidert, er habe sich mit einer Geschlechtskrankheit infiziert. Der augenscheinlich allein in einem abgelegenen Haus wohnende Mann, der ihn in den Keller sperrte und mit Antibiotika behandelte, nannte sich Dr. Traylor und gab sich als Psychiater aus. Am zehnten Tag kam Dr. Traylor mit einem Schürhaken nach unten, forderte ihn auf, sich auszuziehen und vergewaltigte ihn. Das wiederholte sich Tag für Tag. Die Unterernährung machte Jude müde und benommen. Nach zwölf Wochen sagte Dr. Traylor, er sei seiner überdrüssig. In der Hoffnung, freigelassen zu werden, folgte Jude der Aufforderung, in den Kofferraum eines Autos zu klettern. Auf einem Feld fernab jeder Besiedlung holte ihn Dr. Traylor heraus und ließ ihn laufen. Aber er folgte ihm mit dem Wagen. Vor Erschöpfung stolperte Jude mehrmals, und als er nicht mehr aufstehen konnte, überfuhr ihn Dr. Traylor mit dem Auto.

Er rannte. Dr. Trayler folgte ihm und manchmal beschleunigte er, und er rannte schneller. Aber er konnte nicht mehr so gut rennen, und er stürzte und stürzte wieder. Immer wenn er stürzte, bremste der Wagen ab, und Dr. Traylor rief – nicht wütend, nicht einmal sehr laut – heraus: „Steh auf. Steh auf und renn; steh auf und renn, oder wir fahren zum Haus zurück“, und er zwang sich, aufzustehen und weiterzurennen. Als er zum letzten Mal stürzte, konnte er nicht mehr aufstehen. „Steh auf!“ hörte er Dr. Traylor schreien. „Steh auf!“ Aber er konnte nicht. Und dann hörte er den Motor wieder anspringen, und er spürte, wie die Scheinwerfer auf ihn zukamen, zwei Feuerströme wie die Augen des Engels, und er drehte den Kopf zur Seite und wartete, und das Auto fuhr auf ihn zu und dann über ihn hinweg, und es war vollbracht.

Jude überlebte. Monatelang lag er im Krankenhaus. Er behauptete, sich nicht an die Ursache seiner Verletzungen erinnern zu können.

Das war zu jener Zeit seine Standardantwort auf alles. Es war auch eine Lüge; manchmal sah er ungebeten die Scheinwerfer des Autos vor sich, blendend weiße Zwillingslichter, die auf ihn zurasten, und erinnerte sich, wie er die Augen geschlossen hatte und den Kopf zur Seite geworfen hatte, so als hätte er dadurch das Unvermeidliche abwenden können.

Eine verständnisvolle Sozialarbeiterin namens Ana kümmerte sich um ihn und brachte ihn bei einer Familie unter, sobald er in der Lage war, sich mit Krücken fortzubewegen. Die Douglass‘ hatten noch zwei weitere Pflegekinder: die achtjährige Rosie mit dem Downsyndrom und die ein Jahr ältere, an Spina bifida leidende Agnes. Weil die Ärzte meinten, er sei noch nicht gesund genug, um in die Schule zu gehen, vermittelte ihm Ana einen Privatlehrer, der ihn aufs College vorbereitete. Ein Jahr nach seiner Flucht aus dem Heim erhielt er ein Stipendium fürs Community College. Kurz darauf starb Ana. Die Familie Douglass zog nach San Jose und ließ ihn zurück.

Im Alter von 46 Jahren erkrankt Jude zweimal nacheinander an Osteomyelitis in den Unterschenkeln. Um wenigstens seine Knie und Oberschenkel zu retten, rät Andy ihm zur Amputation und nimmt sie dann selbst vor.

Weil der betrunkene Fahrer eines Brauerei-Lastwagens eine rote Ampel übersieht, kommen Malcolm und seine Kollegin Sophie auf dem Weg zu Jude, der bereits das Wasser für die Spaghetti aufgesetzt hat, in einem geliehenen Cabrio ums Leben.

Andy, der inzwischen 61 Jahre alt ist, kündigt Jude an, dass er seine Praxis im Verlauf der nächsten drei Jahre schrittweise einem jüngeren Kollegen anvertrauen werde, den er Jude vorstellt. Aber für Jude ist es undenkbar, einen anderen Arzt als Andy zu akzeptieren.

Sein Gehirn erbrach Erinnerungen, sie überfluteten alles andere – dachte an Menschen, Empfindungen und Ereignisse, an die er seit Jahren nicht gedacht hatte. Geschmäcker erschienen auf seiner Zunge wie durch Alchemie; er roch Dinge, die er seit Jahren nicht gerochen hatte. Sein System war gestört; er würde in seinen Erinnerungen ertrinken […].

Jude isst kaum noch etwas und nimmt so stark ab, dass die Prothesen nicht mehr passen und er auf den Rollstuhl angewiesen ist. Unterstützt von Harold und Julia, besteht Andy darauf, dass Jude sich im Krankenhaus behandeln lässt. Er müsse mindestens 15 Kilo zunehmen und dieses Gewicht ein halbes Jahr lang halten.

Obwohl Julia und Harold lieber in ihrem Haus in Cambridge bleiben würden, ziehen sie nach New York, um in der Nähe ihres inzwischen 51-jährigen selbstzerstörerischen Adoptivsohns zu sein.

Sein Leben, sein einziger Besitz, wird in Besitz genommen: von Harold, der ihn am Leben erhalten will, von all den Dämonen, die sich durch seinen Körper wühlen, von seinen Rippen herabbaumeln, seine Lunge mit ihren Krallen durchlöchern. Von Bruder Luke, von Dr. Traylor.

Gut zwei Jahre nach Willems Tod injiziert sich der 53-Jährige Luft in eine Arterie, verursacht dadurch einen Schlaganfall und stirbt qualvoll.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Roman „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara beginnt, als die vier engen Freunde JB, Jude, Malcolm und Willem das Studium beendet haben und in New York ihre Karrieren als Künstler, Rechtsanwalt, Architekt bzw. Schauspieler beginnen. Was davor geschah, erfahren wir in Rückblenden. Im Zentrum steht Jude. Es geht um seine Lebens- und Leidensgeschichte.

„Es ist vollbracht“, sollen die letzten Worte von Jesus am Kreuz gewesen sein. Mit „es war vollbracht“ endet auch eine Station von Judes Martyrium. Jesus stand wieder auf, und Jude überlebt seine schweren Verletzungen ebenfalls. Teufel wie zum Beispiel der Mönch Luke und der Psychiater Dr. Traylor machen Judes Leben für immer zur Hölle. Im Gegensatz dazu versuchen Menschen wie Willem, Andy und Harold alles, um Jude zu helfen und von seinen Dämonen zu befreien. Aber ein Mensch, der nicht nur an sich zweifelt, sondern sich selbst aufgibt, obwohl er mit dem Aufstieg vom Findelkind zum Staranwalt in New York den amerikanischen Traum verwirklicht hat, lässt sich nicht retten. Jude kann lange nicht über seine Traumata und Ängste reden. Dieses Schweigen über das Entscheidende spannt seine Freunde auf die Folter – ebenso wie die Leser.

„Es wird nicht besser, Jude“, sagt Andy. „Es wird schlimmer, je älter du wirst.“ Dementsprechend fügt Hanya Yanagihara immer noch ein Leid hinzu – 957 Seiten lang. In „Ein wenig Leben“ gibt es außer den Männerfreundschaften kaum einen Lichtblick. Die Lektüre ist deshalb deprimierend.

Obwohl Hanya Yanagihara eine Frau ist, spielen weibliche Figuren in „Ein wenig Leben“ kaum eine Rolle. Auch die politischen Ereignisse bleiben ausgespart. Die Handlung spielt fast ausschließlich in New York, aber nicht einmal die Terroranschläge vom 11. September 2001 werden in „Ein wenig Leben“ erwähnt.

Hanya Yanagihara erzählt über weite Strecken fast abstrakt und ohne wörtliche Rede. Aber diese teilweise ermüdenden Abschnitte unterbricht sie mit schockierenden konkreten Szenen. Mehrmals wechselt Hanya Yanagihara in „Ein wenig Leben“ die Perspektive. In zwei Kapiteln lässt sie Harold zu Wort kommen. Als Ich-Erzähler wendet er sich an ein „Du“, das einmal Jude und ein anderes Mal Willem ist.

Es gibt einige wenige auch bei der Lektorierung übersehene Unstimmigkeiten. So heißt es einer Stelle, Andy sei acht Jahre älter als Jude, an einer anderen beziffert Hanya Yanagihara den Altersunterschied mit zehn Jahren.

Auf dem Titel ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Peter Jujar (1934 – 1987) aus dem Jahr 1969 zu sehen: „Orgasmic Man“.

Hanya Yanagihara wurde 1975 in Los Angeles geboren. Die amerikanische Journalistin und Schriftstellerin ist hawaiianischer Abstammung. Ihr erster Roman – „The People in the Trees“ – erschien 2013. Zwei Jahre danach folgte „A Little Life“.

Den Roman „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Torben Kessler (ISBN 978-3-8449-1586-0).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Hanser Berlin

Kindesmissbrauch

Heinrich Steinfest - Der Allesforscher
"Der Allesforscher" ist eine durchaus einfallsreiche Mischung aus Märchen und Groteske, ironischer Selbstfin­dungs­geschichte, Abenteuer- und Familienroman. Nach einem spekta­kulären Auftakt verliert sich Heinrich Steinfest in durch Traumlogik zusam­mengehaltene Nebengeschichten.
Der Allesforscher